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„Eine Entkopplung von volkswirtschaftlichem Denken und betriebswirtschaftlichem Handeln“

Im Gespräch mit Steinbeis-Unternehmer Professor Dr.-Ing. Herbert Emmerich

Produktion und Organisation unter einen Hut zu bringen und im Tagesgeschäft den strategischen Blick in die Zukunft zu behalten – das ist die einfach klingende Zusammenfassung der sehr komplexen Herausforderung insbesondere für KMU. Professor Dr.-Ing. Herbert Emmerich beschäftigt sich mit Leidenschaft seit mehr als 20 Jahren mit dieser Thematik. Er lehrt an der Hochschule Pforzheim im Studiengang Maschinenbau/Produktionstechnik und -management und bringt seine Expertise ganz praktisch in seinem Steinbeis-Transferzentrum Produktion und Organisation zum Einsatz. Dass er das mit Erfolg tut, zeigt auch seine zweifache Auszeichnung mit dem Transferpreis der Steinbeis-Stiftung – Löhn-Preis in den Jahren 2010 und 2019. Mit der TRANSFER hat er sich über die aktuellen Herausforderungen für den Mittelstand und seine Lösungsansätze unterhalten.

Langfristige Wettbewerbsfähigkeit und Ertragskraft

 

Herr Professor Emmerich, Sie sind seit mehr als zwei Jahrzehnten im Steinbeis-Verbund und in den Bereichen Produktion und Organisation tätig: Wie haben die technologischen Entwicklungen den Alltag insbesondere für KMU in dieser Zeit verändert?

Technische Entwicklungen haben den Alltag in den Unternehmen in den letzten 20 Jahren in mehrfacher Weise stark verändert: In der industriellen Produktion haben sie zu einer deutlichen Leistungssteigerung und Verbesserung der Produktivität geführt, beispielsweise im Bereich der Zerspanungstechnik, der Lasertechnik oder beim Einsatz von neuen und optimierten Materialien. Neben diesem klassischen Bereich haben sich aber auch innovative und hocheffiziente Verfahren von der Pilotphase zur Serienreife weiterentwickelt und werden heute als Standardverfahren eingesetzt. Beispiele sind die additive Fertigung, die Herstellung von Metallschäumen oder durchgängige Prozessketten, bei denen Produktdaten automatisiert in Prozessdaten umgewandelt werden, wir sprechen hier von CAD/CAM. Ganz entscheidend haben die Weiterentwicklung und die gezielte Anwendung von CAX-Technologien zum Erfolg beigetragen. Auch die Entwicklung in der Informationstechnologie und von Softwarepaketen, wie ERP-Systeme, verläuft sehr dynamisch. Ihr Einsatz hat wesentlich zur Beherrschung und signifikanten Beschleunigung von zunehmend komplexeren betrieblichen Abläufen geführt.

Die aktuelle globale Lage – Klimawandel, Krieg, Lieferkettenprobleme, Energieknappheit – stellt die industrielle Produktion vor neue Herausforderungen. Mit welchen Lösungsansätzen können gerade KMU diese kurzfristig meistern?

Die durch die kriegerische Auseinandersetzung in der Ukraine bedingte drastische Veränderung der Energiepreissituation und die Lieferkettenproblematik hat viele Unternehmen buchstäblich kalt erwischt. Natürlich müssen wir ressourceneffiziente Technologien und Prozesse vermehrt entwickeln und einsetzen sowie jede Möglichkeit der Einsparung nutzen. Konkrete Maßnahmen mit hohem Nutzwert sind je nach Geschäftsfeld und Unternehmensgröße aber auf die Schnelle nur sehr begrenzt möglich. Daher ist es wichtig, innerhalb einer längerfristigen Strategie im operativen Tagesgeschäft jeden Prozess und jeden Ablauf zu hinterfragen und auf Effizienz zu prüfen. Dazu wird Datentransparenz im Hinblick auf Produktivität, Lieferzeiten, Kosten und Qualität sowie die erforderlichen Maßnahmen zur Erreichung der Vorgaben benötigt. Wir müssen die Stellhebel schnell identifizieren und betätigen, die eine Auswirkung auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen haben. Nur dadurch wird die Grundlage für weitere mittelfristige Schritte im technologischen und organisatorischen Umfeld geschaffen.

Nicht nur die Technologien, sondern auch die Organisation muss stetig im Unternehmen weiterentwickelt werden, damit es erfolgreich bleibt. Mit welchen organisatorischen Problemen haben Unternehmen aktuell zu kämpfen?

Viele KMU sind technologisch gut aufgestellt, sie haben es jedoch verpasst, die Organisation dem Umsatzwachstum anzupassen. Dabei sind Schwachstellen in der Produktionsorganisation und in den direkten Wertschöpfungsbereichen oft noch die kleineren, wenn auch leicht sichtbaren Probleme. Gravierender sind häufig unzureichende, nicht durchgängige und inkonsistente Datenstrukturen und das Qualitätslevel der Stammdaten. Dies führt zu mangelnder Transparenz in der gesamten Ablauforganisation und unnötigen Reibungsverlusten im täglichen operativen Geschäft in allen beteiligten Abteilungen. Ganz deutlich erkennbar ist dies bei der Fertigungssteuerung, langen Durchlaufzeiten, hohen Beständen, Rückständen und Zeitverzug, fehlenden Materialien angearbeiteter Aufträge und „weglaufenden“ Kosten durch mangelnde Effizienz. Obwohl in vielen Unternehmen ausgehend vom ERP-System die Grundlagen vorhanden wären, mangelt es oft an transparenten Führungsin­strumenten mit Frühwarnsystemen und leider mitunter auch am Willen, ausgetretene Pfade infrage zu stellen und zu verlassen.

Welche Lösungen bieten Sie hierfür in Ihrem Steinbeis-Unternehmen an?

Unser Angebot zur Planung und Entwicklung von spezifisch angepassten, innovativen Automatisierungslösungen im Fertigungs- und Montageumfeld hat nach wie vor einen sehr hohen Stellenwert. Denn ein Unternehmen kann sich gegenüber dem Wettbewerb nicht durch den Einsatz von gekaufter „Standardtechnologie“ differenzieren. Sehr von Vorteil für eine effiziente Produktion ist eine fertigungs- und montagegerechte Produktkonstruktion. Hier verfügen wir über sehr viel Erfahrung, die in die Planungsarbeiten mit einfließt.

Wir bieten jedoch auch Leistungen zur Absicherung und Verbesserung der kurzfristigen Ertragskraft in Unternehmen an. Die Maßnahmen sind stets eingebunden in eine längerfristige, klar definierte Strategie. Im Detail geht es dabei vor allem um Themen wie Optimierung und Resilienz der Ablauforganisation, die Einführung von Führungs- und Visualisierungsinstrumenten oder auch Lean-Management-Methoden. Aber auch Neuplanungen von kompletten Produktionsbereichen bis hin zur Fabrikplanung und die Materialflussplanung gehören zu unserem Angebots- und Tätigkeitsfeld.

Ein wichtiges und speziell für KMU sehr interessantes Angebot ist die Beratung bei der Antragsstellung von Förderprojekten und die wissenschaftliche Begleitung der Durchführung. Hier konnten wir in den letzten Jahren sehr zum Vorteil unserer Kunden tätig werden, die oft nicht über die Kapazität oder den Überblick über die einzelnen relevanten Fördermöglichkeiten und Förderthemen verfügen.

Wenn Sie auf Ihre zahlreichen erfolgreich umgesetzten Projekte zurückblicken: Welche Aufgaben haben KMU und Sie in der Vergangenheit besonders herausgefordert und welche schwierigen Themen stehen aktuell an?

Unsere Herausforderungen waren und sind immer auch die Herausforderungen unserer Kunden. In der Vergangenheit lag der Schwerpunkt mehr auf der Beherrschung der technischen Prozesse innerhalb relativ starr definierter Kunden-Lieferanten-Beziehungen. Die Globalisierung der letzten Jahre hat eine weitgehende Entkopplung von volkswirtschaftlichem Denken und betriebswirtschaftlichem Handeln ausgelöst. Die damit einhergehende Verlagerung von Entwicklungs- und Produktionstätigkeiten ins Ausland erfordert einen hohen finanziellen und organisatorischen Aufwand, der eine gewisse „kritische“ Größe der Unternehmen verlangt, um dies auch personaltechnisch stemmen zu können.

Wir sehen, dass die vom Markt geforderten Projektentwicklungszeiten und Umsetzungszeiträume teilweise dramatisch sinken. Dies erfordert schnelle und äußerst präzise Abläufe in der Produkt- und Prozessentwicklung unter Einsatz neuester Technologien. Ich verweise dabei nur auf die Themen der Transformation und der Digitalisierung.

Eine der ganz großen Herausforderungen ist dabei, speziell bei jungen Menschen Begeisterung für und Bereitschaft zur Mitarbeit in dynamischen KMU zu wecken. Nicht selten ist das Fehlen von qualifiziertem Personal ein wesentlicher Hemmschuh bei der Weiterentwicklung von Unternehmen. Daher sind die eigene Ausbildung und Qualifizierung von Personal gar nicht hoch genug zu bewerten.

Daneben will ich nicht verschweigen, dass der Mittelstand unter der zunehmenden Bürokratie besonders leidet. Aus Sicht des Mittelstandes sind verlässliche Rahmenbedingungen und eine ausgewogene Mittelstandsförderung speziell in zukunftsträchtigen Themenfeldern wichtig, um seine Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit entfalten zu können.

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Herbert Emmerich (Interviewpartner)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Produktion und Organisation (Pforzheim)

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