Mit „VIRAL” die Transformation von Unternehmen gestalten

Im Gespräch mit Professor Dr. Daniel Graewe und Andreas Renner

Seit den 1990er-Jahren versuchen Modelle wie VUCA, BANI, TUNA, RUPT, CLEAR oder VOPA Plus Unternehmen Orientierung in einer immer weniger planbaren Welt zu geben. Doch jedes Modell hat seine Grenzen: Sie analysieren komplexe, dynamische Umgebungen, bieten aber selten praktikable Lösungen für Führung und Organisation von Unternehmen. Dabei hat jedes Modell bestimmte Fokussierungen und Stärken, die es zu verbinden gilt. Vor diesem Hintergrund hat ein Team am Think Tank an der Augsburg Business School des Steinbeis-Beratungszentrums Institute for Effective Management ein Metamodell – das VIRAL-Modell – entwickelt. Worum es dabei genau geht, wie das Modell in der Praxis angewendet wird und welche Vorteile es für Unternehmen bringt, darüber hat die TRANSFER mit Professor Dr. Daniel Graewe vom WIRE Institut für angewandtes Wirtschaftsrecht und Andreas Renner vom Steinbeis-Beratungszentrum Institute for Effective Management gesprochen.

Herr Professor Graewe, Herr Renner, was ist aus Ihrer Sicht der zentrale Auslöser für den aktuellen Wandel in der Führung in und von Unternehmen? Und wie wirkt sich das konkret auf die tägliche Führungspraxis aus?

Andreas Renner: Die Ursache liegt in der fundamentalen Veränderung unserer Rahmenbedingungen. Unternehmen sehen sich heute einer nie dagewesenen Geschwindigkeit von Veränderungen gegenüber. Technologischer Fortschritt, globale Vernetzung, geopolitische Unsicherheiten und der gesellschaftliche Wertewandel führen dazu, dass klassische Führungsprinzipien nicht mehr greifen. Früher konnten Planung und Kontrolle Stabilität schaffen, vor allem in Deutschland. Heute führt dieses Denken oft in Sackgassen, weil es der neuen Dynamik nicht gerecht werden kann.

Daniel Graewe: Führungskräfte stehen zunehmend unter Druck, flexibel und schnell auf neue Situationen zu reagieren. Es reicht nicht mehr, auf einen festen Werkzeugkasten zurückzugreifen. Stattdessen müssen sie ständig reflektieren, welche Ansätze noch passen und wo Umdenken nötig ist. Das bedeutet: Verantwortung muss breiter verteilt werden. Kommunikation, Beteiligung und die Fähigkeit, mit Unsicherheiten produktiv umzugehen, sind zu zentralen Kompetenzen geworden.

Welchen Nutzen hatten die bisherigen Modelle und wo bleiben sie hinter den aktuellen Anforderungen zurück?

Daniel Graewe: Diese Modelle haben es geschafft, Unsicherheiten und Herausforderungen zu benennen und ihnen ein klares Vokabular zu geben. VUCA beispielsweise hat den Blick dafür geschärft, dass Märkte, Technologien und Gesellschaft nicht mehr stabil sind. BANI bringt die emotionale Dimension ins Spiel und macht deutlich, wie überfordernd moderne Komplexität wirken kann. TUNA, RUPT, CLEAR und VOPA Plus ergänzen diese Perspektiven jeweils mit anderen Schwerpunkten – etwa Strategie, Disruption, Kooperation oder Kultur.

Andreas Renner: Sie bieten gute Analysewerkzeuge und helfen Situationen einzuordnen. Aber sie bleiben häufig abstrakt. Führungskräfte erhalten wenig konkrete Anhaltspunkte, wie sie in der Praxis handlungsfähig bleiben. Außerdem betrachtet jedes Modell nur einen Teilaspekt der Realität. Es fehlt ein Rahmen, der systemisches Denken, emotionale Intelligenz, strategische Anschlussfähigkeit und konkrete Handlungsempfehlungen miteinander verbindet. Hinzu kommt: Führungskräfte brauchen Orientierung, um auch in schwierigen Situationen handlungsleitend zu bleiben. Es muss gelingen, sowohl die Vielschichtigkeit als auch die Notwendigkeit von Fokussierung, Resilienz und Agilität in einem Modell zu vereinen. Entscheidend ist die Integration – nicht die Fragmentierung.

Was ist das Besondere an dem von Ihnen entwickelten VIRAL-Modell?

Daniel Graewe: Angesichts der aktuellen Herausforderungen muss ein modernes Modell die relevanten Perspektiven bündeln, ohne den Bezug zur Praxis zu verlieren. Es braucht eine klare Struktur, die Führungskräften hilft, sowohl Unsicherheiten zu akzeptieren als auch Verantwortung wirksam zu verteilen. Letztlich geht es darum, Mitarbeitende zu befähigen, den Wandel aktiv mitzugestalten, statt nur zu reagieren.

VIRAL hebt sich dadurch ab, dass es keine Konkurrenz zu den bekannten Modellen darstellt, sondern als Metamodell deren stärkste Elemente integriert. Es steht für Volatilität, Intelligenz, Resilienz, Agilität und Limitation. Jede Dimension ist konkret beschrieben und mit praktischen Handlungsfeldern verbunden. VIRAL ist anschlussfähig für verschiedenste Organisationen und Branchen – weil es nicht dogmatisch, sondern adaptiv ausgelegt ist.

Wie können Führungskräfte das VIRAL-Modell im Alltag anwenden und wie profitieren Organisationen konkret davon?

Andreas Renner: Das VIRAL-Modell gibt zu jeder Dimension klare Hinweise für die Umsetzung. Führung wird nicht länger als Aufgabe eines Einzelnen verstanden, sondern als kollektive Leistung. Entscheidend ist die Übersetzung in die Praxis. Deshalb schlagen wir für jede Dimension vier konkrete Maßnahmen vor, die den Transfer erleichtern.

Dadurch gewinnen Organisationen einen klaren Orientierungsrahmen und konkrete Handlungsoptionen für komplexe Situationen. Führung wird flexibler, Teams werden eigenständiger und Organisationen widerstandsfähiger. Statt auf Perfektion zu setzen, lernen sie mit Unsicherheit produktiv umzugehen.

Welche Empfehlungen geben Sie Führungskräften für den Start mit VIRAL?

Daniel Graewe: Reflektieren Sie regelmäßig: Wie gehen wir mit Unsicherheit um? Wie nutzen wir kollektive Intelligenz? Wie fördern wir Resilienz? Wie werden wir wirklich agil? Wie bleiben wir fokussiert? Nur wer sich diesen Fragen ehrlich stellt und Maßnahmen ableitet, macht Organisationen zukunftsfähig.

Und was passiert, wenn man VIRAL nicht anwendet?

Andreas Renner: Wenn Organisationen VIRAL nicht anwenden, verharren sie in alten Denkmustern. Sie reagieren nur noch, statt aktiv zu gestalten. Das führt zu Überlastung, Entscheidungsblockaden und einem schleichenden Vertrauensverlust bei Mitarbeitenden. Das Unternehmen wird vermutlich auch so überleben – bleibt aber maßgeblich hinter seinen Möglichkeiten zurück, was Wachstum und Wertschöpfung betrifft.


Das Viral-Modell und seine Maßnahmen

  • Dimension „Volatilität“: Nicht verdrängen, sondern aktiv managen:
    1. Arbeit mit Szenarien statt starrer Prognosen – zum Beispiel durch regelmäßige Zukunftswerkstätten.
    2. Verkürzung der Planungszyklen, etwa Umstieg auf Quartals- statt Jahresziele.
    3. Aufbau von Frühwarnsystemen, um Veränderungen frühzeitig zu erkennen.
    4. Gemeinsame Reflexion: Wandel ist nicht Ausnahme, sondern neue Normalität.
  • Dimension „Intelligenz“: Wissen teilen und vernetzen:
    1. Entscheidungsräume schaffen, sodass Teams eigenverantwortlich handeln können.
    2. Lernformate und bereichsübergreifende Austauschrunden etablieren.
    3. Silo-Denken aktiv aufbrechen, etwa durch crossfunktionale Projekte.
    4. Digitale Tools zur Wissensdokumentation und -teilung nutzen.
  • Dimension „Resilienz“: Auch in Krisen handlungsfähig und lernbereit bleiben:
    1. Psychologische Sicherheit fördern, Fehler als Lernchancen begreifen.
    2. Regelmäßige Reflexionsroutinen, zum Beispiel Lessons-Learned-Meetings.
    3. Angebote zur Stärkung von Selbstführung und Achtsamkeit machen.
    4. Redundanzen einplanen, um kritische Prozesse abzusichern.
  • Dimension „Agilität“: Keine Modeerscheinung, sondern ein Organisationsprinzip:
    1. Iterative Arbeitsweisen wie Sprints und kurze Feedbackzyklen nutzen.
    2. Entscheidungswege verkürzen, Verantwortung in die Teams geben.
    3. Feedbacksysteme etablieren, die laufend Verbesserungen ermöglichen.
    4. Führungskräfte und Mitarbeitende regelmäßig in agilen Prinzipien weiterbilden.
  • Dimension „Limitation“: In Zeiten der Überforderung bewusstes Begrenzen:
    1. Einführung von Stop-doing-Listen, um Routinen zu hinterfragen.
    2. Radikale Priorisierung – beispielsweise mit der Eisenhower-Matrix.
    3. Orientierung an Vision und Werten bei Entscheidungen.
    4. Klare Grenzen und realistische Ressourceneinteilung, um Überlastung zu verhindern.

Das WIRE Institut für angewandtes Wirtschaftsrecht unter der Leitung von Professor Dr. Daniel Graewe und die Augsburg Business School unter der Leitung von Andreas Renner und Dr. Philipp Rodrian haben mit VIRAL ein Dachmodell entwickelt, das einen neuen OE-Handlungsrahmen beschreibt. Dabei sind bestehende Konzepte integrativ eingeflossen und verbinden somit das Beste alle Welten.

WIRE ist eine rechtlich selbstständige Einrichtung und als Kompetenzzentrum für rechtswissenschaftliche Forschung eng verbunden mit der HSBA Hamburg School of Business Administration. Die Steinbeis Augsburg Business School bietet Weiterbildungen und Zertifizierungen im Bereich Organisationsentwicklung an. Mit einem umfassenden Lehrangebot begleiten die Experten Fach- und Führungskräfte auf ihrem Weg zur Zertifizierung und unterstützen bei der erfolgreichen Transformation von Unternehmen.

Kontakt

Andreas Renner (Interviewpartner)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Beratungszentrum Institute for Effective Management (Augsburg)
www.steinbeis-ifem.de

Prof. Dr. Daniel Graewe (Interviewpartner)
Vorstand
WIRE Institut für angewandtes Wirtschaftsrecht e.V. (Hamburg)

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