Individualsoftware: zielorientiert und kosteneffizient

Im Gespräch mit PD Dr. Holger Gast, Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Beratungszentrum Agile Entwicklung von Informationssystemen

Seit zehn Jahren bietet PD Dr. Holger Gast in seinem Steinbeis-Beratungszentrum Agile Entwicklung von Informationssystemen individuelle Softwarelösungen an. Sein Ziel: passgenaue Software, die sowohl einen Mehrwert für den Kunden bringt als auch bezahlbar ist. Wie er dabei vorgeht und wie sich die Bedarfe der Unternehmen in dieser Zeit verändert haben, darüber hat er mit der TRANSFER gesprochen.

Herr Dr. Gast, Sie entwickeln für Ihre Kunden Individualsoftware: Wie gehen Sie dabei vor?

Individualsoftware ist für mich immer nur dann sinnvoll, wenn spezielle Vorgehensweisen im Unternehmen nicht mit Standardsoftware digitalisiert werden können. Um die Vision für eine neue Software zu entwickeln, frage ich nach Excel-Dateien mit Listen, die ein Team täglich pflegen muss, um arbeiten zu können: Diese Listen zeigen, dass die enthaltenen Informationen missionskritisch sind. Die Wahl von Excel bedeutet, dass es für die spezielle Verarbeitung keine Standardlösung gibt. Die tägliche Pflege weist auf einen Overhead mit entsprechendem Optimierungspotenzial hin.

Die größte Herausforderung im Übergang zu einer professionellen Individualsoftware besteht oft darin, die technischen Unzulänglichkeiten von Excel gedanklich zu überwinden: Mit Individualsoftware sind oft Funktionen möglich, die vorher undenkbar waren und die Arbeit mit den Daten dramatisch erleichtern. Ich habe dazu zwei einfache Techniken entwickelt: Zunächst vermittele ich das Bild einer „grünen Wiese“, indem ich zum ersten Workshop eine komplett lauffähige Anwendung ganz ohne Inhalt mitbringe. In diese Hülle darf die Lösung hineinwachsen. Nichts ist vorgegeben, die Experten im Unternehmen entscheiden alles. Zum anderen frage ich nie: „Was brauchen Sie in der Software?“, sondern immer: „Was wollen Sie bei diesem Arbeitsschritt erreichen?“ Damit treten die bisherigen Arbeitsweisen gedanklich in den Hintergrund und es entsteht Raum für passgenaue und kreative Lösungen.

Als kritischen Erfolgsfaktor im Projekt sehe ich die klare Aufgabenverteilung zwischen den fachlichen Expertinnen und Experten im Unternehmen und mir als Softwarearchitekten: Die Experten geben die inhaltlichen Ziele vor. Ich mache Vorschläge, wie man diese softwaretechnisch erreichen könnte und empfehle oft einen Weg. Die Experten entscheiden schließlich, was realisiert wird. Der Grundsatz, dass ich nie selbst inhaltliche Entscheidungen treffe, führt einerseits zu passgenauen Lösungen, andererseits zu einer hohen Akzeptanz der Software später.

Welche Tools nutzen Sie für Ihre Arbeit?

Bei der Planung jeder Softwarelösung sind immer zwei Bereiche zu bedenken: einerseits die Erstellung selbst, andererseits der Betrieb. Für den Betrieb setze ich auf lizenzkostenfreie Open-Source-Software, die einerseits schon lange verfügbar ist, andererseits millionenfach in Projekten eingesetzt wird. Diese Grundlage ist ausführlich getestet, bleibt langfristig stabil und führt nicht zu den gefürchteten Anpassungsprogrammierungen beim Versionswechsel. Schließlich wähle ich immer leichtgewichtige Bibliotheken aus, sodass die Anwendung für typische Teamgrößen auf einer virtuellen Maschine in der Cloud für etwa zehn Euro pro Monat betrieben werden kann.

Der Bereich der Erstellung ist der Grund, warum ich als Steinbeis-Experte aktiv bin: Ich nutze eine Software, die Software schreibt. Dieses spezielle Tool habe ich nach meinen Vorlesungen über Software-Architektur als Ausgründungsprojekt an der Universität Tübingen entwickelt. Es basiert auf dem ingenieursmäßigen Vorgehen der sogenannten modellgetriebenen Softwareentwicklung: Mit der Maus „zeichne“ ich ein grafisches Modell der benötigten Software, den eigentlichen Code schreibt mein Tool. Für meine Kunden stehen dabei neben den Erstellungskosten auch die Präzision und Vorhersehbarkeit des Ergebnisses im Zentrum und mittelfristig die Möglichkeit, Änderungen und Erweiterungen der Software umzusetzen und in bestehende Strukturen einzubinden.

Wie profitieren Ihre Kunden von solchen individuellen Lösungen? Und wie sieht die Balance zwischen Kosten und Nutzen aus?

Ich orientiere mich in meiner Arbeit an einer einfachen Optimierungsstrategie, die in der Informatik als „Amdahls Gesetz“ bekannt ist: „Make the common case fast!“ Software ist besonders gut in Dingen, die immer wieder ähnlich getan werden müssen. Der erste Nutzen meiner Anwendungen ist dann häufig die Reduktion der „Eh-da-Kosten“ der Mitarbeitenden, die bisher die Excel-Tabellen „nebenbei“ pflegen. Außerdem sinkt mit der Software die Fehlerrate, weil Routineaufgaben mit komplexen Datenänderungen zuverlässig durchgeführt werden.

Parallel steigt auch die Zufriedenheit und Motivation im Team: Weil die Software die langweiligen Routineaufgaben übernimmt, können sich die Expertinnen und Experten um ihre eigentlichen Aufgaben kümmern und ihre speziellen Kompetenzen einbringen. Häufig wird die Entwicklung der Software deshalb auch als Zeichen der Wertschätzung wahrgenommen, besonders weil die späteren Benutzer direkt in die Entwicklung einbezogen sind.

Mein Ziel ist es immer, die Amortisation der Softwareentwicklung innerhalb eines Jahres zu erreichen. Zum einen kann ich durch mein Tool Individualsoftware zum Preis von Standardsoftware bereitstellen. Außerdem stelle ich neben der Frage „Was wollen Sie erreichen?“ immer auch die Frage: „Und was brauchen Sie wirklich dazu?“ Meine Kunden sind teils überrascht, wenn ich empfehle bestimmte Funktionen nicht zu realisieren, weil sie nur dreimal im Monat benötigt werden. In vielen Projekten geht es neben der mittelfristigen monetären Sicht auch um strategische Herausforderungen, wenn zum Beispiel das Unternehmen wegen ineffizienter Prozesse bei gleichzeitigem Fachkräftemangel Aufträge ablehnen muss und nicht mehr wachsen kann.

Wie haben sich die Aufgabenstellungen Ihrer Kunden im Laufe der Zeit verändert? Und was sind die aktuellen Herausforderungen, bei denen Sie die Unternehmen unterstützen?

Mein Steinbeis-Unternehmen feiert in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen und tatsächlich haben sich die Projekte im Laufe der Zeit stark verändert. Anfangs bestand das Ziel häufig darin, Datenspeicher auf Excel-Basis möglichst eins zu eins in Webanwendungen zu übersetzen. Jetzt geht es zunehmend um komplexe Prozesse und Datenanalysen: Die Anwendungen prüfen Arbeitsschritte, führen sie teilautomatisiert aus und berechnen Überblicksdarstellungen, die bei Controlling- und Managemententscheidungen helfen. Häufig ergeben sich solche komplexeren Funktionen in bestehenden Projekten, nachdem die Kunden gesehen haben, was mit Individualsoftware möglich ist. Aber auch neue Projekte auf der „grünen Wiese“ werden immer ambitionierter.

Aktuell entwickele ich beispielsweise für die Deutschlandtochter der Schweizer V-ZUG AG ein Datenanalysetool, das Verkaufsdaten aus verschiedenen ERP-Systemen und anderen Quellen so aufbereitet, dass Trends auf einen Blick erkennbar werden. Dadurch können Management und Außendienst fundierte Entscheidungen treffen. In einem weiteren Teilprojekt haben wir ein Prozesssteuerungstool zur Planung und Durchführung von Events realisiert. Trotz dieser umfangreichen und komplexen Funktionalität ist die Individuallösung deutlich günstiger als ein entsprechendes Customizing der vorhandenen Standardsoftware.

Sie haben inzwischen zahlreiche verschiedene Projekte realisiert: Welche sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben und warum?

Die ganze Bandbreite von Projektmerkmalen zeigt die Softwareunterstützung bei Förderprojekten für die bwcon GmbH. Angefangen haben wir 2018 mit dem Ersatz der Excel-basierten monatsweisen Arbeitszeitdokumentation durch eine Webanwendung, die zusätzlich Hintergrunddaten zu Verträgen und Abwesenheiten verwaltet sowie eine PDF-Datei zur Unterschrift erzeugt. In mehreren Iterationen kamen die Mandantenfähigkeit für Dienstleistungen, die Zeitplanung für einzelne Mitarbeiter auf Monatsebene und eine DocuWare-Anwendung hinzu. Aktuell haben wir eine Erweiterung zur Budget- und Arbeitszeitplanung auf Jahresebene umgesetzt.

Den größten Sprung in Sachen Automatisierung zeigt die Verwaltung der EXI-Gründergutscheine des Landes Baden-Württemberg mit der Steinbeis-Zentrale. Die erste Version 2015 hat im Wesentlichen die Excel-Datei in eine Webversion übertragen. Die Software für das laufende EXI-Plus-Programm unterstützt alle Prozesse im Detail, vom Antrag über die Dokumentation bis zur Abrechnung der einzelnen Beratungsleistungen.

Raus aus dem „Reinraum“ des Büros führt die Wartungssoftware für lüftungstechnische Anlagen der cooltecc energy gmbh & co. kg. Die Monteure beschreiben auf dem Tablet direkt an der Maschine grafisch den Aufbau aus einzelnen Komponenten und führen die Wartung anhand von festen Checklisten durch. Anschließend wird ein Barcode aufgeklebt, sodass die Software bei der nächsten Wartung den Maschinenaufbau schon kennt – selbst die eingefleischten „hands-on“-Techniker im Team sind begeistert.

 

Kontakt

PD Dr. Holger Gast (Interviewpartner)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Beratungszentrum Agile Entwicklung von Informationssystemen (Freilassing)

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