Von der Qualifikation zu Mensch-Maschine-Kompetenzarchitekturen und neuronalen Interfaces
In den letzten fünf Jahrzehnten hat sich das Verständnis von beruflicher Weiterbildung grundlegend gewandelt – und mit ihm die Anforderungen an Organisationen, Führungskräfte und Lernende. Aus der klassischen Weiterbildung, die vor allem der Funktionserhaltung und Qualifikationsanpassung diente, wurde ein zentrales strategisches Instrument der Personalarbeit: die Personalentwicklung. Professor Dr. Mario Vaupel von der Steinbeis University – Schools of Next Practices GmbH fasst die wichtigsten Entwicklungsstadien zusammen und stellt die zukünftige Entwicklung vor.

Von der klassischen Weiterbildung zum Co-Learning mit KI
Bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren begannen Unternehmen, Weiterbildung als integralen Bestandteil ganzheitlicher Personalentwicklungsstrategien zu verstehen. Diese veränderte Perspektive war eng mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen verknüpft: dem Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, der damit zunehmenden Bedeutung von Wissensarbeit und einem sich beschleunigenden technologischen Wandel. Die klassische Wissensvermittlung – oft noch in Form von Seminaren und Präsenzkursen – reichte nicht mehr aus, um in der Personalentwicklung mit den neuen Anforderungen Schritt zu halten.
Schritt 1: Von der Qualifikation zur Kompetenz- und Talententwicklung
Stattdessen rückten die Entwicklung der ganzen Person und ihre kulturelle Stimmigkeit mit der Organisation stärker in den Fokus. Eine Vielzahl von Ansätzen und Tools zur Persönlichkeitsbildung, Reflexionsfähigkeit und Selbstlernkompetenz füllt seit den 1990er-Jahren die Bibliotheken der Personal- und Organisationsentwickler.
Ab den 2000er-Jahren vollzog sich eine weitere Verschiebung: Die Digitalisierung, der globale Wettbewerb um hochqualifizierte Fachkräfte und der demografische Wandel führten zur Individualisierung und strategischen Ausrichtung der Weiterbildungsangebote. Aus der breiten Personalentwicklung wurde das Talent Management – ein Ansatz, der in der Regel gezielt auf das Erkennen, Entwickeln und Binden von Schlüsselpersonen in den Organisationen ausgerichtet ist (vgl. Cappelli, 2008; Collings & Mellahi, 2009). Im Zentrum der Personalentwicklung standen jetzt spezifische Potenziale mit hoher strategischer Bedeutung. Unternehmen wie General Electric, IBM oder SAP entwickelten systematische Talentpipelines, die auf Performance- und Potenzialanalysen basierten. Dabei wurden digitale Lernplattformen zunächst eingesetzt, um neben der Talentpipeline auch eine breite Streuung von Entwicklungsthemen in den Organisationen zu erreichen.
Diese Verschiebungen in der organisationalen Bildung der 2000er-Jahre markierten teilweise den Übergang zu den Trends in der gegenwärtigen Weiterbildung – und zugleich den Ausgangspunkt für die nächsten Transformationen, nämlich die Übergänge von der Talententwicklung zur strategischen Kompetenzarchitektur und dem Co-Learning mit KI.
Schritt 2: Von der Talententwicklung zu den zukunftsfähigen Skills
Die dynamische Entwicklung der postindustriellen Wissensökonomie fordert eine neue Lernlogik: Agilität, Kreativität und Entscheidungskompetenz verdrängen starre Berufsrollen und lineare Karrieremodelle. Gleichzeitig verändert sich der Arbeitsmarkt substanziell: Routineaufgaben werden automatisiert, während die Nachfrage nach komplexen kognitiven und sozialen Fähigkeiten steigt – sogenannte „21st Century Skills“ wie kritisches Denken, Zusammenarbeit und digitale Kompetenz (World Economic Forum, 2023).
In diesem Kontext reicht ein reines Talent Management nicht mehr aus. Es braucht ein Verständnis von Weiterbildung als dynamischem Kompetenzmanagement, das permanent auf Veränderungen reagiert. Unternehmen wie Google oder Siemens sprechen längst von Capability Frameworks, die kontinuierlich aktualisiert und mit strategischen Geschäftsmodellen rückgekoppelt werden. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Frage: „Wer hat Talent?“, sondern: „Welche Fähigkeiten braucht unser Ökosystem – heute, morgen und übermorgen?“.
Diese Entwicklung verändert nicht nur die Tools, sondern auch die Haltung: Lernen wird Teil der Wertschöpfungskette. Es ist nicht mehr Mittel zur Anpassung, sondern – ganz im Sinne von Peter Drucker, dem Begründer des modernen Managements – Voraussetzung für Innovation und Zukunftsfähigkeit.
Schritt 3: Von der Kompetenzentwicklung zum Co-Learning und Co-Working mit KI
Wie andere Bereiche steht auch die Personalentwicklung vor einer tiefgreifenden Transformation durch künstliche Intelligenz (KI). Was bisher in langwierigen Trainingszyklen, standardisierten Lernpfaden und generischen Kompetenzmodellen erfolgte, wird künftig zunehmend durch datenbasierte, adaptive und kontextintelligente Systeme ersetzt. Beim wissenschaftlichen „Blick aus dem Fenster“ lassen sich Strukturen der neuen Weiterbildung erkennen.
2025 – 2028: Skill-Learning on Demand durch individuelle Lernanalytik
Die Integration von Learning Analytics, Natural Language Processing und Recommender Systems erlaubt zunehmend das Feintuning von Lernpfaden auf individueller Ebene. KI-Systeme werden in den organisatorischen Lernlandschaften zunehmend Kompetenzprofile, Nutzungsmuster und Performance-Daten von Mitarbeitenden analysieren und in Echtzeit passende Lernmodule oder Mikro-Lernimpulse – abgestimmt auf Rollenanforderungen und Unternehmensziele – vorschlagen und anbieten.
Aktuelle Studien verweisen darauf, dass Plattformen wie Degreed, EdCast oder IBM Watson Talent Frameworks bereits adaptive Lernpfade auf Basis semantischer Kompetenzanalysen entwickeln (vgl. McKinsey & Company, 2024; IBM, 2023). In der Praxis pilotieren Unternehmen wie SAP, PwC oder Siemens KI-gestützte Skills Engines, die nicht nur Empfehlungen aussprechen, sondern auch Entwicklungspotenziale prognostizieren (vgl. World Economic Forum, 2023; Siemens AG, Corporate Learning Report 2024).
Die Rolle der Personalentwicklung verlagert sich dabei von der Gestaltung von Lerninhalten hin zur Orchestrierung KI-gestützter Kompetenzökosysteme (vgl. Erpenbeck & Sauter, 2022).
2028 – 2032: Integration von KI-Coaches in den Arbeitsfluss
In der nächsten Phase werden sich intelligente Performance-Coaches verbreiten, die sich nahtlos in den digitalen Arbeitsplatz integrieren. Diese Agenten beobachten Tätigkeiten kontextsensitiv und bieten proaktive Unterstützung, Just-in-Time-Feedback und vertiefende Lernressourcen, ohne den Arbeitsfluss zu unterbrechen.
Erste Pilotprojekte mit KI-gestützten Assistenzsystemen (zum Beispiel bei Bosch, Fujitsu oder Accenture) zeigen, wie Lernunterstützung direkt in den digitalen Workflow eingebettet werden kann (vgl. Deloitte Human Capital Trends, 2024). Microsofts „Copilot“ für Office 365 oder Salesforce Einstein präsentieren erste Anwendungen dieser sogenannten embedded learning agents.
Die Personalentwicklung wird dabei zum Betreiber einer pervasiven Lerninfrastruktur, in der Lernen nicht mehr vom Arbeitsprozess getrennt ist. Die klassische Schulungslogik („train first, perform later“) wird durch eine Logik des kontinuierlichen performativen Lernens ersetzt (vgl. Ifenthaler et al., 2023).
2033 – 2040: Mensch-Maschine-Kompetenzarchitekturen und neuronale Interfaces
Ab etwa 2033 ist mit dem Einzug sogenannter Human Capability Operating Systems zu rechnen. Diese orchestrieren nicht nur individuelles Lernen, sondern verwalten aktiv den Transfer, die Kombination und ggf. das „Auslagern“ von Skills zwischen Mensch und Maschine. KI-Agenten werden nicht nur Lernprozesse begleiten, sondern aktiv Kompetenzmodelle mitentwickeln – auf Basis von Echtzeitdaten aus der gesamten Organisation (vgl. OECD AI in Education Initiative, 2024; European Commission, Human-centric AI Whitepaper, 2023).
Zugleich nehmen Entwicklungen in den Bereichen neuronaler Schnittstellen und Brain-Computer Interfaces (BCI) an Fahrt auf. Unternehmen wie Neuralink (Musk), NextMind (Snap Inc.) und Kernel (USA) arbeiten bereits an bidirektionalen Schnittstellen, die langfristig auch Lernprozesse beeinflussen werden (vgl. R. Kurzweil, 2025). „Während diese Technologien heute noch experimentell sind, könnte ab 2035 tatsächlich eine direkte ‚Installation’ beziehungsweise ‚Externalisierung’ von Skills denkbar werden – mit bisher ungekannten ethischen, sozialen und organisatorischen Implikationen“, fasst Mario Vaupel zusammen.
Kontakt
Prof. Dr. Mario Vaupel (Autor)
Geschäftsführer
Steinbeis University – Schools of Next Practices GmbH (Berlin)
www.steinbeis-next.de
Literatur
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Collings, D. G., & Mellahi, K. (2009). Strategic talent management: A review and research agenda. Human Resource Management Review, 19(4), 304–313. https://doi.org/10.1016/j.hrmr.2009.04.001
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World Economic Forum. (2023). The future of jobs report 2023. https://www.weforum.org/reports/the-future-of-jobs-report-2023/
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Davenport, T. H., & Redman, T. C. (2024). Competing on Talent Intelligence: Why Companies Need Data-Driven HR. Harvard Business Review Press.
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Deloitte. (2024). 2024 Global Human Capital Trends: The boundaryless workforce. https://www2.deloitte.com/
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Erpenbeck, J., & Sauter, W. (2022). Kompetenzmanagement mit Künstlicher Intelligenz: Ein Lehr- und Arbeitsbuch für die Personalentwicklung. Schäffer-Poeschel.
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European Commission. (2023). Ethical guidelines and policy recommendations for human-centric artificial intelligence. https://digital-strategy.ec.europa.eu/
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IBM Corporation. (2023). Watson Talent and Skills Frameworks White Paper. https://www.ibm.com/
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Ifenthaler, D., Yau, J. Y.-K., & Mah, D.-K. (Eds.). (2023). Utilizing Learning Analytics to Support Study Success: A Multidimensional Approach. Springer.
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Kurzweil, R. (2024). The Singularity Is Nearer: When We Merge with AI. Penguin Books
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McKinsey & Company. (2024). The State of AI in 2024: Generative AI’s breakout year. https://www.mckinsey.com/
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OECD. (2024). AI and the Future of Skills: Towards a Strategic Framework for AI in Education and Training. https://www.oecd.org/
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SAP SE. (2024). SAP Learning Report: Future Skills and Intelligent Learning Journeys. https://www.sap.com/
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Siemens AG. (2024). Corporate Learning & Development Report: AI in the Workplace. Internal publication.

