Von konvergierenden Technologien und einer Neuausrichtung am Produktlebenszyklus
Unsere Gesellschaft befindet sich im Wandel und der seither stark auf Technologien reduzierte Innovationsbegriff wird eine neue, sehr viel breitere Interpretation erfahren, sagen die Steinbeis-Experten Dr.-Ing. Jürgen Jähnert und Moritz Stahl von der bwcon, einem Unternehmen im Steinbeis-Verbund. Mit dem Ecovity-Projekt wollen sie einen Vertrauensraum für Unternehmen aus der Automobilzulieferbranche erschaffen, in dem Wissen geteilt und die aktuellen Herausforderungen im Markt gemeinsam angegangen werden können.
Neue Technologien tauchen sehr schnell am Markt auf und werden in einem Konvergenzprozess mit anderen Technologien in neuen Anwendungsszenarien zum Einsatz gebracht. Sie gehen meist aus vorherigen Ideen hervor und werden von Unternehmen in deren Innovationsprozessen proaktiv aufgegriffen, um die eigenen Prozesse und Verfahren weiter zu optimieren – ganz im Sinne des „Technology Push“. Forschungsfelder wurden (und werden noch immer) klar voneinander abgegrenzt. Dieses bewährte Vorgehensmodell führte in Deutschland und vor allem in Baden-Württemberg zu zahlreichen sogenannten Weltmarktführern, beispielsweise im Maschinen- und Anlagenbau, in der Produktions-, aber auch in der Kunststofftechnik, der Robotik, den Fügetechniken oder den Materialwissenschaften.
Wirft man einen Blick auf Forschungsprogramme, für diese Technologien zuständige Bereiche in Ministerien oder auf die Bewertungskriterien öffentlicher Ausschreibungen von EU, Bund und Ländern für Innovationsprojekte, wird man feststellen, dass sich dort in den letzten 30 Jahren nicht wirklich viel verändert hat. Neue Technologien wurden in bestehende Strukturen eingegliedert – oder wie man auch sagen könnte: Man denkt und agiert noch in alten Mustern. Faktisch führte das zu einer sehr unspezifischen Definition des Innovationsbegriffs, die sich von „inkrementelles Verbessern“ hin zu „grundsätzlich Neues“ erstreckt. Man galt (und gilt häufig noch) als innovativ, wenn man ein bestehendes Verfahren um 3 bis 5 % verbessert.
Wertschöpfung neu denken
Die bestehende und in unserem Wirtschaftssystem fest verankerte Größe ist ein sich auf Produkte fokussierendes Wertschöpfungssystem, sodass die Optimierung der Stückkosten im Mittelpunkt steht. Unternehmen wie beispielsweise Automobilhersteller haben die Anzahl der verkauften Fahrzeuge und den Marktanteil über Jahre als ihre zentralen Identifizierungsgrößen etabliert. Ein Beispiel dafür ist auch ein vor bereits 40 Jahren vollzogener Digitalisierungsprozess. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Vinylschallplatte der zentrale Tonträger, bis durch die Digitalisierung in den Jahren 1982/83 ein Konkurrenzprodukt auf den Markt kam: die CD. Man hatte die analogen Audiosignale mittels Puls-Code-Modulation (PCM) „digitalisiert“. Nur fünf Jahre später wurden dann mehr CD-Abspielgeräte als Plattenspieler verkauft. Was blieb, war der Fokus der Industrie auf verkaufte Stückzahlen. Es wurde versucht, Angriffe auf das Wertschöpfungssystem durch Raubkopien mittels Kopierschutz abzuwehren. Doch schon 1999 kamen mit der Musiktauschbörse Napster (und später auch mit Spotify und Netflix) disruptive Anwendungen der Technologie auf, die das über nahezu 100 Jahre etablierte Wertschöpfungsmodell der verkauften Stückzahlen auf den Kopf stellten.
Auch der Automobilhersteller Daimler zielte 2008 mit seiner Carsharing-Marke car2go auf eine Veränderung des Wertschöpfungsmodells ab. Global betrachtet war es ein Versuch, neben der sich auf Stückzahlen fokussierenden Wirtschaft ein komplementäres Modell – nach beförderten Kilometern – zu etablieren. Später wurde die Marke mit dem BMW-Pendant DriveNow verschmolzen und 2022 an den Automobilhersteller Stellantis verkauft. Die Begründung hierfür war, dass man sich auf den noch immer auf Stückzahlen ausgerichteten Luxusmarkt fokussieren wollte.
Diese Beispiele zeigen, dass konvergierende Technologien Innovationen ermöglichen, aber nicht immer in den jeweiligen Organisationen verstetigt werden. Im Falle des Sprungs von der CD zu Streamingdiensten wurde der Markt überrascht und es kam für die bisherigen Platzhirsche im CD-Markt zu schmerzhaften Marktveränderungen. Im Falle von car2go wandte sich ein Automobilhersteller zunächst vom Konzept der Plattformökonomie und den veränderten Marktparadigmen – Fokus auf Produkte, Besitz der Produkte und Stückzahl – ab und fokussierte sich wieder auf das traditionelle Wertschöpfungsmodell.
Produktlebenszyklus als Dreh- und Angelpunkt
Schaut man sich unser Wirtschaftssystem aus einer globaleren Perspektive an, so haben sich einige Randbedingungen verändert. Die Themen Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz haben in der Gesellschaft einen weit höheren Stellenwert eingenommen, als dies vor 20 Jahren der Fall war. In einem Wirtschaftssystem, in dem der (internationale) Verkauf von Produkten einen signifikanten Anteil an der eigenen Leistungserstellung ausmacht, kann man die beiden Themen zunächst auf zwei Ebenen adressieren: Zum einen über den Leistungserstellungsprozess, also den Ressourceneinsatz in der Produktion, zum anderen über den Ressourceneinsatz am (verkauften) Produkt entlang des Produktlebenszyklus (einschließlich der Nachverwertung). Im Bereich der Leistungserstellung agiert die Automobilindustrie gerade als Vorreiter und „motiviert“ ihre gesamte Lieferkette, sich stärker diesen Themen zuzuwenden und transparent zu berichten. Beim Fokus auf das Produkt beziehungsweise den Produktlebenszyklus selbst sind die Bemühungen eines transparenten Berichtswesens signifikant geringer. Das mag mit einer größeren Komplexität zusammenhängen, die Technologiekonvergenz würde aber auch hier zu schlanken Lösungen führen, die von der Gesellschaft eingefordert werden müssten und mittelfristig vielleicht auch eingefordert werden.
Den Produktlebenszyklus in den Mittelpunkt zu stellen, könnte zu einem radikal veränderten Wirtschaftssystem führen: Traditionell lineare Wertschöpfungsketten werden durch Wertschöpfungsnetzwerke ersetzt und zentralisierte Institutionen durch Dezentralisierung entmachtet. Das könnte darauf hinauslaufen, dass zum Beispiel OEM (Original Equipment Manufacturer) in der Automobilindustrie ihre Dominanz verlieren, große Marktplätze wie Amazon ihre Marktmacht einbüßen oder unser Energiesystem, das aktuell eher auf zentralen Ansätzen basiert, im Sinne der Energiewende umgestaltet werden muss. Auch für Versicherungen, Notare und Banken könnte dieser Trend zu Verwerfungen im eigenen Wertschöpfungssystem führen. Auf der anderen Seite würden Hersteller, die zusätzlich auf eine verstärkte Anwendung der Plattformökonomie setzen, im Besitz ihrer Produkte bleiben und diese den Kunden nur zur Verfügung stellen. Produzenten wären incentiviert, bei der Produktherstellung die Kosten für die Weiterverwendung der Rohstoffe nach Ende des Produktlebenszyklus mitzuberücksichtigen. Die Produktqualität und die Wartungsarbeiten würden nach anderen Randbedingungen optimiert werden. Ein digitaler Zwilling würde sich nicht nur über die Konstruktionsphase des Produktes erstecken, sondern sich weiter über den gesamten Produktlebenszyklus ausdehnen. Der Anreiz für Verkäufer wäre nicht mehr, das größtmögliche, sondern das kleinstmögliche Produkt zu verkaufen, das den Kundennutzen erfüllt.
Silodenken aufbrechen
Die oben genannten, hypothetischen Szenarien würden dazu beitragen, dass der eher linear verlaufende „Technology Push“-Ansatz in einem Innovationssystem durch einen „Market/Society Pull“-Ansatz als vorherrschendes Denkmodell abgelöst wird. Das bedeutet, dass zukünftig Business Modell Innovation und somit neue Wertschöpfungsmodelle den Startpunkt eines Innovationsprozesses und die Grundlage der Anforderungen an die konvergierenden Technologien bilden. Im Vorfeld ist dafür aber eine intensive Wechselwirkung erforderlich: Akteure, die neue Wertschöpfungsmodelle nicht kennen, können sich nicht vorstellen, dass diese durch konvergierende Technologien implementiert werden können – und andersherum.
Der Automobilpionier Henry Ford soll über die Entwicklung des Automobils und die Disruption des Kutschenmarktes gesagt haben: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.“ Führt man diesen Gedanken weiter, erhält man als Anforderung an zukünftige Innovationssysteme, die bisherigen Silos der verschiedenen Technologien und Anwendungsbereiche konsequent aufzubrechen. Interdisziplinarität wäre dann weitaus mehr als eine IT-Software-Community, die mit Vertretern der IT-Hardware in einen vertieften Dialog geht. Die sehr viel schneller als bisher konvergierenden Technologien üben eine Wechselwirkung mit Akteuren aus, die neue, oft disruptive Geschäftsmodelle entwickeln. Organisationen müssten so veränderungsbereit sein, dass sie diese Veränderungsimpulse sehr schnell proaktiv aufgreifen und in einen Wirkbetrieb überführen, aber zeitgleich so statisch sein, dass sie die Ergebnisse des Veränderungsprozesses dann skalieren können. Für Unternehmen bedeutet das, dass technologische Expertise erforderlich ist, um weit mehr Technologien zu integrieren, als es bislang erforderlich war, darüber hinaus permanent neue Wertschöpfungsmodelle zu entwickeln und zusätzlich die eigene Belegschaft mittels eines Veränderungsmanagements mitzunehmen. Eine Fähigkeit, die in traditionellen Technologievorhaben in der Regel als wenig herausfordernde „Beratertätigkeit“ abgewertet wird – obwohl Soziologen, Psychologen und Didaktiker hier noch umfangreiche Erkenntnisse gewinnen, die aber von Technologen noch zu häufig ignoriert werden. Ob das nun eine Form des Silodenkens ist oder nur eine Folge des historisch gewachsenen Organisationszuschnitts in Verantwortungsbereiche, sei dahingestellt.
Ecovity als innovativer Vertrauensraum
Unternehmen haben in der Regel strategisches Spezialwissen und Kernkompetenzen, die sie über die Jahre aufgebaut haben. Ein Wandel des Wertschöpfungsmodells kann aber dazu führen, dass das bisherige Wissen zu begrenzt ist, um die genannten Herausforderungen adäquat adressieren zu können. Es ist also ein Innovationssystem erforderlich, ein virtuelles Konstrukt, das im Verbund in einem Vertrauensraum agiert, um diese Herausforderungen arbeitsteilig zu adressieren. Dabei kann aufgrund der Komplexität nicht ein zentraler Akteur alle Bausteine und Elemente kontrollieren – es ist notwendig den Weg über ein verteiltes System zu gehen. Einen solchen Ansatz untersucht die bwcon gerade im Ecovity-Projekt. Dabei haben sich 18 Unternehmen aus dem Automobilzulieferbereich die Frage gestellt, wie man in einer Kleinserie am traditionellen OEM vorbei Fahrzeugkomponenten und final vielleicht sogar ganze Fahrzeuge entwickeln und mittelfristig in einem Flottensystem betreiben kann.
Zu Beginn des Projektes stand die Frage im Raum, warum, Ressourcenschonung und Klimaschutz betrachtend, das Verkehrsaufkommen in den Städten und urbanen Räumen stetig wächst und die Fahrzeuggrößen der Fahrzeuge in dicht besiedelten Räumen sich nicht signifikant von den Fahrzeugen unterscheiden, die im ländlichen Raum unterwegs sind. Weiter sind Kleinlastfahrzeuge und leichte Nutzfahrzeuge für die letzte Meile im Markt unterrepräsentiert. Somit findet vor allem im urbanen Bereich Mobilität und Logistik in Fahrzeugen statt, die ein Vielfaches an Eigengewicht gegenüber dem zu transportierenden Gewicht aufweisen. Im Sinne von Ressourcenschonung und Energieeffizienz ist das kein zukunftsweisender Zustand. Ziel von Ecovity ist es, ein für diesen zukünftigen Markt erforderliches Konfigurations-, Engineering- und Produktionssystem zur Auslegung und Herstellung dieser kleinen Stückzahlen mittels eines kooperativen Wertschöpfungsnetzwerks zu adressieren, damit Kleinserienfahrzeuge so kostengünstig entwickelt und gefertigt werden können wie ein massenproduziertes Fahrzeug. Für eine solche kundenindividuelle und kosteneffiziente Kleinserienfertigung braucht es neue Methoden der digitalen Vernetzung im Sinne einer mittelständischen Plattformökonomie, auf der durch kollaborative Wertschöpfung gleichberechtigter Entwicklungs-, Produktions- und Integrationspartner neue Strukturen abseits traditioneller OEM entstehen und der mittelständischen Zulieferindustrie neue Optionen ermöglichen.
Eine digitale Ecovity-Plattform beschreibt die Leistungen der Akteure und erlaubt jedem aus einer Plattform heraus die eigene Leistung durch die Leistungen der anderen Partner zu multiplizieren. Auf diese Weise entstehen neue, dynamische Kooperationsszenarien, die dann das traditionelle, lineare Wertschöpfungsmodell, bei dem häufig ein mächtiger Akteur am Ende der Wertschöpfungskette sitzt und die Margen in der gesamten Kette ausräumt, durch ein Wertschöpfungsnetzwerk ablösen. Es entsteht ein Innovationssystem, bei dem die Akteure auf Augenhöhe kooperieren, aber situationsbezogen auch konkurrieren. Die Herausforderung hierbei erfolgt auf drei Ebenen: Technologie, Wertschöpfung und Vertrauensraum. Die Technologien stehen bereit und stellen die geringste Herausforderung dar. Die Wertschöpfungsmodelle müssen kooperativ entwickelt werden und nicht alle Akteure in unserer Wirtschaft sind reif sich einem solchen Netzwerk anzuschließen. Die eigentliche Herausforderung besteht auf der Ebene, die in zahlreichen Forschungsprogrammen häufig als weniger wichtige Beratertätigkeit abgewertet wird: die Schaffung eines Vertrauensraums, die Fähigkeit die Integration der handelnden Akteure und die Moderation des Gesamtprozesses. Eine nicht technische, aber wissenschaftlich herausfordernde Tätigkeit, die letztendlich in der Erkenntnis aller Akteure münden sollte, dass der Kern eines Innovationssystems die Kooperationsfähigkeit der Mitglieder definiert.
Kontakt
Dr.-Ing. Jürgen Jähnert (Autor)
Geschäftsführer
bwcon GmbH (Stuttgart)
www.bwcon.de
Geschäftsführer
bwcon research gGmbH (Stuttgart)