Steinbeis-Experten setzen auf Digitalisierung und Kooperation
Die Pflege von Menschen, sei es zu Hause durch Angehörige oder in Pflegeeinrichtungen durch erfahrenes Pflegepersonal, ist eine körperlich und psychisch anstrengende Tätigkeit. Aktuelle demografische und strukturelle Veränderungen sowie der wachsende Kostendruck lassen die Herausforderungen für alle Beteiligten immer größer werden. Zur Bewältigung dieser Komplexität hat das Ferdinand-Steinbeis-Institut (FSTI) 2018 das Micro Testbed „Pflege und Versorgung im ländlichen Raum“ gestartet, um zusammen mit Stakeholdern und Experten in der Pflege und Versorgung konkrete Lösungsansätze zu entwickeln.
Die Pflege von Menschen birgt viele Herausforderungen für die Angehörigen und ihr Umfeld. Oft ist sie ein zusätzlicher Belastungsfaktor im Lebensalltag, der seelischen und zeitlichen Druck mit sich bringt [1]. Verschärft wird die Situation durch den Umbruch des Pflegebereichs, getrieben durch den Pflegenotstand, fehlende Wertschätzung und strukturelle Veränderungen. Dem steht die demografische Entwicklung gegenüber mit einem Anstieg von bundesweit 47,4 % der Pflegebedürftigen bis 2030 [2], die den heutigen und zukünftigen Bedarf an Pflege (Versorgungslücke) unterstreicht. Zudem wird das Pflegepersonal in Zukunft komplexere und medizinische Routinetätigkeiten übernehmen müssen [3]. Die betroffenen Stakeholder des Pflegebereichs reichen hierbei von den Älteren selbst über ihre Angehörigen, die Pflegekräfte bis zu Wirtschafts- und Finanzpolitikern und den Beitragszahlern der Sozialsysteme [4]. Die aktuelle Pandemie bestärkt die Relevanz der Verbesserung der Pflegesituation. Die genannten Herausforderungen erfordern jedoch neue Lösungen, um die Infrastruktur nicht zu überlasten. Dies ist umso wichtiger angesichts des Kostendrucks, dem Pflegedienste und Heime unterliegen, was oft in einem Kosten- anstatt Qualitätswettbewerb mündet [4].
Micro Testbeds im Einsatz
Zur Lösung dieser Probleme bietet die Digitalisierung neue Chancen in Form von Technologien und Methoden, die am Ferdinand-Steinbeis-Institut entwickelt und erprobt werden. So können Technologien, wie beispielsweise das Internet der Dinge, die häusliche Pflege unterstützen und eine Brücke vom stationären Krankenhausaufenthalt zur anschließenden häuslichen Versorgung schlagen. Weiterhin kann der Zugang zur Versorgung über digitale Lösungen erleichtert werden, die die Angehörigenpflege unterstützen und die Qualität ambulanter Pflege erhöhen. Dafür braucht es allerdings ein Miteinander verschiedener Disziplinen beziehungsweise verschiedener Stakeholder. An dieser Stelle setzt das FSTI die von ihm entwickelte Micro Testbed (MiTb)-Methodik ein, die die Schaffung eines Unternehmensnetzwerkes zur Entwicklung digitaler Plattformlösungen rund um einen gemeinsamen Nutzen beschreibt. In Micro Testbeds werden die Geschäftsfähigkeiten der teilnehmenden Unternehmen mit komplementären Fähigkeiten ergänzender Unternehmen zur vertrauensvollen Zusammenarbeit innerhalb eines geschützten Raums zusammengebracht. Das Ziel ist dabei, durch Digitalisierung neue, nutzenstiftende Anwendungsfälle zu entwickeln. Während der Implementierungsphase werden ausgewählte Anwendungsfälle anschließend als Proof-of-Concepts umgesetzt. Diese dienen zur Evaluierung von Geschäftsmodellideen und deren Konkretisierung gemeinsam mit den MiTb-Partnern [5].
Das MiTb „Pflege und Versorgung im ländlichen Raum“ startete im September 2018 und bringt fünf Stakeholder der Pflege und Versorgung zusammen sowie vier Experten zur Implementierung des identifizierten Anwendungsfalls. Dabei wurden in den ersten zwei Workshops die Teilnehmer und Experten sowie deren Ziele vorgestellt, die Herausforderungen besprochen und als spezifische Problemstellungen der Teilnehmer unter Betrachtung der Fähigkeiten formuliert. Im dritten Workshop begann das Team mit der Anwendungsfalldefinition. Dabei wurde folgende visionäre Darstellung eines Ablaufs zur Pflege und Versorgung erstellt, die den Rahmen für die Ableitung von Anwendungsfällen bildet.
Digitale Sprachassistentin als Lebensretterin
In einem der Anwendungsfälle geht es um Selma M., 85 Jahre alt, die immer noch eigenständig und ohne fremde Hilfe in ihrer kleinen Wohnung leben kann. Doch dann rutscht sie in ihrem Badezimmer aus und verletzt sich. Sie kann ihr Bein nicht mehr bewegen und liegt hilflos in ihrem Bad. Gut, dass sie die digitale Sprachassistentin „Kalliope“ hat. Auf Anweisung von Selma ruft Kalliope den Rettungsdienst an und übermittelt den aktuellen Notfall, aber auch die medizinischen Daten, die auf Selmas Smartphone in der Gesundheits-App gespeichert sind: ihre Patientenverfügung, Informationen über Blutgruppe, wichtige Vorerkrankungen, Behandlungen und den aktuellen Medikamentenplan. Dabei hebt sie besonders hervor, dass Selma ein gerinnungshemmendes Medikament einnimmt. Der Rettungsdienst weiß, dass es eilig ist und trifft schon bald nach Kalliopes Notruf ein. Der Sanitäter stellt die Verdachtsdiagnose eines Oberschenkelhalsbruches und leitet die Erstversorgung ein. Parallel klärt er mit Kalliopes Hilfe, in welchem Krankenhaus es ein freies Bett sowie freie operative und intensivmedizinische Kapazität zur Behandlung der Schenkelhalsfraktur von Selma gibt. Wenige Minuten später hat Kalliope die Informationen erhalten und empfiehlt die nahegelegene Barbaraklinik. Als Selma in der Klinik eintrifft, wird sie schon erwartet, Kalliope hat ihre Informationen bereits vollständig weitergeleitet, der Chirurg ist vor Ort und hat den Behandlungsprozess „traumatischer Hüftgelenkersatz“ angestoßen. Der Verlauf ist zunächst durchaus problematisch, schließlich kann sich Selma aber so weit erholen, dass sie in eine Rehaklinik verlegt werden kann. Auch Kalliope erhält die vollständigen Informationen aus dem Krankenhaus. Als Selma aus der Rehaklinik entlassen wird, weiß Kalliope, was zu tun ist und aktiviert ihr Programm „Entlassung aus der Rehaklinik nach Hüftgelenkersatz“. Wenn Selma nach Hause kommt, ist der Pflegedienst schon informiert und hat den Schlüssel zur Wohnung. Kalliope hat auch den Hausarzt informiert und einen ersten Termin für den Hausbesuch organisiert. Aus der Apotheke werden die Medikamente geliefert, die auf Selmas Einnahmeplan stehen. Selbstverständlich wird Kalliope Selma an die Einnahme erinnern, genauso wie an die notwendigen Bewegungsübungen. Die Krankengymnastik ist organisiert und im Supermarkt sind Lebensmittel und Getränke bestellt. Und natürlich wird Kalliope weiter für Selma da sein, wenn sie in Not gerät.
Schöne neue Welt?
Kalliopes Daten, die Daten aus der Gesundheits-App, Daten des Krankenhauses, der Rehaklinik, des Hausarztes und des gesamten Versorgungsnetzes werden auf der MiTb-Plattform gesammelt und ausgewertet, zusammen mit den Daten vergleichbarer Behandlungsverläufe in der Region. Daraus gewinnen die Steinbeis-Experten Meta-Informationen, die sie nicht nur den Patienten, sondern auch den Leistungsanbietern zur Verfügung stellen. Diese können zur Optimierung der Prozessabläufe, zur Sicherstellung rascher und fehlerminimierter Versorgung und zur vergleichenden Sicherung der Qualität beitragen.
Aus Anwendersicht stellt sich die Frage, woher Kalliope die notwendigen Schritte kennt. Fachleute aus dem MiTb haben sie programmiert und halten sie stets auf dem Laufenden. In der Region arbeitet zudem ein menschlicher „Lotse“, der die medizinischen Strukturen kennt und die zu Beginn halbautomatisierten Schritte von Kalliope überwacht, dann aber weiter automatisiert und so immer seltener in den Routineverlauf eingreifen muss.
Der dargestellte visionäre Ablauf, der gemeinsam mit den Teilnehmern des Testbeds erstellt wurde, sowie die Untersuchung eines geriatrischen Prozesses ermöglichten die Ableitung von Anforderungen an die Entwicklung eines Proof-of-Concepts. Dieser beinhaltet folgende Anwendungsfälle:
I. Information über den Zustand des Patienten (Medikamentenbox, Bewegung des Patienten etc.)
II. Medikamentenlieferung
III. Routenoptimierung des Pflegedienstes
Hierbei wird deutlich, dass die Implementierungsphase des Micro Testbeds die Entwicklung einer Plattformlösung als Ziel hat. In dieser werden die notwendigen Daten rund um den Patienten gespeichert, die von den Sensoren im Haushalt ergänzend zu Patientendatenbanken gesammelt und zur Analyse auf der Plattform zur Verfügung gestellt werden. Im Falle der „Medikamentenbox“ wird über die Sensoren festgestellt, ob das richtige Medikament eingenommen wurde und der Füllstand detektiert. Die Daten werden durch Datenanalyse-Algorithmen untersucht und eine Entscheidung über die Benachrichtigung des Pflegedienstes oder zur Nachbestellung von Medikamenten getroffen, die digital vom Arzt signiert wird. Die Auslieferung erfolgt über den Lieferexperten ausgehend von der jeweiligen Apotheke. Hierbei werden Algorithmen zur Routenoptimierung eingesetzt, die einen effizienten und nachhaltigen Transport ermöglichen. Mögliche Notfälle können somit vermieden und die Versorgungslücke durch eine Verbesserung der häuslichen Pflege verringert werden.
Perspektive Medizin
Die Thematik MiTb war für die beiden Experten Dr. Thomas Heinz (Fachklinik) und Dr. Ralf Hardenberg (Internist), da ganz ohne Vorerfahrung, ein Abenteuer, aber eine bereichernde und spannende Erfahrung. Im ländlichen Raum muss die ärztliche, ja die gesamte medizinische Versorgung neu gedacht werden. „Fehlende Personalressourcen und weite Wege zwischen den Protagonisten stehen in Niedersachsen im Vordergrund. Ohne eine enge Verzahnung von ambulanten/prästationären, stationären und poststationären Strukturen wird die patientenzentrierte, individualisierte und parallel auch kosteneffiziente Versorgung nicht gelingen“, davon ist Ralf Hardenberg überzeugt. Kalliope soll allen Prozessbeteiligten helfen, den hilfebedürftigen Menschen im System besser „abzuholen“ – die Patienten und Angehörigen, aber auch die Profis. Der Datenfluss soll ohne Redundanzen erhoben und weitergegeben werden und den „sich Kümmernden“ passgenau zur Verfügung stehen, trotz der datenschutzbedingten Vorgaben. Dies wird ohne den sinnvollen Einsatz von Case-Management und KI wahrscheinlich nicht gelingen.
Perspektive Pflege
Erfahrungen aus der Pflege brachten die beiden Gerontologen Melanie Philip und Philipp Zell sowie Michael Wilhelm, langjähriger Leiter von Pflegeeinrichtungen, ins Testbed ein. „Für uns alle war dieses MiTb eine neue, aber spannende Erfahrung. Wir konnten den Unterstützungsbedarf der Zielgruppe von allen Seiten beleuchten und ein entsprechendes Ziel formulieren“, so Michael Wilhelm. Die daraus entstandene Kalliope wird allen Beteiligten im Ökosystem die tägliche Arbeit sicherer und leichter machen: Sicherer, weil Hilfebedarf (schneller) bei den Versorgungsstellen bekannt wird. Leichter, weil die knappen Ressourcen im Pflegebereich effizienter genutzt werden. Daten werden einmal erfasst, sind gemeinsam im Zugriff und es kann auf feste Abläufe zurückgegriffen werden. Bisher wird viel Zeit aufgewendet, alle Beteiligten, zum Beispiel nach einer Krankenhausentlassung, zu erreichen und die Versorgung abzustimmen. Ein weiterer Vorteil liegt klar in der künstlichen Intelligenz, da die Erfahrungen aus der Versorgung und Risiken gesammelt und für zukünftige Versorgungen angepasst werden.
Der nächste Schritt: Implementierung
Das MiTb steht nun vor der Implementierung der dargestellten Anwendungsfälle. Hierbei gilt es nun die verschiedenen Fähigkeiten zusammenzuführen und die Nutzenszenarien zu realisieren, um einen gemeinsamen Mehrwert zu gewährleisten. Zu dieser Umsetzung wurden ein Pflegedienst und eine Apotheke ausgewählt, die den beschriebenen Prozess in die Praxis umsetzen. Nach der Implementierung gilt es die Erfahrungen zu sammeln und Auswirkungen auf bestehende Geschäftsmodelle zu identifizieren sowie neue Möglichkeiten zu definieren. Im Bereich Pflege und Versorgung wird es auch relevant sein regulatorische Implikationen zu betrachten, um einen praktischen Einsatz zu garantieren. Hier werden vor allem große Herausforderungen erwartet. Ohne das MiTb wird es jedoch nicht möglich sein, diese konkret zu beschreiben sowie die Potenziale einer Netzwerklösung aufzuzeigen. Das MiTb zeigt, dass eine Kooperation in Netzwerken nötig ist, um Mehrwerte der Digitalisierung greifbar zu machen und im Fall der Pflege politische, demografische und strukturelle Herausforderungen anzugehen. Durch solche Projekte wird der Lösungsweg transparent und eine detaillierte, zukünftige Vorgehensweise kann definiert werden, sodass beispielsweise abgeschätzt werden kann, welche Auswirkungen eine Lösung wie Kalliope für die Senkung der Versorgungslücke hat.
Das MiTb „Pflege und Versorgung im Ländlichen Raum“
Teilnehmer:
- Dr. Thomas Heinz (Fachklinik)
- Melanie Philip und Philipp Zell (Pflegepioniere) und Michael Wilhelm (Pflegeeinrichtungen)
- Dr. Ralf Hardenberg (Internist)
- Bernd Roder (Apotheke)
Experten:
- Hase & Igel, Jan Schoenmakers (Datenanalyse): Hase & Igel ist als Big Data-Beratung darauf spezialisiert, große Mengen an Daten zu menschlichem Verhalten zu analysieren, mit KI-Unterstützung darin Muster zu erkennen, die Situation zu beurteilen und Prognosen abzugeben. Für Kalliope bietet die integrierte Analyse der Daten aus Patienteninformationen, Verordnungen und Sensoren die Chance, den Zustand der Pflegebedürftigen differenzierter zu beurteilen und über individuelle Erfolgstreiber zu identifizieren, die eine längere Betreuung zu Hause ermöglichen. Auch Wirkungen und Nebenwirkungen verschiedener Behandlungen lassen sich so auf breiterer Basis erfassen.
- J4S, Ingo Janssen und Lothar Martens: J4S stellt die Edge-Devices zur Verfügung.
- MeinMarktstand, Garvin Hinrichs (Lieferung): MeinMarktstand ist ein Online-Wochenmarkt für regionale, hochwertige Lebensmittel von nachhaltig produzierenden Betrieben. Für Kalliope könnte MeinMarktstand sein Logistikkonzept mit anbieten, mit dem es möglich wäre zum Beispiel frische und haltbare Lebensmittel kontaktfrei bis an die Haustür zu liefern. Derzeit ist die Zustellung im gesamten Nordwesten innerhalb eines Tages möglich. Auch Terminlieferungen sind auswählbar, sodass eine regelmäßige Versorgung gewährleistet werden kann.
- compuGroup (Plattform): compuGroup stellt die Daten- und Serviceplattform im Projekt zur Verfügung.
Kontakt
Daniel Burkhardt (Autor)
Research Assistant
Ferdinand-Steinbeis-Institut (FSTI) (Stuttgart)
www.steinbeis-fsti.de