© fotolia.com/Myst

Coden ist cool

Auch Mädchen können Mathe

Wer die digitale Transformation der kommenden Jahre nicht nur bewältigen, sondern auch treiben will, sollte dort ansetzen, wo Begeisterung, Neugier und Motivation für Neues ausgeprägt werden. Und vor allem keine Stereotype bedienen, sondern die Vielfalt als Chance nutzen. Dafür setzt sich Christine Regitz ein, sie ist Vice President User Experience bei SAP und Mitglied des Steinbeis-Kuratoriums.

Es gibt höchst eigenartige Geschenke, die bei Eltern, Großeltern oder Freunden hoch im Kurs stehen und mit denen insbesondere immer wieder Mädchen beschenkt werden: Das sind T-Shirts, bevorzugt in Pink oder Rosé, mit dem Schriftzug „Mathe ist ein Arschloch“. Immer wenn ich es entdecke, lässt es mich fassungslos zurück. Und das ist eine höfliche Untertreibung. Ein solches Präsent ist unwürdig und ein Danaergeschenk dazu, in zweierlei Hinsicht. Einerseits suggeriert es, dass Mathematik lästig oder anstrengend sei, andererseits behauptet es, dass Mädchen mit Mathe sowieso weniger am Hut haben. Beides ist gefährlich. Hier muss die Frage gestellt werden: Welches Bild vermittelt der markige Spruch über die Trägerin? Und welches Bild attestiert es uns, dem Land der Dichter und Dichterinnen, der Denker und Denkerinnen? Investition in die Zukunft geht anders. So (selbst-)ironisch der Spruch vielleicht gemeint sein mag, so stereotyp-verfestigend ist seine Aussage insgesamt, die wir uns als aufgeklärte Gesellschaft weder leisten können noch leisten sollten. Das gleiche gilt übrigens auch, wenn das Wort Mathe wahlweise durch Informatik oder Technik ersetzt wäre.

Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sind weder fachlich noch intellektuell eine Spielwiese, auf der Mädchen und Frauen nichts zu suchen haben oder die allein dem männlichen Teil der Gesellschaft vorbehalten sein sollte. Mädchen und Frauen gehören hier so selbstverständlich hin, wie sie ein Smartphone in der Tasche tragen, Autos, Schiffe und Flugzeuge lenken, Europas größter Verkehrsgesellschaft vorstehen oder die Umlaufbahn für Raummissionen errechnen. Und in Zeiten digitaler Umbrüche und Quantensprünge ist es weder schick noch zielführend, Stereotype zu zementieren oder Frauen zu diskreditieren. Auch wenn Statistiker jetzt aufschreien, weil die Zahlen etwas anderes belegen und die Studierendenzahlen ein vermeintliches Desinteresse von Frauen an diesen Fächern belegen. Das beweist noch lange nicht, dass sie desinteressiert sind. Die Statistik dokumentiert lediglich, dass Frauen in diesen Fächern nicht da sind. Vielleicht sind Wege falsch, um Mädchen und Frauen für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften zu begeistern? Eventuell sind die Ziele und Methoden nicht richtig, mit denen mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer unterrichtet werden? Oder möglicherweise sind die Rahmenbedingungen nicht angemessen, damit mehr Mädchen ihre Talente für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik entdecken und ausbilden können? Daran sollte sich unbedingt etwas ändern. Denn unstrittig ist: Diese Fächer sind kein Hexenwerk, kein Geheimwissen. Beispiele und Vorbilder von Frauen, die in all diesen Bereichen und mit viel Sachverstand tätig sind, gibt es ja reichlich, wenngleich sie als Expertinnen meistens nur für fachlich Interessierte sichtbar sind. Der Allgemeinheit, den Medien und Talkshows sind sie anscheinend seltener bekannt. Wenn wir etwas ändern wollen – und das ist für eine vielgestaltige, komplexe und sich angesichts der digitalen Transformation rasant ändernde Welt unverzichtbar – dann müssen wir an den Fundamenten der Bildung rütteln. Wer die Herausforderungen der digitalen Veränderungen als Gesellschaft zukünftig bewältigen will, muss dort ansetzen, wo Wissbegier und Spieltrieb noch frei von klischeehaftem Verhalten sind. Bereits in frühen Jahren werden die Weichen für mathematische und naturwissenschaftliche Interessen gestellt – und das gilt für Jungen und Mädchen gleichermaßen. Und hier liegt zwangsläufig auch der Schlüssel für alle nachfolgenden Entscheidungen: Berufswahl, Gestaltungsmöglichkeiten und Entwicklungspotenziale sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft insgesamt.

Wie könnte ein kluger Bildungskanon aussehen, der bereits früh einsetzt? Es kann nicht darum gehen, bereits im Kindergarten IT-Nerds heranzuziehen und meint keinesfalls, die Wisch-und-weg-Technik auf dem Pad oder Smartphone zu erlernen. Aber hier spielerisch und altersgerecht Technik und Umwelt zu erkunden ist kein Fehler. Wie es Chemie- Baukästen, Lego oder Puppenwagen gibt, wären kindgerechte Grundbausteine der Digitalwelt ein erster und niedrigschwelliger Einstieg. Anspruchsvoller wird die digitale Bildung notwendigerweise bereits vom ersten Schultag an, wenngleich auch hier altersgerechte Kriterien und Curricula gelten. In Kombination mit Mathematik oder auch Physik müssen die Weichen für Kenntnisse der Informatik gelegt werden. Und dies verpflichtend für alle. Informatik oder Mathematik als Wahlfach ist keine Wahl. Denn wer später, egal ob als Bürokauffrau oder Lagerist, Chirurgin oder Verkäufer, eine Chance im Berufsleben haben soll, wird ohne digitale Bildung keinen Blumentopf gewinnen. Digitale Bildung, so sind wir in der Gesellschaft für Informatik (GI) überzeugt, muss notwendigerweise aus technologischer, kulturell-gesellschaftlicher und anwendungsbezogener Perspektive erfolgen. Das Grundwissen zu haben, wie die Technik funktioniert und was sie kann, ist ein Aspekt, der andere folglich die Anwendungsperspektive der Programme, wofür nutze ich sie, inklusive Urheberrechte und Datenschutz. Als dritte Komponente ist die ethisch-philosophische Einordnung der digitalen Technik und Anwendung erforderlich. Dafür bedarf es eines eigenständigen Lernbereichs zur grundlegenden Aneignung und Orientierung, der dann allerdings seinen Niederschlag auch fächerübergreifend finden muss.

Wer meint, Mädchen hätten andere Bildungspräferenzen und würden in digitaler Bildung abgehängt oder untergebuttert, muss umdenken. Ohne das gemeinsame Lernen insgesamt infrage zu stellen, können einzelne Fächer wie Mathe, Physik oder digitale Bildung mono-edukativ unterrichtet werden, was Mädchen die Chance gibt, frei von klischeehaften Zuschreibungen zu lernen und sich auszuprobieren. Viele Modellversuche und Studien belegen, dass Mädchen in diesen Fächern dann sogar gestärkt werden und bessere Ergebnisse erzielen. Selbstverständlich bei gleichen Curricula. Dann macht Wissen Spaß, setzt Kreativität und Potenziale frei.

Wer nicht an der Basis beginnt, also das Signal Richtung Mathematik, Informatik und digitale Bildung stellt, wird den Zug verpassen, der derzeit Fahrt aufnimmt. Der verliert den Wettlauf mit der Zeit und die Talente. Vor allem die weiblichen. Darunter sind übrigens nicht nur ITFrauen oder mathematisch gebildete zu verstehen, sondern alle in ihrer Vielfalt und an ihrem Platz, den sie anstreben. Um es unmissverständlich zu sagen: Die Digitalisierung greift in alle Berufsfelder ein, in den Alltag, in unser Leben und Denken. Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Aber daraus sollten wir konstruktive Schlüsse ziehen. Mit einer soliden Bildung und einem grundlegenden Verständnis digitaler Technik und Prozesse werden auch viele Betätigungsfelder für Frauen existieren, in denen technisch-mathematisches und digitales Verständnis, aber kein explizites Spezialwissen erwartet wird: in Gesundheits- und Sorgeberufen, in Bildung und Verwaltung, in Gastronomie und Handwerk. Agieren zu können, Prozesse zu steuern und zu hinterfragen, entspricht einem tief verwurzelten weiblichen Bedürfnis, die Dinge zu durchdringen. Warum sollten Frauen ausgerechnet im digitalen Kontext außen vor bleiben wollen? Das leuchtet nicht ein. Aber die Entwicklungen der Zeit müssen und werden sie erkennen. Wer keine Benutzeroberfläche entwickeln oder Ingenieurin werden möchte, wird sich als kommunikative Mittlerin zwischen dem Software-Entwickler und den Endanwendern entfalten können.

Mehr Selbstverständlichkeit und Normalität, weniger Stereotype in einer diversen Wissensgesellschaft und einem diversen Arbeitsumfeld. Wir brauchen diesen 360-Grad-Blickwinkel, der sich aus differierenden Problemlösungskompetenzen, Bezugssystemen, Erfahrungen und Herangehensweisen ergibt. Die Herausforderungen der digitalen Veränderungen, mit denen wir schon heute massiv und morgen erst recht zu tun haben, sind hochkomplex und nicht durch Monokulturen zu bewältigen. Auch deshalb ist es notwendig, Mädchen früh für Mathematik und Informatik zu motivieren. Deshalb wünsche ich mir für viele Mädchen ein T-Shirt, auf dem in großen Lettern steht „Coden ist cool. Ich bin dabei!“

Kontakt

Christine Regitz hat Betriebswirtschaftslehre und Physik an der Universität in Saarbrücken und der Universität Bari (Italien) studiert. Nach einer Consultant-Tätigkeit für IDS Prof. Scheer ist sie seit 1994 in verschiedenen Funktionen und Bereichen der Software- Entwicklung für SAP tätig, derzeit als Vice President User Experience. 2015 wurde sie in den SAP-Aufsichtsrat gewählt. Sie ist Mitglied des Kuratoriums der Steinbeis-Stiftung. Ehrenamtlich engagiert sich Christine Regitz in der Gesellschaft für Informatik (GI), deren Vizepräsidentin sie ist. Sie war Sprecherin der Fachgruppe „Frauen in der Informatik“ und unterstützt diverse Initiativen zur Vernetzung und Sichtbarmachung von Frauen in der IT.

Christine Regitz
Gesellschaft für Informatik e. V. (Bonn, Berlin)