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Von der Business Intelligence zur Business Competence

Steinbeis-Experten entwickeln eine KI-basierte Assistenzlösung mit, um Kompetenzbedarfe besser zu managen

Die aktuellen Anforderungen an Unternehmen sind komplex: Die sich stetig verändernden Rahmenbedingungen erfordern, dass sie ihre Geschäftsmodelle hinterfragen und nicht selten neugestalten. Das macht auch die Weiterentwicklung der von Unternehmen benötigten Kompetenzen unerlässlich. Aber wie kann dieser Prozess erfolgreich gestaltet werden? Mit dieser Frage hat sich das Experten-Team vom Steinbeis-Innovationszentrum Innovation Engineering und von Denzinger Gestaltung beschäftigt und das KI-basierte Assistenz- und Empfehlungssystem XPRT zur Auswahl individueller Lerninhalte entwickelt.

XPRT-Demonstrator: Lernempfehlung mit Erklärung

 

Die Herausforderungen für Unternehmen, gerade für den Mittelstand, sind immens: Krieg in Europa, komplexe Beziehungen zu China, Lieferkettensorgfaltspflicht, Nachhaltigkeit, ESG und Klimaneutralität und zudem noch neue technologische Paradigmen wie KI und additive Fertigung. Oft müssen die eigenen Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsprozesse komplett neu gedacht werden. Hinzu kommen der Fachkräftemangel und der anstehende Generationswechsel in der Belegschaft. Oft wissen Unternehmen nicht, wie sie sich für die Zukunft aufstellen müssen und was ihre neuen Kernkompetenzen sein sollten. Diese Entwicklung hat eine für den Standort Deutschland alarmierende Folge: Zahlreiche Mittelständler scheuen den steinigen Weg der notwendigen Transformation und denken ans Aufhören.

Kompetenzen besser organisieren und so die Handlungsfähigkeit sichern

Der allseits beklagte Fachkräfte- beziehungsweise Kompetenzmangel steht – neben wirtschaftlichen und persönlichen Kriterien – immer auch im Zusammenhang mit der Unternehmenskultur und der subjektiven Zufriedenheit der einzelnen Mitarbeiter mit der jeweiligen Rolle und Position. Und diese Zufriedenheit hängt unter anderem auch von einer möglichen Über- und Unterforderung ab. Kurz: Die Menschen gehen, wenn sie sich nicht wohl fühlen. Sie kommen und sie bleiben vor allem, wenn sie zufrieden sind.

Nur selten werden diese Themen im Zusammenhang gesehen: In vielen KMU ist die strategische Ausrichtung, die die Zukunftsfähigkeit und benötigten Kompetenzen definiert, von der Frage der Fortbildung und damit des Aufbaus von Kompetenzen entkoppelt, Human Resources und Corporate Learning werden nur selten als taktische Instrumente der Neuaufstellung des Unternehmens verstanden. Aber die Ressource Mensch muss unter dem Vorzeichen der Zukunftssicherheit genauso professionell organisiert werden wie Technologie und Finanzen.

Dieses Problem spiegelt sich in der Erhebung und Nutzung der Daten: Die Business Intelligence bezieht sich meist auf die Erfassung und Vernetzung von Maschinen, Prozessen, Produkten. Die eigene Workforce und damit die Kompetenzen des Unternehmens bleiben in aller Regel außen vor, vom Thema der Weiterbildung und dem Wert der Maßnahmen für die Praxis des Unternehmens ganz zu schweigen.

Erst ein integrierendes und systematisches Kompetenzmanagement, das die zukünftigen Bedarfe erfasst sowie die strategischen Anforderungen und taktischen Maßnahmen konzertiert – die Business Competence – verspricht eine Lösung, indem sie die Bedarfe der Unternehmen wie der Mitarbeiter gleichermaßen berücksichtigt und in Einklang bringt. Dabei zeigen sich zwei gegenläufige Wirkrichtungen:

  • Top-down:
    Der Kompetenzbedarf des Unternehmens wird vom Management vorgegeben und leitet sich aus Strategie und Unternehmensvision ab. Er ist kontextabhängig und für die Unternehmen unterschiedlich: Produktmanagement im Medizintechnik-Start-up erfordert andere Kompetenzen als Produktmanagement beim mittelständischen Automobilzulieferer, das Technologiefeld KI wird im Medizintechnik-Start-up andere Ausprägungen bekommen als beim mittelständischen Automobilzulieferer.
  • Bottom-up:
    Ein individuelles Kompetenzprofil der einzelnen Mitarbeiter sowie ganzer Teams setzt sich unter anderem zusammen aus Berufserfahrung, Ausbildung, Interessen und Persönlichkeitsmerkmalen. Das ermöglicht den Abgleich mit den Bedarfen des Unternehmens, um zu zeigen, wo bereits bestehende Kompetenzen liegen sowie wo Bedarf für Fortbildung und/oder die Kompetenzen neu einzustellender Kräfte bestehen.

Unternehmensziele mit richtigen Kompetenzen verbinden

In dem von der Adolf-Leuze-Stiftung geförderten Projekt „Learn4U“ hat das Team des Steinbeis-Innovationszentrums Innovation Engineering ein Vorgehensmodell sowie ein KI-basiertes Recommender-System entwickelt, das KMU dabei hilft, das Unternehmen und die Mitarbeiter besser für die Anforderungen der Zukunft aufzustellen und zugleich Orientierung im Dschungel der Weiterbildungsthemen bietet. Hier zeigte sich schnell, dass insbesondere im Bereich der Anforderungen großer Handlungsbedarf besteht und bei unklaren Vorgaben kaum zufriedenstellende Fortbildungsangebote erwartet werden können. Zahlreiche Learntec-Start-ups setzen heute vorwiegend am Matchmaking an, vernachlässigen dabei aber häufig die für die unternehmerische Praxis entscheidenden kontextspezifischen Anforderungen zu berücksichtigen.

Das Projektteam des Steinbeis-Innovationszentrums und von Denzinger Gestaltung setzt dagegen auf die Kopplung von strategischen Zielen der Organisation mit der dazu korrespondierenden Kompetenzentwicklung der Human Resources analog zum V-Modell beziehungsweise V-Modell XT des Systems Engineerings. Der von ihnen entwickelte Ansatz zur kundenindividuellen Identifikation der Kompetenzbedarfe des Unternehmens soll die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens sichern und nutzt verschiedene Methoden des Requirements Engineerings, des Human-Centered Designs sowie des Systems Engineerings, um die Ambiguität des wirtschaftlichen Umfelds, die volatilen Kundenbedarfe und die eigene Unternehmenskultur besser erfassen und integrieren zu können.

Bei den Mitarbeitern werden fachliches Wissen („skills“) und die für viele Rollen zentralen „Soft Skills“ beziehungsweise Persönlichkeitsmerkmale („abilities“) erfasst. Zudem werden Markt- und Brancheninformationen mit einbezogen, um den individuellen Bedarf mit dem Umfeld abzugleichen. Auf diese Weise kann ein präzises Bild für die benötigten Lernbedarfe entwickelt werden: Welche Kompetenzen benötige ich künftig ganz konkret in meinem Unternehmen und welche nicht? Und wer muss dafür was lernen? Diese Anforderungen werden im zweiten Schritt mit den Angeboten abgeglichen und können dann auch zukünftig zur Erfolgskontrol­le genutzt werden.

Das im Projekt entwickelte Vorgehensmodell besteht aus den folgenden Modulen:

  • Gap-Analysen: Formalisierte Erfassung und Bewertung von (unternehmens- und projektbezogenen) Kompetenz­bedarfen und (mitarbeiterspezifischen) Kompetenzangeboten
  • Kompetenzentwicklungspläne: Formalisierte Erfassung und Bewertung passgenauer Lerninhalte und -formate für interne und externe Lerninhalte
  • Personalisierte Upskilling- und Lernprozesse: Formalisierte Gestaltung von einzel- und gruppenspezifischen Schulungsplänen beziehungsweise Lernpfaden mit Assistenz- und Controlling-Funktion

XPRT: strukturiert, transparent, effizient

Schon früh im Projekt war klar, dass ein intelligentes KI-basiertes Assistenz- und Empfehlungssystem den Prozess unterstützen soll. Dieses verspricht vielfältige Vorteile: Effizienz in der Aufbereitung und Benutzung, Hilfe bei der Erfassung und Eingabe, Strukturierung der Ergebnisse, Reproduzierbarkeit des Ansatzes und Verbesserung der Ergebnisqualität durch Skalierung (erhöhte Datengrundlage).

Das in der Folge gemeinsam mit dem Institut für Business Analytics der Universität Ulm iterativ entwickelte Recommender-System XPRT gibt Hilfestellung auf verschiedenen Ebenen und zeichnet sich durch folgende beispielhafte Merkmale aus:

  1. Eingabe der Stammdaten von Unternehmen: zum Beispiel Strategiebeschreibung als PDF-Dokument, XPRT extrahiert daraus automatisch die Skill-Bedarfe.
  2. Eingabe des Mitarbeiter-Know-hows: zum Beispiel CV aus LinkedIn-Profil, XPRT extrahiert daraus automatisch die Skills und das Know-how des Mitarbeiters.
  3. Ausgabe: Vorschlag von „passenden“ Mitarbeitern für definierte (Projekt-)Rollen.
  4. Ausgabe: Abgleich der Selbst- und Fremdeinschätzung auf Kompetenzebene.
  5. Ausgabe: priorisierte Kurs­empfehlung zum personalisierten Kompetenzaufbau mit Angabe einer Erklärung, warum gerade dieser Kurs infrage kommt.

Durch die Verwendung der „erklärbaren künstlichen Intelligenz“ wird die maximale Transparenz für die vom System erstellten Empfehlungen ermöglicht. Die Anwender können die Vorschläge jederzeit verwerfen und die zugrundeliegenden Eingaben ad hoc anpassen („Human in the Loop“-Ansatz). Dies erhöht nachweislich die Akzeptanz der Lernempfehlungen und steigert somit die Motivation beim Nutzer, diesen auch zu folgen.

Kompetenzen als Währung der Zukunft

Daten, so sagt man gemeinhin, seien das neue Gold. Bleibt man bei diesem Bild, sind Kompetenzen das neue Platin. Mit einem entsprechenden Prozess und smarten Tool kann dieses für den Mittelstand und seine Zukunft so zentra­le Edelmetall geschürft und veredelt werden. Der große Mehrwert des XPRT- Ansatzes besteht darin, mit maximaler Flexibilität (und auch auf Basis unstrukturierter Daten) vielfältige Unternehmensinformationen zu verknüpfen und so die wichtige Ressource Mitarbeiter systematisch mit der Strategie des Unternehmens zu verzahnen. XPRT vereinfacht und systematisiert die dafür erforderlichen Prozesse und ermöglicht dabei viel mehr als nur passende Fortbildungsangebote zu finden. So verspricht XPRT perspektivisch unter anderem

  • im Management den Abgleich der Unternehmensstrategie mit dem Marktumfeld zu unterstützen,
  • im Recruiting durch die eindeutige Identifikation benötigter Kompetenzen die Qualifizierungsprozesse zu vereinfachen sowie die Effizienz des Lernens (ROI) zu erhöhen und damit vakante Positionen passgenau zu besetzen,
  • im Personalmanagement Gaps zwischen der Selbsteinschätzung von Mitarbeitern und ihrer Vorgesetzten zu erkennen und so geschäftskritische Skill-Bedarfe durch individualisierte Maßnahmen effizient zu decken.

Der Aufwand bei der XPRT-Implementation ist sowohl auf Unternehmens- als auch Mitarbeiterseite überschaubar: Bestehende Dokumente, zum Beispiel zu Strategie, Projekten oder auch Qualifikationsprofile, CV und Zielvereinbarungen, werden „maschinenlesbar” angepasst und können somit direkt in das Tool eingepflegt werden. In Verbindung mit ausgewählten (internen wie externen) Lern-/Bildungsangeboten können schnell erste Vorschläge zum „up-/re-skilling” für ausgewählte Mitarbeiter von XPRT erstellt werden.

Die vorgestellten Ergebnisse wurden im Rahmen des Projekts „Learn4U“ erzielt und mit Mitteln der Adolf-Leuze-Stiftung im Rahmen des Stiftungszwecks Förderung von Bildung und Erziehung, Wissenschaft und Forschung finanziell und ideell gefördert.

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Günther Würtz (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Innovationszentrum Innovation Engineering (Rottenburg a.N.)

Jochen Denzinger (Autor)
Designer / Inhaber
Denzinger Gestaltung (Frankfurt am Main)

223075-57