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Regional gemeinsam erfolgreich: Genossenschaftliche Innovationsökosysteme

Eine Antwort auf disruptive Entwicklungen und komplexe Herausforderungen im Mittelstand

In Zeiten großer Veränderungen haben genossenschaftlich organisierte KMU die Möglichkeit, auf komplexe Herausforderungen mit kooperativen Lösungsansätzen zu reagieren, vor allem wenn dabei die Kraft und Kreativität der Gemeinschaft genutzt wird. Getreu dem Motto „Was einer alleine nicht schafft, das schaffen viele“ des Genossenschaftsvorreiters Friedrich Wilhelm Raiffeisen ist gemeinschaftliches unternehmerisches Handeln identitätsstiftend und motivierend, woraus wiederum eine sich selbst verstärkende Eigendynamik entstehen kann. Wie Mittelstand, Politik und Gesellschaft davon profitieren, stellen Steinbeis-Unternehmer Professor Dr. Tobias Popovic und Wirtschaftsexperte Professor Dr. Thomas Baumgärtler in diesem Beitrag dar.

Nach einem Jahrzehnt anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch steigender Staatsverschuldung stehen Bund, Länder und Gemeinden sowie Unternehmen vor neuen, komplexen Herausforderungen. Dabei waren diese für viele Regionen sowie KMU in Deutschland schon vor der Corona-Pandemie vielschichtig und mit großen Anstrengungen verbunden. Ein schwaches oder sogar rückläufiges Wirtschaftswachstum, hohe Inflationsraten, geopolitische Risiken, Fachkräftemangel, Energiewende sowie zunehmende staatliche Regulierungen prägen das aktuelle unternehmerische Umfeld. Hinzu kommen bereits bekannte Umwälzungen im Marktumfeld des Mittelstands, wie die zunehmende Konkurrenz durch neue Geschäftsmodelle und Wettbewerber infolge disruptiver Technologien. Gleichzeitig fordern Kunden und Lieferanten zunehmend mehr Nachhaltigkeit bei Produkten oder Produktionsprozessen. Auf Seiten der Beschäftigten besteht der Wunsch nach flexibleren Arbeitszeiten und -formen. Auf lokaler beziehungsweise regionaler Ebene zeigen sich zumeist ungünstige Entwicklungen wie Alterung der Bevölkerung, angespannte öffentliche Finanzlage, Verödung von Ortskernen oder zunehmende Urbanisierung.

Krisen bergen Risiken – und Chancen

Unternehmen und Regionen stehen vor schwierigen Umfeldbedingungen und es ist davon auszugehen, dass beide mittel- bis langfristig mit strukturellen Veränderungen und finanziellen Einschnitten rechnen müssen. Möglicherweise gehen Krisensituationen aber auch mit einem generellen Umdenken in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einher. So rücken die Menschen in Krisensituationen in der Regel enger zusammen, legen mehr Wert auf Gemeinsinn und betonen den Zusammenhalt. Dies kann sich in Zukunft auch auf die Formen der Zusammenarbeit auswirken. Darüber hinaus hat die zeitweise Knappheit von Gütern des täglichen Bedarfs in Pandemiezeiten die Abhängigkeiten von internationalen Konzernen und weltweit vernetzten Wertschöpfungs- und Lieferketten in einer globalisierten Welt deutlich gemacht. Hinzu kommen regionale beziehungsweise lokale Standortfaktoren, die durch unzureichende Infrastruktur (Straße, Schiene, Internet), hohe Energiekosten oder steuerliche Belastungen insbesondere im ländlichen Raum zunehmend an Attraktivität verlieren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass angesichts dieser teilweise disruptiven Entwicklungen der Ruf nach einer stärkeren regionalen, kooperativen und nachhaltigen Wertschöpfung laut wird. Vor diesem Hintergrund stellen sich für Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik viele Fragen:

  • Wie kann eine innovative, kreative und agile Unternehmens- und zugleich Regionalentwicklung geschaffen werden?
  • Wie kann Wertschöpfung dauerhaft in einem regionalen Wirtschaftskreislauf etabliert werden?
  • Wie kann eine nachhaltige Produktion auf regionaler Ebene realisiert werden?
  • Wie kann das etablierte Geschäftsmodell vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung zukunftsfähig weiterentwickelt werden?
  • Wie kann die für viele mittel­ständische Unternehmen immer drängendere Nachfolgefrage gelöst werden?
  • Erfordert das bestehende Modell gegebenenfalls sogar eine grund­legende Neuausrichtung?
  • Wie können regionale Netzwerke und Kooperationsansätze aufgebaut und für eine effektive Zusammen­arbeit von Unternehmen auf lokaler Ebene genutzt werden?

Aus der Vergangenheit lernen – Zukunft gestalten

Bei der Suche nach zukunftsfähigen Lösungsansätzen im regionalen Kontext führt kein Weg an der genossenschaftlichen Unternehmensform vorbei: Sie stellt den Menschen und die Innovationsfähigkeit der Gemeinschaft in den Mittelpunkt und kann in Krisenzeiten Sinn und Orientierung bieten. Das Genossenschaftsmodell kann so zum Kompass für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden. Tiefgreifende Veränderungen sind historisch meist mit disruptiven Entwicklungen verbunden. Daraus lassen sich aber auch wirtschaftliche und soziale Innovationen ableiten. Bereits zu Zeiten der genossenschaftlichen Gründerväter Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch Mitte des 19. Jahrhunderts gab es einschneidende ökologische, soziale und ökonomische Herausforderungen, die insbesondere für arme Bevölkerungsschichten existenzbedrohend waren. Für den Namensgeber der heutigen Volksbanken-Raiffeisenbanken war dies der Anlass, mit dem genossenschaftlichen Modell und seinen Prinzipien auf regionaler Ebene einen neuen Weg zu beschreiten: Auf ein Bündel komplexer Herausforderungen reagierte er mit einer sozialen Innovation und erzeugte damit einen positiven Impact.

Hilfe zur unternehmerischen Selbsthilfe

Genossenschaften bieten allen gesellschaftlichen Gruppen Ansätze für Hilfe zur unternehmerischen Selbsthilfe, im Sinne einer Selbstwirksamkeit. So können alte und neue Handlungsfelder erschlossen werden, die von staatlicher Seite nicht oder nur noch unzureichend verfolgt werden. Anders als zu Raiffeisens Zeiten werden heute Bedarfe durch gemeinsame, von den Mitgliedern getragene Projekte, zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Mobilität oder Energie, gedeckt. Aus der Mobilisierung und aktiven Beteiligung der Bürgerschaft ergeben sich vielfältige Innovationspotenziale. Betroffene werden zu Beteiligten oder sogar Mitunternehmern. Es sind vor allem zwei Kernkompetenzen, die das Innovationspotenzial des Genossenschaftsmodells ausmachen: Zum einen die Fähigkeit, das Kreativitätspotenzial der Mitglieder zu nutzen und angesichts des stetigen Wandels von Gesellschaft, Markt und Umwelt zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln. Zum anderen entsteht durch die sogenannte „Hub-Kompetenz“ eine Plattform, um regionale Netzwerke zu bilden. Um Problemlösungen entwickeln zu können, ist es notwendig unterschiedliche Interessengruppen („Stakeholder“) zusammenzuführen und themenspezifisch zu koordinieren. Ziel dieses Netzwerkes ist es, nicht nur tragfähige Lösungen zu entwickeln, sondern diese auch gemeinsam umzusetzen. Genossenschaften haben seit fast zwei Jahrhunderten eindrucksvoll bewiesen, dass ihnen genau dies auf regionaler Ebene unter schwierigen Umfeld- und Rahmenbedingungen immer wieder gelingt. Gerade auch KMU können von kooperativen Zusammenschlüssen auf Basis genossenschaftlicher Prinzipien (Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung) nachhaltig profitieren und sich zu dynamischen Innovationsökosystemen entwickeln.

Mittelstands-Hubs als Basis für Innovationsökosysteme

Im Kontext regionaler Innovationsökosysteme bieten sich für Genossenschaften trotz – oder gerade wegen – der beschriebenen vielfältigen Herausforderungen große Chancen: Mit ihrer Netzwerkkompetenz und den neuen digitalen Möglichkeiten bringen sie lokale Stakeholder, wie Kunden, öffentliche Verwaltungen, Forschungseinrichtungen oder Genossenschaftsmitglieder, über digitale Plattformen zusammen. Da der Zweck einer Genossenschaft die unmittelbare Förderung der Mitglieder ist (§ 1 Genossenschaftsgesetz), werden Entscheidungen immer im Interesse und zum Nutzen der beteiligten Unternehmen getroffen. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Unternehmensnachfolge im Mittelstand. Das Institut für Mittelstandsforschung prognostiziert, dass bis 2026 rund 200.000 mittelständische Unternehmen einer Nachfolgeregelung bedürfen. Gerade in Fällen, wo sich keine Lösung im Familien- oder Eigentümerkreis abzeichnet, kann eine Weiterführung in Form einer Genossenschaft, an der sich auch die Mitarbeiter beteiligen können, eine interessante, aber bisher vernachlässigte Option sein. Gerade für KMU bietet das gegenüber kapitalmarktorientierten Alternativen (wie Private Equity oder Börsengang) eine ganze Reihe von Vorteilen. Genossenschaftlich organisierte, mittelständische Unternehmen können als Netzwerkknoten fungieren: Sie verfügen in der Regel über langjährige Beziehungen zu regionalen Kundengruppen, kennen die Bedürfnisse, Interessen und Kompetenzen ihrer Kunden, sind traditionell stark in der Region verwurzelt und haben in der Regel auch eine hohe Akzeptanz in Politik und Gesellschaft. Auf Basis eines solchen Mittelstands-Hubs, der auch genossenschaftlich organisiert sein kann, kann ein lokales Innovationsökosystem initiiert werden. Als methodische Grundlage dient das Forschungsdesign des transdisziplinären Reallabors. Dieses sogenannte Living Lab zielt darauf ab, real umsetzbare Lösungen für Herausforderungen im regionalen Kontext und im Unternehmensumfeld zu entwickeln. Hochschulen, die bereits über Erfahrungen mit diesem Format verfügen, können als Know-how-Träger und Partner zum Aufbau eines Innovationsökosystems beitragen. Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen können so in das Konzept einfließen. Aus einem kreativen Miteinander der beteiligten Anspruchsgruppen entstehen im Idealfall neue Produkte und Dienstleistungen, neue Businessmodelle, Unternehmensgründungen, neue zukunftsfähige Arbeitsplätze und andere Innovationsleistungen.

Erfolgsfaktoren regionaler Innovationsökosysteme

Um ein Innovationsökosystem erfolgreich zu etablieren und langfristigen Nutzen für die Region und die Unternehmen zu generieren, sind folgende Aspekte von besonderer Bedeutung:

  • Konzeption eines ganzheitlichen Systems für sein spezifisches lokales, regionales Umfeld (relevante „Elemente des Ökosystems“)
  • Anpassung des regulatorischen Umfelds an die Bedürfnisse der Bürger und der relevanten Akteure beziehungsweise Stakeholder
  • Abbau bürokratischer Hürden und Förderung von Partizipation
  • Gewinnung von Investoren, beispielsweise unterstützt durch steuerliche Vergünstigungen und/oder staatliche Förderung
  • Enge Kooperation und Vernetzung der Akteure beziehungsweise Stakeholder untereinander (unter Einbeziehung wissenschaft­licher Partner)
  • Aufbau einer Innovations-, Gründer- und Risikokultur, Förderung von Fehlertoleranz und offener, lebendiger Kommunikation
  • Frühzeitige Kommunikation von Erfolgen, um weitere, bisher nicht beteiligte Akteure zu gewinnen

Ein erfolgreiches Beispiel ist die Region Vancouver, die sich zu einem der weltweit führenden Innovationsökosysteme entwickelt hat. Dort werden in unterschiedlichen Bereichen erfolgreiche Innovationen kooperativ entwickelt und umgesetzt, stets unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit. Die „Sustainable Economy“ ist in Vancouver zum Motor des Wirtschaftswachstums geworden. Die Transformation hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft und Gesellschaft und der damit verbundene Strukturwandel ging mit der Schaffung tausender Arbeitsplätze einher. Neben lokalen Stakeholdern sind auch Genossenschaften aus dem Mittelstand als aktive Partner in die dortigen Innovationsprozesse eingebunden. Diese Entwicklungen können für verschiedene Regionen in Deutschland wegweisend sein.


Die genossenschaftliche Rechtsform

Die eingetragene Genossenschaft ist eine Rechtsform für Unternehmen, die sich gerade für Kooperationen zwischen Mittelständlern eignet. KMU aller Branchen und Bereiche kooperieren in Genossenschaften, um beispielsweise gemeinsam günstige Einkaufskonditionen zu erzielen oder Kosten zu teilen. Genossenschaften ermöglichen den Transfer von Know-how, organisieren einen gemeinsamen Marktauftritt oder etablieren ein gemeinsames Qualitätssiegel. Für mittelständische Unternehmen ist die Genossenschaft besonders empfehlenswert, da in der Gemeinschaft Größenvorteile genutzt werden können, ohne die eigene Unabhängigkeit und Flexibilität aufgeben zu müssen. Durch die basisdemokratische Unternehmensverfassung beziehungsweise Governance ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe gewährleistet.

Kontakt

Prof. Dr. Tobias Popovic (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Sustainable Finance und Management (Stuttgart)

Hochschule für Technik Stuttgart
Studienbereich Wirtschaft

Prof. Dr. Thomas Baumgärtler (Autor)
Prodekan Fakultät Wirtschaft
Hochschule Offenburg (Gengenbach)

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