Steinbeis-Team entwickelt einen Test zur Abschätzung der Digitalisierungsrisiken für Geschäftsmodelle
Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft weitreichend und grundlegend. Nicht zuletzt berührt sie Wertschöpfungsprozesse von Unternehmen. Auf diese Weise eröffnen sich einerseits völlig neue Wertschöpfungsoptionen, andererseits ergeben sich Bedrohungen für ehemals gut funktionierende Geschäftsmodelle des analogen Altlandes. Am Steinbeis-Transfer-Institut Digitale Transformation ist ein einfacher Test entstanden, mit dem Unternehmen eine gefährdende Digitalisierungsanfälligkeit ihres Geschäftsmodells prüfen können. Konzeptionelle Basis des Tests sind acht digitale Folgegesetze im Sinne der universell gültigen Prinzipien der Digitalisierung.
Ein Geschäftsmodell beschreibt abstrakt die Wertschöpfung von Unternehmen. Es beinhaltet im Kern drei Elemente: die Nutzendimension (welcher Kundennutzen wird gestiftet?), die Architekturdimension (wie ist die Wertschöpfung intern und extern organisiert?) und die Erlösdimension (wie erzielt das Unternehmen Erlöse?). Obgleich alle drei Komponenten eines Geschäftsmodells vermutlich von der Digitalisierung berührt werden, steht die Nutzendimension im Fokus: Denn sowohl die Organisation der Wertschöpfung als auch das Erzielen von Erlösen werden hinfällig, wenn das Unternehmen keinen wettbewerbsüberlegenen Kundennutzen mehr erzeugt.
DER DIGITALISIERUNGSANFÄLLIGKEITSCHECK
Die Nutzenstiftung eines Unternehmens kann durch die Digitalisierung in dreierlei Hinsicht gefährdet werden:
- Die Nutzenstiftung beruht auf der opportunistischen Ausbeutung von Informationsvorsprüngen.
- Das Kundenproblem, das das Unternehmen im analogen Altland gelöst hat, existiert im digitalen Neuland nicht mehr.
- Das Kundenproblem existiert zwar noch, lässt sich aber auch digital lösen.
Unternehmen besitzen gegenüber ihren Kunden eine Vielzahl von Informationsvorsprüngen. Sie kennen insbesondere den Herstellungsprozess ihrer Produkte und den damit verbundenen Ressourcenverbrauch besser als die Kunden. Vor diesem Hintergrund können sie nicht nur ihre Gewinnspanne, sondern auch zahlreiche Qualitätsmerkmale tendenziell besser beurteilen als ihre Kunden. Ein opportunistisches Ausbeuten solcher Informationsvorsprünge wird vor dem Hintergrund der im digitalen Neuland herrschenden Informationssymmetrisierung zunehmend schwieriger, wenn nicht unmöglich, da potenzielle Kunden in Sekundenschnelle auf die Erfahrungen vorheriger Kunden beziehungsweise ausgeschiedener oder aktueller Mitarbeiter zurückgreifen können. Eine Nutzenstiftung, die auf dem opportunistischen Ausbeuten von Informationsvorsprüngen basiert, wird durch die Digitalisierung also massiv gefährdet.
Eine zweite Ursache für die Erosion des Nutzens liegt im möglichen Verschwinden des durch das Unternehmen im analogen Altland gelösten Kundenproblems. Die Bedingungen des digitalen Neulandes führen also dazu, dass es dieses Kundenproblem so nicht mehr gibt.
DIGITALE FOLGEGESETZE
In diesem Zusammenhang scheinen fünf digitale Folgegesetze einschlägig: Im digitalen Neuland wird aufgrund der Informationssymmetrisierung (Folgegesetz Nr. 1) der Bedarf an Unternehmen, die Informationsasymmetrien überbrücken, deutlich abnehmen. Beispiele für eine Nutzenstiftung, die im Kern in der Reduktion von Informationsasymmetrien besteht, sind Restaurantführer, Reiseführer, Programmzeitschriften, Testmagazine und ähnliches. Die Schnittstellenzentralisierung (Folgegesetz Nr. 2) wird den Bedarf an schnittstellenüberbrückenden Vermittlern erodieren lassen. Typisches Beispiel für eine solche Funktion ist eine Taxizentrale, die letztlich nichts anderes macht als eine Schnittstelle zum Kunden (in der Regel per Telefon) und eine Schnittstelle zu den Taxifahrern (in der Regel per Funk) zu unterhalten und auf diese Weise Kunden und Taxifahrer zu verbinden. Die Emanzipation von Raum und Zeit (Folgegesetz Nr. 3) wird den Bedarf an physischer Raumüberbrückung reduzieren. Ein Prozess des analogen Altlandes, der an Gleichräumigkeit gekoppelt war, erfordert für den Fall, dass die Parteien sich nicht ohnehin am selben Ort befinden, die Mobilität zumindest einer der Parteien. Schüler und Lehrer müssen zur Schule, der Patient zur Arztpraxis und ein Arbeitnehmer an seinen Arbeitsplatz. In dem Maße, wie diese Prozesse in Folge der Digitalisierung von der Gleichräumigkeit entkoppelt werden, sinkt der entsprechende Mobilitätsbedarf. Eine Nutzenstiftung, die in der Minderung von Transaktionskosten besteht, wird im digitalen Neuland unter Druck geraten, da in diesem Biotop das Transaktionskostenniveau in der Tendenz deutlich geringer ist als im analogen Altland (Folgegesetz Nr. 4). So wird beispielsweise der Nutzen von Handelsunternehmen, die durch physische Warenbündelung Transaktionskosten senken, durch die Digitalisierung bedroht. Schließlich ist zu erwarten, dass das fünfte Folgegesetz „Neue Erkenntnisgalaxien“ bestimmte Formen der Informationsbeschaffung obsolet werden lässt. Unternehmen sind im digitalen Neuland beispielsweise sehr viel weniger auf Marktforschungsstudien angewiesen, da sie das Verhalten ihrer Kunden sehr detailliert beobachten können.
ANALOG VS. DIGITAL
Die dritte Bedrohung für ein Geschäftsmodell des analogen Altlandes resultiert aus einer digitalen Lösung des bislang analog gelösten Kundenproblems. Hierfür finden sich zahlreiche Beispiele, etwa Unterhaltungs-, Bildungs- oder Finanzdienstleistungen. Die Wettbewerbsposition des analogen und digitalen Spielers unterscheiden sich fundamental, da das Unternehmen des digitalen Neulandes unter den Bedingungen der digitalen Folgegesetze agiert. Vier von ihnen können dabei die Wettbewerbsposition massiv berühren: Grenzkostenmarginalisierung, Geschwindigkeitsexplosion, neue Erkenntnisgalaxien und Emanzipation von Raum und Zeit.
Der Akteur des digitalen Neulandes hat quasi keine Grenzkosten. Je größer der relevante Markt ist, das heißt je größer das Absatzpotenzial, desto größer wird der Kostennachteil des Spielers aus dem analogen Altland. Der Akteur des digitalen Neulandes hat gegenüber einem Unternehmen aus dem analogen Altland zudem immer Geschwindigkeitsvorteile. Je bedeutsamer die Zeitdimension im Wettbewerb ist, desto größer ist der Wettbewerbsvorteil des digitalen Unternehmens. Im digitalen Neuland werden bislang nicht bekannte Zusammenhänge identifiziert (neue Erkenntnisgalaxien), dies gilt nicht zuletzt auch für das Kundenverhalten. Je wichtiger Einsichten in das Kundenverhalten (Customer Insights) für die Nutzenstiftung sind, etwa wegen eines ausgeprägten Kundenbedürfnisses nach individuellen Problemlösungen (wie zum Beispiel im Gesundheitswesen oder bei der Partnervermittlung), desto größer wird der Wettbewerbsvorteil des digitalen Spielers. Schließlich agiert der digitale Spieler unter der Bedingung einer Emanzipation von Raum und Zeit. Je stärker im analogen Altland aus Kundensicht räumliche (zum Beispiel Standorte) oder zeitliche (zum Beispiel Öffnungszeiten) Konsumengpässe existierten, desto größer ist der Vorteil des digitalen Spielers.
Führen Sie den Digitalisierungsanfälligkeitscheck für Ihr Unternehmen durch!
Der Test kann kostenlos auf der Website www.digisch.de heruntergeladen werden.
Kontakt
Prof. Dr. Dr. Helmut Schneider (Autor)
Leiter
Steinbeis-Transfer-Institut Digitale Transformation (Berlin)