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Die weichen Themen sind die harten Nüsse im Innovationsprozess!

Das MI-Share-Projekt bringt medizinische Instrumente in den digitalen Kreislauf

Kreislaufwirtschaft und Digitalisierung aus einem Guss, das hat sich das Team der bwcon research gGmbH im MI-Share-Projekt im Rahmen des Invest BW Förderprogramms zum Ziel gesetzt. Ausgangspunkt des Projektes sind medizinische Instrumente und die Frage, wie man sie in einen Digitalisierungsprozess eingliedern kann. Ein Projektkonsortium, das neben der bwcon research aus der Hahn-Schickard-Gesellschaft, der Nanoedge GmbH aus Heilbronn und der Glaser GmbH aus Tuttlingen besteht, stellt sich der Herausforderung dieses digitalen Transformationsprozesses.

Medizinische Instrumente, die MI Share betrachtet, sind beispielsweise Skalpelle, Stimmbandspreizer, Haltewerkzeuge und jegliche Art von rechts- oder linksgebogenen Schneidewerkzeugen etwa zur Tumorentfernung. Diese Instrumente müssen sehr klein sein, wenn sie bei den heute zunehmenden minimalinvasiven Eingriffen in der Chirurgie zum Einsatz kommen. Die Klingen der Schneidewerkzeuge haben eine Länge von 6 mm und werden beispielsweise in einem Rohr mit 0,8 mm Innendurchmesser und einem darin liegenden Zugseil mit einem Durchmesser von 0,6 mm betrieben. Diese Miniaturisierung bringt erhebliche Vorteile mit sich, führt aber auch zu neuen Herausforderungen, denkt man nur an den erforderlichen Reinigungs- und Sterilisationsprozess.

Kundensicht ersetzt Herstellerperspektive

„Beim Start eines solchen Digitalisierungsvorhabens sollte man aus unserer Sicht die zunächst abstrakt wirkende Frage des ‚Job to be done‘ des jeweils zu digitalisierenden Objektes erarbeiten“, empfiehlt Dr.-Ing. Jürgen Jähnert, Geschäftsführer der bwcon research gGmbH. Der „Job to be done“-Ansatz geht auf den verstorbenen Harvard-Professor Clayton M. Christensen zurück und basiert auf dem Kerngedanken, dass im Zentrum des Denkens nicht das Produkt und die Produkteigenschaften aus der Herstellerperspektive stehen sollten, sondern der aus Kundensicht beschriebene Produktnutzen. „Aus diesem Produktnutzen leitet man dann klare Anforderungen an die Technologie, den Engineeringprozess, aber auch an ein Betriebs- und Betreibermodell des Produktes ab“, so Jürgen Jähnert.

Innovation ist somit nicht ausschließlich von der Technologie getrieben, sondern vom Kundennutzen. Das Monetarisierungskonzept greift diese Betrachtungsweise derart auf, dass der Kunde über den Produktlebenszyklus hinweg betrachtet deutlich mehr für die Benutzung des Produktes entrichtet, als der Verkauf des Produktes einbringt. Die Erfahrungen der bwcon research machen deutlich, dass die Industrie diesen Denkansatz noch nicht hinreichend verinnerlicht hat und einen eher technologiegetriebenen und produktzentrischen Ansatz verfolgt. Zahlreiche heute erfolgreiche Unternehmen wie Apple oder Google haben diese kundenzentrierte Herangehensweise früh angewendet, so auch die aktuell sechs wertvollsten Unternehmen im S&P-500-Index.

Der Fokus auf den „Job to be done“ erfordert, dass sich der Leistungsersteller sehr viel intensiver als bisher mit dem Produktlebenszyklus seiner Produkte auseinandersetzen muss. Über diesen Produktlebenszyklus hinweg führen veränderte Rahmenbedingungen oft zu weiteren Leistungsanpassungen und somit zu neuen wirtschaftlichen Verwertungsoptionen mit dem Kunden. Die Wertschöpfung verschiebt sich somit vom Pre-Sales- in den After-Sales-Bereich und kann dort zu deutlich höheren Umsätzen mit dem Kunden führen. Nicht verschwiegen werden darf allerdings, dass diese Vorgehensweise zu einem erhöhten Liquiditätsbedarf führt und traditionelle Hausbanken Finanzierungsanfragen für derartige Modelle häufig mit einem hohen Risikoabschlag bewerten. Stellen sich diese Banken nicht auf die neue Situation ein, könnten sie mittelfristig ihre Rolle als Finanzierer des Mittelstandes verlieren. Ein Unternehmen, das solch einen Transitionsprozess finanzieren kann, ist in Krisenzeiten deutlich resilienter als rein produktfokussierte Unternehmen.

Paradigmenwechsel: vom Hersteller zum Betreiber

Die Betrachtung des Produkts über den Produktlebenszyklus hinweg führt implizit zu einem neuen Incentivierungssystem in den Unternehmen und fordert von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen nicht zu unterschätzenden Veränderungsprozess. Ein wesentliches Veränderungsmerkmal ist, dass der Hersteller zum Betreiber seines Produktes wird. Dadurch wird sich der Vertrieb viel intensiver und detaillierter um den Kunden kümmern müssen. Hat der Vertriebsmitarbeiter seither den Antrieb, die größtmögliche Version eines Gerätes zu verkaufen, so ist im Betriebsfall eher die kleinstmögliche Version des Gerätes anzubieten, das die Kundenbedarfe erfüllt. Wird ein Produkt verkauft, interessiert sich der Verkäufer bisher nicht dafür, wie der Kunde das Produkt einsetzt. Betreibt er es aber, wird er dieses Interesse entwickeln müssen.

Ein weiterer Aspekt ist das Engineering des Produkts. Wird das Produkt betrieben, gehen die Wartungskosten zu Lasten des Betreibers. Um diese zu minimieren, stellt man in der Regel längerlebige und qualitativ höherwertige Produkte her, bei denen jegliche Wartungseingriffe im Hinblick auf Zeit und Kosten minimiert sind. Jeder ungeplante Ausfall kann nun nicht mehr dem Kunden in Rechnung gestellt werden. Ein weiterer Aspekt ist der Materialeinsatz. Da von vornherein klar ist, dass der Hersteller nach Ende des Produktlebenszyklusses sein Gerät zurücknimmt, wird er bei der Materialauswahl den Recyclingaufwand in seine Überlegungen intensiver miteinbeziehen. Außerdem ist in einem digitalen Zwilling dokumentiert, wie man das Gerät demontiert und die eingesetzten Materialien sortenrein trennt.

Denkt man diesen „Job to be done”-Ansatz konsequent weiter, kommt die Ökologie zum Nulltarif mit: Aus einem Geräte produzierenden Unternehmen, das bisher incentiviert war, nach Ablauf der Gewährleistung ein neues Gerät zu verkaufen (und nur wenig Nutzen davon hatte, den Recyclingprozess und dessen Kosten in den Entwicklungsprozess miteinzubeziehen), wird ein Unternehmen, das sich durch die gewünschte Langlebigkeit der eigenen Produkte viel intensiver mit Themen wie Kreislaufwirtschaft, Abfall und Recycling auseinandersetzt.

Kreislaufwirtschaft bei medizinischen Geräten

Das Team im MI-Share-Projekt hat den Produktlebenszyklus der medizinischen Geräte konsequent mit dem „Job to be done”-Ansatz betrachtet. Die wesentliche Herausforderung liegt darin, die medizinischen Geräte so zu konstruieren, dass sie keine Einmalprodukte sind. Durch einen hochwertigen Sterilisationsprozess sollen sie so lange verwendet werden, bis beispielsweise ein Schneideinstrument entsprechend überarbeitet werden muss, weil es den „Job to be done“, in diesem Fall das Schneiden, nicht mehr hinreichend erfüllt. Dafür hat das Team einen Zyklenzähler entwickelt, der Reinigungszyklen so intelligent erfasst, dass man daraus eine Anzahl von Schnitten ableiten kann. Dieser wird in jedem Sterilisationsprozess ausgezählt. Weiter wurde die Oberfläche der Instrumente derart veredelt, dass sie nun die Bakterien durch Keimhaftung reduziert. Dadurch wird die Betriebsdauer erhöht und die Sterilisationsprozesse können verlässlicher von beispielsweise einem zentralen Sterilisationszentrum geleistet werden.

Ein digitaler Workflow steuert den Primärkreislaufprozess zwischen Sterilisationszentrum und Operationssaal und ein digitaler Zwilling erfasst die Zyklen und steuert den Sekundärkreislaufprozess zwischen dem Hersteller, der seine Instrumente überarbeitet, und dem Sterilisationszentrum, wo die Instrumente nach der Überarbeitung wieder in den Primärkreislauf integriert werden.

Der im Projekt entwickelte Zyklenzähler liefert die Datengrundlage für die Entscheidung, ob ein medizinisches Instrument im Primärkreislaufprozess bleibt oder in den Sekundärkreislauf zum Überarbeiten gebracht werden muss. Vorbei sind hier die Zeiten der Chargennummern, da jedes einzelne Instrument eine eigene digitale Identität bekommen muss, die dann auf den jeweiligen digitalen Zwilling referenziert.

Zu Ende gedacht führt das zu einer Situation, in der die virtuelle Welt – hier die Daten im digitalen Zwilling, die vom Zyklenzähler bereitgestellt werden – die physische Welt der realen medizinischen Instrumente steuert.

Verändertes Mindset als wesentliche Herausforderung

Das Projekt MI Share befasst sich mit einem sehr anspruchsvollen Referenzszenario. Doch das bwcon research-Team mit seinen Projektpartnern ist überzeugt, dass der Ansatz und der Paradigmenwechsel weitere Nachahmer finden werden. Denn bei konsequenter Umsetzung gibt es das Incentive der Kreislaufwirtschaft nahezu zum Nulltarif. Die Herausforderung liegt weniger bei den Technologien, da diese vorhanden sind. Die Bereitschaft zur Veränderung im Denken, die neue Art mit weiteren Akteuren zu kooperieren, die Navigation der Unternehmensleitung durch Unsicherheiten und natürlich auch die Skills in den Unternehmen, um derartigen Denkmodellen folgen zu können, werden die Hürden sein oder in anderen Worten: Die weichen Themen sind die harten Nüsse im Innovationsprozess!

Kontakt

Dr.-Ing. Jürgen Jähnert (Autor)
Geschäftsführer
bwcon research gGmbH (Stuttgart)

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