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„Wir haben eine Verantwortung für zukünftige Generationen!“

Im Gespräch mit Steinbeis-Unternehmer Professor Dr. Bernd Jörs

In der Arbeitswelt der Zukunft wird Bildung eine noch entscheidendere Rolle spielen: nicht nur im Hinblick auf die initiale Ausbildung, sondern vor allem in Form von Weiterbildung und lebenslangem Lernen. Das stellt Schulen wie auch Hochschulen vor bisher nicht gekannte Herausforderungen. Aber sind sie dafür gewappnet? Bernd Jörs ist Professor für Informationsökonomie an der Hochschule Darmstadt und Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Online Marketing Engineering & Business Analytics. Im Gespräch mit der TRANSFER hat er einen kritischen Blick auf die Hochschullandschaft geworfen und plädiert für ein anderes Verständnis von Aufgaben und Rolle eines Hochschullehrers.

Herr Professor Jörs, Sie unterrichten seit 35 Jahren. Wie hat sich die Hochschullehre in dieser Zeit verändert?

Die Hochschullehre hat sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert. Das liegt vor allem an der Zunahme an technischen Möglichkeiten: sei es für die Präsentation und Zurverfügungstellung von Lehrmaterialien durch hard- und softwaregestützte Tools, durch die technisch verbesserte Ausstattung der Hörsäle durch beispielsweise Whiteboard-Installationen, die Ermöglichung der Onlinelehre und von Online-Live Sessions sowie der raum-zeitlosen Zugriffsmöglichkeiten auf Lernvideoangebote. Aber auch die Aufzeichnung von Vorlesungen, Moodle-Plattformen, Open-­Book-Prüfungsmöglichkeiten und hybride Lehr- und Lernformate sowie Online-Sprechstunden haben den Alltag für Hochschulangehörige ganz wesentlich verändert.

Wir leben und arbeiten in einer sich gefühlt immer schneller wandelnden Welt, die täglich neue Anforderungen an uns stellt. Was bedeutet das für die Hochschullehre und alle daran Beteiligten?

Die Zukunft der Hochschullehre wird meines Erachtens von der alles überragenden Fragestellung getragen, welche Personen die richtige Einstellung, das pädagogische Know-how und das „Brennen“ für ein Fach mitbringen und verstehen, dies in der Lehre passend einzusetzen, egal ob als Offline- oder Online-Lehrende. Es gelten weiterhin die international ausgerichteten Lernforschungsergebnisse der Meta-Studien von John Hattie und seiner Suche nach den wesentlichen Erfolgsfaktoren in der Lehre: Die entscheidende Determinante für Lernerfolg bleibt die Person des oder der Lehrenden, trotz aller Bemühungen der Digitalisierung oder der Nutzung von Gamification-Elementen in der Lehre. Man muss sich der Verantwortung für die Qualifikation der Nachwuchsgenerationen stets bewusst sein. Man muss sich stets klar sein, dass man diesen Beruf gewählt hat, um für die Studierenden da zu sein. Nicht umgekehrt. Man unterrichtet primär Menschen, mit allen Stärken und Schwächen, und dann erst Fächer.

Hochschullehre muss vor allem die jungen Studierenden emotional erreichen, weil Lehren immer nur über emotionale Ansprache gelingt. Die Lästigkeit der Lehre mit angeblich immer mehr untalentierten, nicht engagierten, nicht hart arbeitenden und faulen Studierenden, verbunden mit den traditionellen Hinweisen auf frühere Zeiten, sieht man zahlreichen Hochschullehrern an. Sie machen das nicht gerne. Sie kommen vor allem mit ihrem autoritären, ein sicheres Wissen beanspruchenden Lehrverständnis bei den jungen Leuten nicht an, sind nicht an Verständlichkeit interessiert und halten ihre mit hohen Durchfallquoten versehenen und abgehaltenen Vorlesungen und Prüfungen noch für einen Ausdruck ihrer besonders hohen Wissenschaftsqualität. Wissen produktiv zu machen und zu teilen, ist nicht ihr Ding. Die intellektuelle Verantwortlichkeit besteht aber darin, eine Sache so deutlich hinzustellen, dass man dem Betreffenden, wenn er etwas Falsches oder Unklares oder Zweideutiges sagt, nachweisen kann, dass es so ist. Zu sehr lehnt und lehnte ein Großteil der deutschsprachigen Hochschullehrer eine solche Form der verständlichen Wissensvermittlung ab. Diese Lehr- und Wissenschaftsarroganz, so der Managementprofessor Peter Drucker, können wir uns nicht leisten, wenn Wissen produktiv gemacht werden soll. Dieser Tatbestand ist seit Jahrzehnten bekannt. Zarte, meist wirkungslose didaktische Versuche, diesen zu ändern und endlich verständliche Lehre zum Ziel zu machen, sind eher gescheitert. Man will anscheinend nichts ändern. Die Verantwortung für das rundum bedauerte Scheitern wird meist den Studierenden zugeschoben.

Die allerwichtigste Fähigkeit des Hochschullehrers wird in der Fähigkeit liegen, Inhalte verständlich zu vermitteln und sich über weniger hohe Durchfallquoten zu freuen. Verständnis schaffen wird zur wichtigsten Aufgabe der Hochschullehre, damit Wissen produktiver wird. Wer das für unnötig hält, sollte den Beruf wechseln. Schlechte Lehre und fehlende zielgruppenspezifische Inhaltsvermittlung können wir uns in der Hochschullehre nicht mehr erlauben, denn ein Versagen der Hochschullehre ist volkswirtschaftlich gesehen untragbar und verantwortungslos. Schon jetzt, nicht nur durch die Corona-Belastungen, gibt es eindeutig Bestrebungen nach mehr und mehr Online-Lehre mit abrufbaren Standard-Lernvideo-Paketen. Hochschulleitungen und Hochschulkanzler stoppen den Bau neuer Hörsäle, weil wohl ein Teil der Hochschullehre im digitalen Umfeld zuhause sein wird. Die Entfremdung von Lehrenden und Studierenden in der damit verbundenen Glasscheibendidaktik wird noch größer. Gut, werden zahlreiche Dozenten sagen, dann brauche ich weniger lehren und habe mehr Zeit für das, was ich lieber mache: ungestört forschen und Papers schreiben, die in über 90 % der Fälle nie gelesen oder zitiert werden. Zudem ersparen sich Distanz-Professoren lange und teure Anfahrtswege. Die Gleichgültigkeit wird neue Dimensionen annehmen. Evaluationen in der Lehre werden kaum in Verbesserungen münden und werden zudem von vielen Hochschullehrern nicht gerne gesehen. Sie haben oft eine feste, unumstößliche Meinung von den Studierenden und rücken kaum davon ab. Kritische Selbstreflektion der eigenen Qualität der Lerninhaltevermittlung wird meist unterdrückt. Hochschullehrer, die Studierende eher als faul und träge oder nicht engagiert betrachten, sehen keine Notwendigkeit ihre Lehrunfähigkeit und -unwilligkeit aktiv anzugehen.

Die berufliche Verpflichtung als Lehrende bedingt grundsätzlich ein ständiges fachliches Interesse sowie Kontakte mit anderen Wissenschaftlern, Firmen und Institutionen. Die frühzeitige, antizipative Aneignung von berufs- und arbeitsmarktrelevantem Qualifikations-Know-how und dessen ebenso frühzeitige, vorausschauende Vermittlung gehört zu den Hochschullehrerpflichten. Schließlich ändert sich die Berufs- und Arbeitsmarktwelt extrem und immer schneller. Weiterbildung wird die Ausbildungs- und Studienphase an Bedeutung deutlich überholen. Schon heute werden bestimmte akademische Qualifikationen, die sehr fundiert und traditionell hoch anerkannt sind, durch die Automations- und KI-Entwicklungen mehr als bedroht und in vielen Fällen überflüssig gemacht. Davon sind nach Prognosen über 25 % der bisherigen akademischen Qualifikationen betroffen.

Deshalb mein Plädoyer für ein radikal geändertes Hochschullehr-Verständnis: Wir haben eine Verantwortung für zukünftige Generationen! Wir müssen im Zeitalter des akademischen Dauerlernens, der zunehmenden Halbwertzeit von Hochschulabschlüssen, der Dringlichkeit der Implementierung einer angepassten Hochschul-Weiterbildungswelt, die Beziehungen zu den Studierenden auf ein neues Plateau heben. Deshalb ist mir der Abbau der Entfremdungstendenzen von Hochschullehrern und Studierenden ein so hohes Anliegen. Die Arbeitswelt der nächsten Generationen wird gezeichnet sein von Freelancertum, Projektarbeit, Abbau des Angestelltenverhältnisses und einem ständigen Weiterbildungsdruck. Hier gilt demnächst noch stärker die Devise: „Next qualification = next job“. Wir können nicht mehr länger warten. Glasscheibendidaktik und die primitive wie naive Vorstellung der Etablierung eines passiven „Lerncoach-Verständnisses“ für den Idealtyp eines Hochschullehrers wirken hierbei rückständig und vor allem nicht zukunftsgerichtet und zielführend. Hochschullehre muss durch professionelle Hochschullehrbegleitung für die Studierenden ergänzt werden. Der Kontakt zwischen Studierenden und vor allem Alumni muss intensiviert statt, wie offensichtlich, abgebaut werden. Einfache, unregelmäßige Alumni-Treffen reichen nicht mehr aus. Die Hochschulverantwortlichen und der Arbeitsmarkt müssen hier viel stärkere Verbindungen eingehen.

Hier wollen wir provokant einhaken: Spielt die Hochschullehre denn noch eine bedeutende Rolle, in Zeiten, in denen Wissen mit wenigen Klicks verfügbar zu sein scheint?

Spätestens die fundierten neurowissenschaftlich gestützten Erkenntnisse der modernen Lehr- und Lernforschung sowie der Lernpsychologie, der allgemeinen und Fachdidaktik sowie die wissenschaftliche Diskussion zu Formen der analogen und digitalen Wissensvermittlung machen eines ganz klar: Ohne Lehre und intrinsische wie extrinsische Motivation und vor allem ohne Vorwissen geht gar nichts, auch Googeln ohne Vorwissen ist sinnlos. Die überkommene Vorstellung, dass reines klickbasiertes Googeln reicht, um sich Wissen aller Art anzueignen, war schon immer eine furchtbar dümmliche, naive und illusionäre Vorstellung. Lernen ist nicht selten harte Arbeit, wie John Hattie feststellt.

Die häufig zitierte Informations- oder Medienkompetenz, gerade bei der Entdeckung und Diskussion von Fake-News, ist eine Illusion und Nichtkompetenz. Ohne entsprechendes Vorwissen kann man keine „Kompetenz irgendeiner Art“ haben, schon gar nicht „besitzen“. Zum Lernen werden Motivation und Wille benötigt. Die bereits angesprochene führende Rolle des Lehrenden für den Lernerfolg und die damit verbundene Vorbildrolle sollen ja gerade den Willen und die Lernbereitschaft der Studierenden anregen und zum Brennen für ein bestimmtes Thema bringen, gerade um den berühmten Anstrengungs-Minimalismus in der Leistungserstellung – die sogenannte Copy & Paste-Kultur – für die persönliche intrinsische Motivation zu bekämpfen. Schließlich soll lebenslanges Lernen zum Lebensziel werden. Das geht auch kräftemäßig nicht immer nur über die stete persönliche intrinsische Motivation, Anregung und Disziplin, sondern der Lehrende spielt auch eine wichtige Rolle. Bekanntlich erinnern sich Schüler oder Studierende meist an die Dozenten, die sie am meisten inspiriert und gefördert haben. Das sagt eigentlich schon alles.

Wenn wir einen Schritt weiter gehen, vom Studium in den Beruf: Welche Rolle spielt hier die Weiterbildung und wie wird sich diese Ihrer Meinung nach in der Zukunft entwickeln?

Wie bereits gesagt, wird die Weiterbildungsphase die Ausbildungs- oder Studienphase in der Bedeutung radikal überholen. Das von Anja C. Wagner verkündete Motto „Ausbildung ist nie mehr aus“ muss verinnerlicht werden. Diese Einstellung muss mit den Halbwertzeiten des Wissens verbunden sein, die noch mehr als früher stetige Weiterbildungen zum Must-have machen müssen. Hochschulen, Unternehmen und andere Organisationen müssen hierfür antizipative Infrastrukturen schaffen. Sie müssen Weiterbildungsangebote in viel größerer Auswahl, mit viel variantenreicheren Zeiträumen – von vier Wochen bis zu drei Jahren – anbieten. Schließlich klopft die KI-basierte Automation an alle Branchentüren. Vieles muss schneller gelernt und vermittelt werden. Dazu kommt die Tatsache, dass Deutschland in eine demografisch verheerende Schieflage gerät. Die Angebote der Hochschulen müssen daher von Generation Babyboomer bis Generation Z und Alpha alles erfassen. Eine Weiterbildungsermöglichung und -verpflichtung von fünf bis zehn Stunden pro Woche für die persönliche Weiterbildung, wie es bei AT&T America von den Mitarbeitenden verlangt und unterstützt wird, muss zum Normalfall werden. Steinbeis kann und muss hier eine Vorreiterfunktion übernehmen, sonst machen das andere Großunternehmen aus Kalifornien. Die durchschnittliche Weiterbildung für Mitarbeiter in Deutschland beträgt zurzeit 17 Stunden pro Jahr! Hier ist der Niedergang fest programmiert. Zudem sind die meisten Weiterbildungsangebote nicht arbeits- oder berufsmarktrelevant, abgesehen von deren Kürze. Das ist meist keine wirkliche, effiziente Weiterbildung, sondern Beschäftigungstherapie. Man braucht aber Weiterbildungsqualifikationen, gerne auch mal ohne den deutschen Dauerwunsch nach Zertifikaten, die wirklich neue Chancen in der beruflichen Zukunftsarbeitswelt induzieren. Wir brauchen Perspektiven!

In Ihrem Steinbeis-Unternehmen bieten Sie Ihren Kunden Exzellenz-Weiterbildungs- und Workshopprogramme für Online Marketing Engineering & Business Analytics, was ist das Besondere daran?

Die Weiterbildungsbereitschaft deutscher Unternehmen ist begrenzt, gerade im Online Marketing Engineering & Business Intelligence-Sektor. Das bedeutet, dass in zwei zukunftsrelevanten Bereichen wenig in Weiterbildung investiert wird. Ruhestandsregelungen und vor allem die demografisch belastende „Entsorgung“ der Mitarbeiter durch die Förderung von Programmen für den vorzeitigen oder frühzeitigen Ruhestand, der die nachfolgenden Generationen völlig ungerührt mit hohen Rentenzahlungen belastet, wird mit mehr Relevanz gewichtet als irgendwelche Weiterbildungen. Weiterbildungen für Ruhestandskandidaten, warum? Das wird als Geldverschwendung abgestempelt. Gerade für Start-up-Vorhaben wären Qualifikationen im Online Marketing Engineering und dem Data Science/Business Intelligence-Bereich absolut hilfreich, auch für ältere Arbeitnehmer. In den USA gründen bereits 25 % der über 55-Jährigen ein eigenes Unternehmen. Natürlich oft nicht freiwillig. Die Rentenzahlungen vieler grenzen an den Schwellenwerten zur Altersarmut. Schon vor vielen Jahren habe ich versucht, ein Weiterbildungsstudienangebot an der Hochschule Darmstadt im Fachgebiet „Online Marketing Engineering/Business Intelligence“ auf den Weg zu bringen. Das Konzept war fertig, aufgebaut auf langjähriger Lehrerfahrung auf diesen Gebieten und unter Mitarbeit vieler einschlägig qualifizierter Lehrbeauftragter. Aber die Hochschule sah für solche Weiterbildungskonzepte keinen Bedarf. Man arbeitet in den von Eigeninteressen geleiteten Hochschulen lieber an neuen Bachelor- und Masterstudiengängen. Das Ergebnis ist sichtbar: Über 20.100 Bachelor- und Masterstudiengänge hat man nun ins Leben gerufen. Wer soll da noch durchblicken? Die Studienwahl wird für junge Leute zum Entscheidungschaos. Alles wird granular angeboten und die Unternehmen wissen am Schluss nicht, welche fachlichen und sozialen Qualifikationen hier überhaupt vorliegen. Wenn nicht bald die Weiterbildung ernsthaft angegangen wird, wird der Zug abgefahren sein.

Der häufig erwähnte und bedauerte Fachkräftemangel ist vielerorts hausgemacht. Frühzeitige Weiterbildung in einschlägigen und zukunftsgerichteten Qualifikationsfeldern hätte hier geholfen und zur Abmilderung beigetragen. Der Wille und das Geld für derartige Bildungsinvestitionen fehlten und fehlen auch heute noch. Am Beispiel der Cybersecurity-Problematik und der Tatsache der über 100.000 unbesetzten Stellen im IT-Bereich sieht man, wie diese Versäumnisse zum Nachteil aller wirken. Hochschulen tragen daran eine gehörige Portion Mitverantwortung. Aber Verantwortung, Weiterbildungen als Teil der Hochschullehre und ein steter Kontakt zu Alumni sind kein Thema bei der eher Lehrunwilligkeit in diesem Lande und einem wahllosen Produzieren von Lernvideos, die die nächsten zehn Jahre auf die Server gestellt werden. Vielleicht ändert sich das einmal.

Kontakt

Prof. Dr. Bernd Jörs (Interviewpartner)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Online Marketing Engineering & Business Analytics (Rodgau)

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