Nachhaltige Entwicklung hat viele Gesichter

Das Öko-Klischee ist längst einem akzeptierten Mehrwert für Wirtschaft und Gesellschaft gewichen

In den 1980er-Jahren stand der Begriff Nachhaltigkeit, vor allem die ökologische, in erster Linie für Verzicht. Diese Sichtweise hat sich stark gewandelt, die Notwendigkeit nachhaltiger Ansätze in ganz unterschiedlichen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft ist inzwischen akzeptiert. Mehr noch: Kompetenzen im Nachhaltigkeitsmanagement werden als die Wettbewerbsfähigkeit fördernd betrachtet. Die starke Präsenz des Themas in den Medien – nicht zuletzt mit Blick auf den Klimawandel, Umweltkatastrophen und die Agenda 2030 – zeugt von seiner hohen Dringlichkeit für unsere Gesellschaft und Wirtschaft. Nicole Weber-Kaiser unterstützt als freiberufliche Projektleiterin das Steinbeis-Beratungszentrum Vertriebsanalytik und zeigt, welches Potenzial im Wandel zur Nachhaltigkeit steckt.

Vier Quadranten einer nachhaltigen Entwicklung

 

Die Organisation der Vereinten Nationen spricht übrigens nicht von Nachhaltigkeit als Status, sondern von nachhaltigen Entwicklungen. Sie verdeutlicht damit, dass wir uns auf dem Weg befinden. Unternehmen haben einen starken Einfluss darauf, wie gut wir in dieser nachhaltigen Entwicklung vorankommen, denn sie sind ein Bindeglied zwischen der Kaufentscheidung von Menschen und den Folgen ihrer Entscheidung für Umwelt und Gesellschaft.

Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung
Die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft stehen, lassen sich in vier Bereiche aufteilen:

  • Die ökologische Herausforderung: Die Trennung zwischen uns und der Natur im Umgang beispielsweise mit anderen Lebewesen, Anbaukulturen, Lebensmitteln und endlichen Ressourcen muss überbrückt werden hin zu einer größeren Verbindung mit ihr.
  • Die sozialwirtschaftliche und ökonomische Herausforderung: Sie umfasst die Überwindung der Kluft zwischen mir und anderen sowie die Verantwortung von mir für andere, beispielsweise durch die Reduktion von Armut in Form von Bildung und Teilhabe, der Stärkung von Gleichwertigkeit in der Bezahlung der Geschlechter oder der Gestaltung eines nachhaltigen Wirtschafts- und Finanzsystems.
  • Die gesundheitliche Herausforderung: Sie umfasst die Veränderung von einem körperlich und seelisch geschwächten Ich hin zu einem gesünderen Ich, beispielsweise durch einen bewussten Umgang mit körperlichen sowie psychischen Erkrankungen.
  • Die spirituelle Herausforderung: Sie umschreibt den rezeptiven Weg der Sinnfindung, und zwar fern jedweden Dogmas, fern von Religionen oder Esoterik. Wesentliche Merkmale davon sind unter anderem eine Haltung der Achtsamkeit, ein Gewahrsein der Verbundenheit mit allen Wesen, vollkommene Präsenz und ein tieferer innerer Frieden. Aspekte, die auch in Unternehmen und der Wirtschaft Thema sind.

Nachhaltige Lösungen finden wir, wenn wir diese vier Herausforderungen nicht isoliert betrachten, sondern in ihren bestehenden Wirkzusammenhängen. Parallel dazu besteht eine weitere, dreifache Herausforderung bei der Nachhaltigkeit: Zum einen müssen Individualität und Verschiedenheit gewürdigt werden, indem individuelle Freiheiten und Einzigartigkeiten integriert werden. Außerdem muss sich eine kollektive Verantwortung entwickeln, die nicht zum einseitigen Diktat oder gar Zwang führt. Und schließlich müssen wir alle anerkennen und akzeptieren, dass sich alte Sicherheiten längst begonnen haben aufzulösen.

Der integrale Ansatz als Grundlage für nachhaltige Entwicklungen
Der integrale Ansatz bietet sich für nachhaltige Entwicklungen in unserer Gesellschaft und Wirtschaft an. Er hat im vergangenen Jahrzehnt zunehmend an Bedeutung gewonnen und ist im Wesentlichen ein Modell zur systematischen Erfassung und Erklärung der Welt. Das Besondere an diesem Konzept und der integralen Lebensweise ist, dass es lebensfreundlich und praktisch ausgerichtet ist – also kein „Luftschloss“.

Dieser Ansatz hat – auch in der Beratung – bereits in verschiedenen Gesellschaftsbereichen Einzug gehalten und wird praxisbezogen eingesetzt. Die Erfahrungen zeigen, dass Bereiche und Disziplinen, die dieses Modell anwenden, in der Lage sind, sich umfassender, effektiver und effizienter zu reorganisieren. Als wesentlicher Wegbereiter eines integralen Ansatzes gilt unter anderem der amerikanische Autor Ken Wilber.

Der integrale Ansatz stellt als Basis vier Dimensionen dar, in denen wir uns in jeder sozialen Situation befinden:

  1. Die Außenseite beschreibt das Sichtbare und Messbare, beispielsweise in Form von veränderten Prozessen und Strukturen, Umweltbedingungen sowie objektiv sichtbarem Verhalten, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das ist die äußere Nachhaltigkeit.
  2. Die Innenseite beschreibt die innere Nachhaltigkeit. Sie setzt an einem veränderten individuellen Bewusstsein an sowie an kollektiven Kulturfragen zur Nachhaltigkeit, wie beispielsweise: „Wie wollen und können wir morgen nachhaltig in Frieden sowie in mehr Freiheit und Gerechtigkeit miteinander leben?“
  3. Der Bereich der Ich-Ebene umschreibt alle individuellen Aspekte auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, sowohl im Mindset als auch im
    objektiven Verhalten.
  4. Mit der Wir-Perspektive sind die kollektiven Aspekte gemeint – zwischenmenschlich sowie interobjektiv (Prozesse, Strukturen, Abläufe).

Die sich daraus ergebenden vier Quadranten zeigen, auf welchen Ebenen Veränderung stattfindet. Möchten sich Menschen, Unternehmen oder Organisationen nachhaltig entwickeln, empfiehlt es sich, alle vier Quadranten im Blick zu behalten und eine Entwicklung auf Personen- und Systemebene sowohl außen (Strukturen, Prozesse, Verhalten, Fertigkeiten) als auch innen (individuelles Mindset, gemeinsame Kultur) anzustreben und zu gestalten. Das ist durchaus anspruchsvoll, weil sich die Entwicklungsgeschwindigkeiten zwischen den Bereichen stark unterscheiden können.

Nachhaltigkeit und Lebensfreude verbinden
Nach dem auf Verzicht ausgerichteten Blick auf Nachhaltigkeit Ende des letzten Jahrhunderts, wissen wir heute, dass ökologische Nachhaltigkeit weit stärker mit Lebensfreude verbunden ist! Positive Gefühle anzusprechen und Nachhaltigkeit mit Freude am Leben und guten Erfahrungen zu verbinden, begeistert und motiviert. Diese positiven Emotionen wirken sich auch massiv auf unser Lernen aus. Mit Worst-Case-Szenarien und negativen Emotionen wie Angst und Furcht kann man zwar auch schnell lernen – jedoch nur im negativen Sinne. Das wissen wir aus der Gehirnforschung und Lernpsychologie. Denn Angst, Druck und Stress hemmen unser Denken und damit unsere Kreativität. Kreative Lösungen brauchen wir jedoch, um unser Wissen, unsere Erkenntnisse und unsere Dialogfähigkeit einzusetzen, um die drängendsten Probleme unserer Gesellschaft und Wirtschaft schnell und auch nachhaltig zu lösen. Es ist also wichtig, Nachhaltigkeit immer auch mit positiven Erfahrungen zu beleben, von innen heraus gelebt und für alle Beteiligten erlebbar gemacht. Für Organisationen und Unternehmen bedeutet das, Mitarbeitern, Kunden sowie Marktpartnern gleichermaßen neue Erfahrungsräume zu bieten.

Nachhaltigkeitsmanagement als Kernkompetenz in Unternehmen
Die Beschäftigung mit Öko- und Nachhaltigkeitsmanagement im weitesten Sinne führt im besten Falle dazu, dass Systeme – der Mensch, die Wirtschaft, die Gesellschaft – echte Metakompetenzen erwerben, die auch in „Nicht-Ökobereichen“ zu erhöhter (Wettbewerbs-)Fähigkeit und Resilienz führen. Diese Metakompetenzen sind im Gegensatz zu den meisten Planungs- und Entscheidungsprozessen nicht nur eine Frage der üblichen Rationalität unserer westlichen Welt, sondern auch eine der emotionalen Intelligenz und Prozess einer integralen Bewusstseinsentwicklung. Und dies zum Wohle einer Gesellschaft, der Kinder unserer Kinder und unserer Erde sowie ihrer endlichen Ressourcen.

Kontakt

Nicole Weber-Kaiser (Autorin)
Freie Projektleiterin, Fokus Mensch
Steinbeis-Beratungszentrum Vertriebsanalytik (Hilzingen)
www.steinbeis-vertriebsanalytik.de

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