Im Gespräch mit Dr. med. Thomas Wüst, Facharzt für Orthopädie und Sportmedizin
Die Kernaufgabe eines Orthopäden besteht darin, die Entwicklung des Stütz- und des Bewegungsapparates zu fördern und degenerative Veränderungen zu behandeln. Auch in Zeiten der Digitalisierung bleibt diese Aufgabe unverändert, bedient sich aber neuer technologischer Möglichkeiten. Welche genau das sind, warum die Aufklärung dabei eine große Rolle spielt und wie sowohl die Patienten als auch Ärzte von den Zukunftstechnologien profitieren können – diese und weitere Fragen hat die TRANSFER dem #techourfuture-Experten Dr. med. Thomas Wüst gestellt.
Herr Dr. Wüst, warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, die Gesellschaft über Zukunftstechnologien zu informieren?
Nur durch sachliche Informationen können wir Ängste, Vorbehalte, Vorurteile und Ablehnung sinnvoller relevanter medizinischer Zukunftstechnologien abbauen. Der Sinn und Zweck bei deren Einsatz sollte klar formuliert und kommuniziert werden. Vertrauen in die Zukunftstechnologien kann nur durch Information, Aufklärung und Transparenz entstehen. Dabei ist es wichtig, die Vorteile für den Menschen, Patienten und unsere Gesellschaft deutlich aufzuzeigen.
Ich spreche jetzt als Arzt, als Orthopäde: Gerade die Orthopädie hat in den letzten 20 bis 25 Jahren große Entwicklungen, was den technischen Fortschritt betrifft, mitgemacht. Und deswegen war es immer schon wichtig, in diesem Bereich gewisse Vorbehalte, gewisse Ängste bei den Patienten abzubauen, indem man mit ihnen darüber gesprochen hat. Wir werden auch weiterhin enormen zukunftstechnologischen Fortschritt erleben, im Rahmen der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz. Deswegen wird es noch wichtiger, den Menschen Ängste zu nehmen und ihnen deutlich zu machen, welche Chancen dadurch bestehen. Man muss deutlich erklären, warum wir was machen und welche Konsequenzen daraus abzuleiten sind. Der nächste wichtige Aspekt besteht darin, dass wir Ärzte durch neue Technologien Zeit gewinnen, sodass wir dieses „mehr an Zeit“ den Patienten widmen können. Ich bin in der glücklichen Situation eine Privatpraxis zu haben, eben weil ich den Patienten die Zeit geben möchte. In der Regel verbringen aber die Patienten durchschnittlich etwa drei bis fünf Minuten im Sprechzimmer eines Orthopäden. In dieser Zeit sollte eine Anamnese, eine klinische Untersuchung und möglicherweise auch schon eine Therapie erfolgen, was realistisch gesehen schwierig ist. Hierbei können uns Ärzten neue Technologien Lösungen anbieten, was aber bedeutet, dass wir zuerst Zeit und Arbeit investieren müssen, um diese zu beherrschen. Aber schlussendlich gewinnen wir Zeit zum Beispiel durch zielgerichtete, schnelle Informationen über die Befunde und Diagnostik, Zeit, die den Patienten zugutekommt. Dadurch steigt die Patientenzufriedenheit. Auf diese Weise wird auch die Therapie erfolgreich, denn der Patient hat das Vertrauen zum Arzt und so besteht auch ein gutes Arzt-Patient-Verhältnis.
Um Patienten richtig beraten zu können, sollen Sie immer auf dem neuesten technischen Stand sein, wie integrieren Sie als niedergelassener Arzt das in Ihren bestimmt schon vollen Arbeitsalltag?
Das ist ein sehr spannendes Thema. Der Aufwand ist in der Tat am Anfang höher, rückblickend betrachtet dann aber im Ganzen geringer. Damit dies gelingt, braucht ein Arzt eine gute Struktur und, was sehr wichtig ist, ein gutes, motiviertes Team. Die Mitarbeiter sollten Spaß daran haben, etwas Neues auszuprobieren. Wir haben jetzt einen Sportwissenschaftler eingestellt, der sich schon im Vorfeld mit künstlicher Intelligenz auseinandergesetzt hat, was uns – dem ganzen Team – weiterhilft. Es ist wichtig, im Team die Interessen und das Wissen jedes Einzelnen zu nutzen. Ich glaube, wenn man im Team vernetzt denkt und interdisziplinär handelt, löst das sehr viele Probleme. Ich als Einzelner kann in der Tat auch nur einen kleinen Teil zeitlich schaffen. Im Team allerdings funktioniert es besser und schneller.
Welche Vorbehalte gegenüber Zukunftstechnologien begegnen Ihnen im Rahmen Ihrer Arbeit?
Ich glaube, dass viele Vorbehalte und Ängste in diesem Zusammenhang häufig mit der Vorstellung einer kalten, abweisenden Medizin verbunden sind. Ärzte führen in unserer ohnehin schnelllebigen Zeit eine zu kurze, zeiteinsparende Anamnese und klinische Untersuchung durch. Nicht selten steht der Vorwurf einer monokausalen, symptomorientierten Medizin bereits im Raum. Wenn dazu noch die Befürchtung kommt, dass sich Ärzte zusätzlich in der Zukunft „von den Maschinen“ beherrschen lassen, sind die Vorbehalte groß und das Arzt-Patient-Verhältnis verschlechtert sich. Auch hier ist es wichtig die Patienten aufzuklären. Viele Patienten haben auch Ängste vor den hohen Kosten in der technischen Diagnostik, die von den Krankenkassen nicht erstattet werden, was aus meiner Erfahrung unbegründet und das Gegenteil der Fall ist. Deutsche Patienten sind bekanntermaßen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern kritischer gegenüber Zukunftstechnologien. Es scheint auch an der mangelnden Vernetzung der Angebote zu liegen. Es muss den Patienten deutlich gemacht werden, dass der Arzt auch in der Zukunft unerlässlich und unersetzbar bleibt und durch den Einsatz effizienter Zukunftstechnologien mehr Zeit für Patienten haben wird.
In meiner Praxis nutzen wir zum Beispiel bereits die Möglichkeiten, die die Telemedizin bietet. Dabei steht ein effizientes Therapiekonzept für den Patienten über allem. Die Digitalisierung, die Telematik, die elektronische Patientenakte ermöglichen uns in Echtzeit standortunabhängig patientenrelevante Informationen zu erhalten, zu interpretieren und mit verschiedenen Partnern zu diskutieren. Die Pandemiezeit unterstützt diese Weiterentwicklungen, denn die Bereitschaft in der Bevölkerung die Telemedizin auszuprobieren ist aufgrund der aktuellen Situation gestiegen. Aber auch in strukturschwächeren Regionen, in denen es an Ärzten mangelt, bietet die Telemedizin die Möglichkeit die medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten. Der Patient muss aber immer die Möglichkeit haben zwischen einer telemedizinischen Sitzung und einer Vor-Ort-Sprechstunde zu wählen. Natürlich hat auch Telemedizin ihre Grenzen und deren sollen sich alle Beteiligten bewusst sein.
Ein weiteres großes Thema im Zusammenhang mit Vorbehalten ist der Datenschutz. Hier sind mittlerweile gute Lösungen geschaffen worden. Natürlich hat der Patient erst einmal Bedenken, welche Ärzte seine Daten einsehen können. Es ist wichtig ihm zu erklären, dass er festlegt, welche Ärzte Zugriff auf seine Akte bekommen. Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang für sehr wichtig halte, ist die elektronische Patientenakte. Der Patient hat seine Daten, seine ganzen Parameter, die von Bedeutung sind, immer bei sich und ist damit freier in seinen Entscheidungen.
Welche neuen Technologien in den Bereichen Gesundheit und Medizin würden Sie selbst anwenden?
Alle Aspekte, die ich bereits genannt habe, treffen auch auf mich zu. Ich als Patient suche immer zuerst den direkten Kontakt mit der Praxis, mit den Menschen vor Ort, um das Vertrauensverhältnis aufbauen zu können.
Was ich persönlich für sehr spannend halte, ist die Möglichkeit mithilfe der Digitalisierung, genauer gesagt der künstlichen Intelligenz, noch präzisere Diagnosen stellen zu können. Wir arbeiten hierfür mit den Fraunhofer-Instituten zusammen, um mithilfe von KI-Lösungen gigantische Datenmengen zielgerichtet nach einem bestimmten Algorithmus auswerten zu lassen. Wir sprechen dabei über Patientendaten, daher ist es wichtig, die Patienten über die Nutzung aufzuklären, um deren Einverständnis und schlussendlich deren Daten zu bekommen.
Was mich auch sehr interessiert, ist die ganzheitliche Bewegungsanalyse. Damit können wir den Menschen strahlenfrei in Bewegung beim Gehen und Laufen darstellen: also den Rücken, den Beckenstand, die Beinachsen und den Fußdruck synchronisiert in Dynamik. Dadurch können komplexe Zusammenhänge betrachtet und dann entsprechend ausgewertet werden. Und genau in diesem Zusammenhang werden wir auch künstliche Intelligenz nutzen, weil es sich um eine unfassbar große Datenmenge handelt, die wir bislang immer nur aus Erfahrung heraus interpretiert und enorm viel Zeit allein nur für diesen Vorgang investiert haben. Das wird in Zukunft intelligent, zielgerichtet und schnell ausgewertet werden können. Es geht dabei um ein ganzheitliches Verfahren, das interdisziplinär nutzbar ist. Denn hier werden ab- und aufsteigende Einflüsse auf die Haltung dargestellt, dabei spielt der Zahnarzt oder der Kieferorthopäde eine große Rolle. Auch die Füße spielen eine große Rolle, die Augen, das Innenohr. Es sind also viele Fachärzte an dieser Analyse beteiligt. Das finde ich sehr spannend.
Kontakt
Dr. med. Thomas Wüst (Autor)
Facharzt für Orthopädie und Sportmedizin
Privatpraxis Dr. med. Thomas Wüst (Ludwigsburg)