Sich auf Veränderungen proaktiv einzulassen erfordert immer, mit Unsicherheit und Risiko umgehen zu können
Unsere Wirtschaft ist im Wandel. Aussagen wie diese werden seit einigen Jahren in der Presse, von Gewerkschaften, in Wirtschaft und Politik nahezu inflationär verwendet. Nur: Worin dieser Wandel im Konkreten besteht und welche altbewährten Muster wir tatsächlich erneuern müssen, ist nicht immer einvernehmlich definiert und von den Akteuren des öffentlichen Lebens nur unzureichend diskutiert worden. Sie operieren häufig mit Rezepten, die eigentlich seit Jahren bekannt und – schaut man genau hin – sogenannte Multi-Purpose- oder auch Patentrezepte sind, da sie als Lösung für eine Vielfalt von Problemen fungieren. bwcon research-Geschäftsführer Dr.-Ing. Jürgen Jähnert teilt im Beitrag seine Sicht auf das Wesen und die Herausforderung von Transformation.
Es besteht in der Gesellschaft weite Zustimmung, dass aktuell ein Umdenken „von Allen“ erforderlich ist. Gleichzeitig, ja nahezu im selben Atemzug, wird bei näherer Betrachtung dieser Forderung schnell klar, dass jeweils erst einmal „Andere“ mit der Umsetzung beginnen sollten. Unternehmen, aber auch Gewerkschaften stellen häufig Forderungen an die Politik, in denen der eigene Beitrag zur Transformation nur sehr selten enthalten ist. Aus systemischer Sicht ist ein einseitiges Fordern von Veränderung an einen Akteur in einem (sich noch im Gleichgewicht befindenden) System zum Scheitern verurteilt. Denn es gilt: keine Veränderung ohne Selbstveränderung!
Nun sind Veränderungsprozesse die schmerzhaftesten Prozesse in der Gesellschaft und werden zunächst immer Widerstände provozieren. Die Evolution der Menschheit zeigt aber, dass Veränderung Grundlage ihrer Weiterentwicklung ist und diejenigen, die ein zu großes Trägheitsmoment innehatten, aussortiert wurden. Transformationsprozesse zeichnen sich dadurch aus, dass das System eine schnelle Veränderung von allen Akteuren einfordert: Im Transformationsprozess ist die Kernherausforderung die Veränderungsgeschwindigkeit zu meistern.
Das System Mobilität: Von der Kutsche zum Automobil
Lassen Sie uns aus dieser Perspektive auf die Entwicklung der Automobilwirtschaft blicken. Vor 130 Jahren gestalteten Pferdekutschen Mobilität „optimal“. Dann wurde der Gesellschaft eine Alternative angeboten in Form des Automobils. Der Vergleich mit den damaligen Kutschen zeigt, dass in der ersten Phase lediglich der Antriebsstrang ersetzt wurde, der Kutschenaufbau ähnelte dem der ersten Automobile. Kutschenhersteller hatten somit ein halbes Automobil im Hof. Trotzdem ist nahezu kein Kutschenhersteller Automobilhersteller geworden.
Wenn wir das damalige System Pferdewirtschaft mit dem System Automobilwirtschaft heute vergleichen, zeigt sich, dass in zahlreichen Bereichen neue Systeme ausgebildet wurden: Kfz-Mechaniker, Tankstellen (die zu Supermärkten mutierten), Ölraffinerien, Ersatzteilindustrie, Formel-1-Rennsport, Kfz-Tuning, Fahrschulen, Verkehrsleitsysteme, Straßenbau und viele mehr. Außerdem wurde das Automobil mit Emotionen versehen. Ermöglicht wurde dieses neue System durch den Technologiewechsel. Und die „Platzhirsche“ im alten System waren keine Technologieführer mehr im neuen System. Für Unternehmen bedeutete dies, dass diejenigen, die die Veränderungsgeschwindigkeit mitgehen konnten, im Idealfall die Kraft hatten das neue System zu gestalten und die Profiteure des Technologiewandels waren. Diejenigen hingegen, die eine zu große Trägheit hatten, wurden wie üblich in der Evolution vom Veränderungsprozess aussortiert.
Nun ändern wir wieder den Antriebsstrang im Automobil: Der Motor wird ein Elektromotor mit neuen Eigenschaften und Möglichkeiten. Doch dieser neue Antriebsstrang wird im Kontext des alten Systems diskutiert und alle anderen Parameter des traditionellen Systems bleiben erhalten. Dies ist für die bestehenden Akteure der komfortabelste Weg, denn er erfordert eine minimale Veränderungsgeschwindigkeit.
Resiliente Unternehmen gestalten die Transformation aktiv mit
Eine abgeschlossene digitale Transformation der Vergangenheit beschreibt den Weg von der Schallplatte zur CD (Digitalisierung) und weiter über Napster zu Spotify (Transformation). Hier wurde eine zu Transformationsbeginn schon 30 Jahre alte Technologie (Puls-Code-Modulation) eingesetzt, um Informationen auf der analogen Schallplatte zu digitalisieren. Der Vorteil: Bei der Schallplatte musste man sich vor der Produktion entscheiden, welche Lieder auf die Platte gepresst werden sollten. Bei der CD konnte man dies noch nach Kauf der Rohlinge tun. Im Wertschöpfungsmodell hat man weiterhin „verkaufte runde Scheiben gezählt“ und hierüber Erfolg definiert. Wenige Jahre nach Einführung der CD wurde dieses System erheblich gestört: Raubkopien torpedierten das sehr auskömmliche Geschäft der Musikverlage. Napster als Online-Tauschbörse wurde als Störer wahrgenommen und letztendlich waren alle Abwehrmaßnahmen erfolglos, das System wurde hin zu Spotify transformiert. Die Kernkompetenz von Spotify liegt nicht mehr darin, Musik besser produzieren zu können, sondern die Benutzer personalisiert und individuell anzusprechen und zum Pauschalpreis Informationen bereitzustellen. Im System werden die Preise für Live-Konzerte dramatisch steigen. Die Konvergenz von Technologien (unter anderem Cloud, Bild- und Sprachcodierung, Internet und Data Analytics) führte zu einem neuen System. Die Wertschöpfung hat sich von einer Produktfokussierung auf eine personenzentrische Datenfokussierung verschoben.
Einige weitere Beispiele für Widerstände gegen einen Transformationsprozess aus Unternehmen heraus machen deutlich, welche Folgen diese Widerstände haben können:
- 1997: Kodak hält digitale Fotografie für irrelevant.
- 1999: Laut Alcatel Forschungszentrum wird man niemals über das Internet so gut telefonieren können wie über das Telefonnetz.
- 2003: McKinsey vertritt die Auffassung, dass eine Suchmaschine kein Geschäftsmodell hat, sie ist kein Asset für ein Medienunternehmen und kann veräußert werden. Bertelsmann verkauft daraufhin seine Beteiligung an AOL Europe für 16 Milliarden Euro.
- 2007: Microsoft ist der Meinung, dass das iPhone keine Chance gegen Nokia hat.
- 2010: Die deutsche Automobilindustrie hält E-Autos für irrelevant.
Bleiben wir kurz beim Beispiel Smartphone. Das Smartphone wurde in seiner Anfangszeit mit den Parametern des Mobiltelefons bewertet. Heute verwenden Benutzer dieses Gerät nur noch rudimentär für die Sprachkommunikation. Es ist zu einem zentralen Instrument für Endsystemanwendungen (Apps), zu einem Identifizierungswerkzeug und zu einem digitalen persönlichen Assistenten mutiert und hat um diesen Anwendungsbereich ein völlig neues System geschaffen. Dieser Systemwechsel stellt sich in jeder Transformation ein: Ein neues System wird geschaffen, in dem sich neue Wertschöpfungsoptionen bieten. Sie entstehen häufig an den Rändern der alten Systeme. Auf das Automobil übertragen heißt das nicht am Antriebsstrang, der eher als Gravitationszentrum des alten Systems betrachtet werden kann.
Folgt man dieser Logik, dann müssen zukünftig resiliente Unternehmen die Fähigkeit entwickelt haben, den Veränderungsprozess proaktiv zu gestalten, um im sich neu bildenden System die entstehenden Möglichkeiten aufzugreifen. Dies bedeutet auch, dass man in der Anfangszeit auf Margen, die das alte System geboten hat, verzichten muss. Außerdem benötigt das Unternehmen in der Belegschaft die Kompetenzen, um die neuen Technologien im ebenfalls neuen System inhaltlich ausgestalten zu können. Fachkräftemangel könnte diesem Prozess im Wege stehen. Eine veränderungsbereite Organisation, bei der sich die Widerstände gegen den Veränderungsprozess nicht durchsetzen, ist eine weitere Voraussetzung, die von den Unternehmen abverlangt wird.
Festhalten am Alten verhindert immer Weiterentwicklung
Die Politik muss in einem solchen Prozess mit regulatorischen Rahmenbedingungen den Systemwechsel ermöglichen, im Idealfall unterstützen. Auf keinen Fall darf er aber durch die Platzhirsche des alten Systems behindert werden. Denn eine Einflussnahme auf regulatorische Rahmenbedingungen durch die seitherigen Profiteure eines Systems ist in der Regel Bestandteil der Abwehrstrategie in Veränderungsprozessen. Politik, vor allem in Europa, neigt dazu in Transformationen, die sich wie Krisen anfühlen, nahezu ausschließlich die Profiteure des alten Systems um Rat zu fragen. Die Akteure und Gestalter des neuen Systems kommen nicht zu Wort. Neben einer Konkurrenz um Märkte entwickeln sich im Verdeckten eine Konkurrenz um Subventionen und Marktabschottungen. Werte schafft eine Wirtschaft aber nur dann, wenn sie bereit ist, die Systeme weiterzuentwickeln und somit die Zukunft zu gestalten. Joseph Schumpeter nannte diese Weiterentwicklung der Systeme „schöpferische Zerstörung“.
Akteure, die die Veränderung proaktiv gestalten wollen, müssen zwingend die Fähigkeit haben, in Unsicherheit zu navigieren und bereit sein, das Risiko einzugehen, Fehler zu machen – genau genommen ist dies seit vielen Jahrzehnten eine Beschreibung für unternehmerisches Denken und Handeln. Diese Eigenschaften könnte man beispielsweise als ein Lernziel in der Primärausbildung definieren, will man zukünftig resilientere Unternehmen und Unternehmer fördern. In Zeiten von „ruhig sitzen“ in der Schule und alles nach „Plan“ umsetzen, müssen sich Unternehmenslenker der Zukunft diese Fähigkeiten anderweitig aneignen.
Technologie ist nur Ermöglicher, der Transformationsprozess erfordert mehr
In Deutschland fokussieren wir uns beim Thema Innovation überwiegend auf Technologien, die wir dann in den alten Systemen anwenden. Systematisch neue Systeme gestalten wir weniger proaktiv, als es uns Nordamerika vorlebt. Nicht selten baut man dort Systeme mit europäischer Technologie.
Unternehmertum der Zukunft erfordert in der Phase einer Transformation, dass man die (auch seit vielen Jahren vorhandenen) Technologien in einem Konvergenzprozess ergebnisoffen betrachtet und daraus neue Mehrwerte gestaltet. Die Technologie ist also nur Ermöglicher und somit eine notwendige Voraussetzung. Hinreichend für eine Transformation ist, dass man die Veränderungsgeschwindigkeit erkennt, sie proaktiv als Chance begreift, in der Belegschaft Technologie- und Methodenwissen hat, um neue Systeme zu gestalten, und man die internen und externen Widerstände nicht unterschätzt, sondern ihnen proaktiv begegnet. Diese eher weichen Themen sind die eigentlichen Herausforderungen im Transformationsprozess. Es werden sich in Zukunft daher nur die Unternehmen durchsetzen, die von Unternehmern gelenkt werden. Unternehmer wissen: Keine Änderung ohne Selbstveränderung, kein Gewinn ohne Risiko und kein Risiko ohne Unsicherheit. Eigentlich keine neue Botschaft, in der aktuellen Zeit aber vielleicht hilfreich, wenn man sich nochmals daran erinnert.
Kontakt
Dr.-Ing. Jürgen Jähnert (Autor)
Geschäftsführer
bwcon research gGmbH (Stuttgart)
www.bwcon-research.org