Herauszufinden, wie sich aus dem rein technologischen Wandel auch ein relevanter Nutzen für Gesellschaft und Wirtschaft ergeben kann, ist die Mission der Ferdinand-Steinbeis-Gesellschaft der Steinbeis-Stiftung.
Ferdinand von Steinbeis plädierte schon Mitte des 19. Jahrhunderts für eine duale Qualifizierung von Industriearbeitern. Denn in der Industrie sah er das in seinen Worten „mit der Wissenschaft vermählte Handwerk“. In der Verbindung von Wissenschaft und Praxis, damals die Basis der Industrialisierung, lag für ihn das Ausbildungsziel der Zukunft. Damit begründete er die gewerbliche Ausbildung in Württemberg. Während Ferdinand von Steinbeis auf Basis von Technologien vorrangig an einer Annäherung der Industrie hin zur Technikwissenschaft und umgekehrt arbeitete, diskutieren wir rund 150 Jahre später sowohl eine veränderte Ausrichtung der gesellschaftlichen Offenheit für neue Technologien als auch insbesondere der die Technikwissenschaften im Laufe der Zeit immer stärker begleitenden wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsaktivitäten. Prof. Dr. Heiner Lasi und Prof. Dr.-Ing. Norbert Höptner entwickeln am Ferdinand-Steinbeis-Institut der Ferdinand-Steinbeis-Gesellschaft Ansätze, um diese Veränderungen in Wissenschaft und Gesellschaft voranzutreiben.
Ein von Ferdinand von Steinbeis geprägtes Wissenschaftsverständnis
Obwohl Forschungsleistungen für die Reputation ganzer Institutionen und Berufsperspektiven einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entscheidend an Bedeutung gewonnen haben, wird die Qualität der Forschungsaktivitäten meist ausschließlich nach rein wissenschaftlichen Kriterien bewertet und nicht in gleicher Weise nach deren gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Nutzen. Diese einseitige Fokussierung hat zunehmend zu einer Entkopplung der zu erforschenden realen Phänomene und der praktizierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geführt.
Vor diesem Hintergrund und unter Einbezug des Erbes von Ferdinand von Steinbeis scheint es dringend geboten, das Ideal „dualer wissenschaftlicher Forschung“ (DWF) als „Vermählung“ von Wissenschaft und Praxis neu zu entdecken: Der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt, der auch den Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft einfordert, ist damit Garant für eine fortschrittsorientierte Zukunft und wird so zu unserem Vermächtnis.
In der praktischen Umsetzung der dualen wissenschaftlichen Forschung kann dies über ein zwei-polares Zielsystem erreicht werden:
- Gute wissenschaftliche Forschung bringt hochkarätige Publikationen in internationalen wissenschaftlichen Organen hervor – daran müssen sich auch die DWF sowie die Wissenschaftlerin und der Wissenschaftler ohne Abstriche messen lassen, ein hoher Publikationsscore ist erstrebenswert.
- DWF hat einen „Real World Impact“ (RWI) [1] der sich direkt anhand eines Indikators messen lässt. Dieser Anspruch erhöht zum einen die gesellschaftliche Akzeptanz und dient zum anderen der Selbststeuerung von Forschenden. Wissenschaft, deren Erkenntnisse nachvollziehbaren Nutzen stiftet, erweist sich für alle Beteiligten auch als sinnstiftend. Dies erleichtert nicht nur die Finanzierung von Forschungsvorhaben, sondern ist aktuell ein wichtiger Attraktor für hervorragende Forscherinnen und Forscher.
„Steinbeis-Forschung“ zeichnet sich also dadurch aus, dass sämtliche Vorhaben dezidiert sowohl den Erkenntnisfortschritt für die Wissenschaft als auch den Nutzen für die Praxis dokumentieren können. Dies war und ist unter anderem der Anspruch an jede Dissertation, die an der Steinbeis Hochschule durchgeführt wird.
Aus der bisher gemachten Erfahrung stellt der RWI-Indikator in Verbindung mit dem Publikationsscore eine gute Möglichkeit der Selbstreflektion und Steuerung dar. Institutionen wie Forschende sind damit in der Lage, selbstkritisch Forschungsvorhaben zu bewerten und den Ressourcen- und Zeiteinsatz zu allokieren. In Bezug auf die Publikationsfähigkeit von Erkenntnissen der DWF ist die Erfahrung, dass wegen der Verortung der Forschung im „echten Leben“ unter der Voraussetzung des Einhaltens hoher methodischer Ansprüche und soliden wissenschaftlichen Arbeitens die Publikationsfähigkeit steigt. „Real Cases“ – so die Erfahrung – überzeugen eben auch wissenschaftliche Gutachter.
Gesellschaftliche Offenheit für technologische und industrielle Errungenschaften
In dem von Ferdinand von Steinbeis postulierten Ansatz der Vermählung von Handwerk (Praxis) mit Wissenschaft ist neben dem Wissenschaftsverständnis auch eine gesellschaftliche Offenheit adressiert:
- Was Handwerk tut und welche Werkzeuge Verwendung finden, ist für die Gesellschaft nachvollziehbar.
- Der Nutzen der durch das Handwerk erbrachten Leistungen stellt keinen Grund zur Sorge oder Anlass zur Skepsis, sondern einen erwünschten Fortschritt dar.
Verwunderlich mag daher sein, dass industrielle Prozesse und Erzeugnisse (Hardware, Software und Dienstleistungen) zumindest in Teilen der Gesellschaft heute auf große Skepsis bis hin zur Ablehnung stoßen. Haben wir hier den Grundsatz von Ferdinand von Steinbeis verlassen, dass Prozesse und Ergebnisse „einfach verständlich“ und im Nutzen „relevant“ wie das Handwerk zu sein haben?
Eine schnelle Erwiderung mit dem Argument, dass die Welt seit den Zeiten Ferdinand von Steinbeis‘ schneller, komplizierter und in Teilen komplexer geworden ist, mag als Erklärung zunächst einleuchten. Vielleicht sollte aber auf Basis unseres Erbes die Herausforderung angenommen werden, vermehrt die Gesellschaft in den Blick zu nehmen und industrielle Errungenschaften in nachvollziehbare Komponenten des „Handwerks“ und der „Wissenschaft“ zu zerlegen und zu erläutern.
Der Frage, wie eine solche Dekomposition und breite gesellschaftliche Diskussion erfolgen kann, hat sich der Interaktivrat (IAR) [2] des Ferdinand-Steinbeis-Instituts (FSTI) gewidmet. Dabei ist ein Werte-Kreislauf-Modell [3] entstanden, das aus vier Phasen besteht. Als Bindeglied zwischen einem neutralen Verständnis und der individuellen Bewertung – also der gesellschaftlichen Akzeptanz – nehmen dabei Werte eine zentrale Rolle ein.
Das Werte-Kreislauf-Modell legt uns nahe, neue Technologien als vertrauensbildende Maßnahme so früh wie möglich in wertschätzender Weise mit den Menschen in Berührung zu bringen – wertschätzend sowohl im Hinblick auf das jeweilige Lebensalter als auch mit Blick auf die Entwicklungsreife. Letztlich wird so ein Bildungs- und Forschungsmodell beschrieben, bei dem permanent mit Neugierde und Freude Neues erforscht und gelernt wird und zum anderen die Integrität aller beteiligten Partner gewährleistet ist.
Hier liegt der eigentliche revolutionäre Gedanke: Wir ziehen alle gemeinsam an demselben Strang, nämlich uns bestmöglich zu informieren. Das bedeutet Mühe. Denn dann reicht es nicht aus, sich zu einem Thema das eine oder andere kurze Social-Media-Statement anzusehen. Damit fordern wir nicht die Abschaffung der Social-Media-Kanäle, sondern im Gegenteil eine verantwortungsvolle Nutzung der Vielfalt an darin enthaltenen Informationen. Die Menschheit hatte noch nie einen so einfachen Zugang zu Informationen wie heute. Aber wir müssen ein intrinsisches Bedürfnis nach mehreren und unterschiedlichen Quellen entwickeln, um so aus Information gefestigtes Wissen werden zu lassen – also Bildung.
Hier ist in den vergangenen Jahren eine Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis sowie der Gesellschaft entstanden, die es als Herausforderung für die Zukunft zu schließen gilt. Neben dem Anliegen, Wissenschaft und Praxis enger zu verzahnen, gehört daher zu einem modernen Verständnis der Gedanken von Ferdinand von Steinbeis die Ergänzung um den Aspekt des werteorientierten gesellschaftlichen Diskurses.
Ferdinand von Steinbeis hat der Gesellschaft Wege aufgezeigt, wie auf interessante Weise neue industrielle Prozesse und Produkte kennengelernt und erlebt werden können. Dies war seine Vorgehensweise, um den Technologietransfer als Wirtschaftsförderung einzusetzen.
Heute hilft der Steinbeis-Verbund ganz im Sinne des Ferdinand-von-Steinbeis-Erbes dem modernen Menschen, sich im Technologie-Universum zurechtzufinden und unterstützt so nachhaltig die notwendigen Transformationsprozesse. Das fördert also wiederum die Wirtschaft, ergänzt um die gesellschaftliche Ebene und trägt damit zu einer Stärkung der demokratischen Lebensweise bei. Als Team am Ferdinand-Steinbeis-Institut wirken wir hier an vorderster Front mit.
Weiterführende Informationen
[1] Zur belastbaren Messung und Dokumentation wurde von der Arbeitsgruppe Forschung der Steinbeis Hochschule ein Real World Impact (RWI)-Indikator entwickelt. Mittels des RWI-Indikators kann die Forschungsleistung in den Dimensionen „originärer wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt“ und „Lösungsbeitrag zu einem „echten“ wirtschaftlich, technisch oder gesellschaftlich geprägten Problem (Transferbeitrag)“ gemessen und gesteuert werden.
[2] Der Interaktivrat des FSTI ist ein interdisziplinärer Kreis von Persönlichkeiten, die auf Basis neu aufkommender Technologien den gesellschaftlichen Diskurs des Instituts begleiten.
[3] Ausführliche Informationen zum Werte-Kreislauf-Modell finden sich im Steinbeis Transfer-Magazin Ausgabe 02/2023
Dualität als Pulsschlag: Das Ferdinand-Steinbeis-Institut
Die Herausforderungen der Digitalisierung sind die Treiber für die Forschungsaktivitäten des Ferdinand-Steinbeis-Instituts (FSTI) der Ferdinand-Steinbeis-Gesellschaft für transferorientierte Forschung der Steinbeis-Stiftung. Das Team verbindet wissenschaftliche Kompetenz mit der nutzenorientierten Umsetzung seiner Erkenntnisse. Es stellt bisherige Denkstrukturen der Wissenschaft in Frage, um die Problemstellungen der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu lösen.
Als interdisziplinärer Hub führt das FSTI transferorientierte Forschung durch und ist zudem An-Institut der Steinbeis-Hochschule. Seit 2019 ist das FSTI-Team neben dem Standort in Stuttgart-Hohenheim auch auf dem Bildungscampus in Heilbronn aktiv. Dort wird die Arbeit des FSTI von der Dieter Schwarz Stiftung unterstützt.
Im Mittelpunkt aller Projekte des FSTI steht eine duale wissenschaftliche Forschung, nach der wissenschaftlicher Anspruch Hand in Hand mit gesellschaftlicher und somit auch wirtschaftlicher Wirksamkeit einhergeht. Dabei arbeitet das FSTI gemeinsam mit vielfältigen Partnern an disziplinenübergreifenden kooperativen Forschungsvorhaben. Das FSTI ist Träger des Deutschen Regionalteams des Industrial Internet Consortium (IIC).
Autoren
Prof. Dr. Heiner Lasi
Akademischer Leiter und Geschäftsführer der Ferdinand-Steinbeis-Gesellschaft für transferorientierte Forschung gGmbH der Steinbeis-Stiftung (FSG)
Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Norbert Höptner
Senior Research Fellow am Ferdinand-Steinbeis-Institut, bis 2017 Leiter des Steinbeis Europa Zentrums und Europabeauftragter der Wirtschaftsministerin von Baden-Württemberg