Fit für die Zukunft: Industrie 4.0 in der Berufsbildung

Vor welche Herausforderungen die Digitalisierung europäische Fachkräfte stellt

Erasmus+ ist ein europäisches Förderprogramm, das Aktivitäten über Ländergrenzen hinweg in der Berufsbildung unterstützt – zum Beispiel im Rahmen des Projektes „A.U.T.O. 4.0 – Understanding and Achieving Automotive Training Outcomes 4.0“. Als Projektpartner untersuchte Professor Dr. Dr. h. c. Georg Spöttl, Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum InnoVET, die Herausforderungen für Fachkräfte in der Automobilproduktion aufgrund der verstärkten Implementierung von Industrie 4.0.

Im Mittelpunkt des A.U.T.O. 4.0-Projektes stand die Frage: Welche Auswirkungen hat die Einführung von Industrie 4.0 und der damit verbundenen vernetzten Produktionsprozesse auf Kompetenzen und Berufsprofile von Fachkräften? Antworten darauf suchten beteiligte Partner aus Italien, Deutschland, Spanien und Großbritannien.

Fallstudienergebnisse bei einem Automobilzulieferer (Quelle: Spöttl)

 

Heutzutage liegen zahlreiche Studien vor, die zu dem Ergebnis kommen, dass aufgrund hoher Automatisierungswahrscheinlichkeiten in der Industrie 4.0 beispielsweise knapp die Hälfte der Arbeitsplätze des US-amerikanischen Marktes gefährdet sind. Diese Prognosen müssen jedoch sehr vorsichtig interpretiert werden, weil sie in Bezug auf die Tätigkeiten und Berufe ein viel zu hohes Aggregationsniveau für die Analysen wählen. Betrachtet man Studien, die auf die Erhebung der Anforderungen zielen, dann zeigt sich, dass ein Faktor im Prozess der Ausgestaltung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsplätze in europäischen Unternehmen eine wichtige Rolle einnimmt: der Mensch. Daraus resultiert die Frage nach dem Verhältnis von Mensch zu Industrie 4.0 und den eingesetzten digitalen Technologien. Das lässt sich in drei Szenarien zusammenfassen:

  • Werkzeugszenario: Entwicklung von Expertensystemen mit Werkzeugcharakter für qualifizierte Fachkräfte. Die Gestaltung der Technologien eröffnet Fach­kräften verschiedene Möglichkeiten, Aufgaben auf der Shop-Floor-Ebene wahrzunehmen.
  • Automatisierungsszenario: Einschränkungen des Gestaltungsspielraums für Fachkräfte und Entwertung deren Qualifikationen durch das Vordringen intelligenter, sich selbst steuernder Technologien bei Anlagen und Maschinen, Produktion und Logistik.
  • Hybridszenario: Die Entwicklung von neuen Interaktions- und Kooperationsformen bei Steuerungs- und Kontrollaufgaben führt zu neuen Anforderungen an die Fachkräfte, da Menschen und Maschinen zusammenarbeiten. Die Art und Qualität der Anforderungen wird in letzter Konsequenz von den Zuschnitten der Arbeitsorganisation bestimmt.

Welches der Szenarien zum Tragen kommt, hängt von der Ausgestaltung der Arbeitsorganisation und der dadurch bestimmten Nutzung der Technologien ab. Auf diesen Vorgang hat das vorhandene Qualifikationsniveau der Fachkräfte erheblichen Einfluss.

Hyperkonnektivität als gesellschaftliches Merkmal
Aus Unternehmenssicht ist unklar, in welche Richtungen sich die Entwicklungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung bewegen, hinzu kommt, dass eine verstärkte Umsetzung von Industrie 4.0 als Anwendung der Digitaltechnik zu vermehrten Unwägbarkeiten in den konkreten Arbeitsprozessen führt. Das hindert Unternehmen jedoch nicht daran, die Implementierung voranzutreiben, wie in Studien zur Diffusion von Industrie 4.0-Technologien festgestellt wurde. Es ist allerdings weniger der technologische Wandel selbst, der Unsicherheiten erzeugt, sondern das hohe Tempo, mit dem digitalisierte Technologien zur Anwendung kommen und das die Vernetzung der Teilsysteme zu komplexen Einheiten vorantreibt. Auf den Umgang mit der zunehmenden Komplexität der Technik in der Gesellschaft und im Arbeitsalltag sind alle vorzubereiten. Vor allem die zu erwartende intensiver werdende Vernetzung, oft als Hyperkonnektivität bezeichnet, stellt für das Berufsbildungssystem eine Herausforderung dar. „Hyperkonnektivität als charakteristisches Merkmal der modernen Gesellschaft ist der systemische Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Akteure des Bildungs- und Beschäftigungssystems in Zukunft interagieren müssen“, sagt Steinbeis-Unternehmer Georg Spöttl.

Fallstudie zeigt Herausforderungen der Digitalisierung
Um Aussagen über veränderte Anforderungen an Fachkräfte treffen zu können, muss ein Blick auf den Wandel von Facharbeit und Kompetenzanforderungen an Mitarbeiter unterhalb der akademischen Ebene (Niveau 6 des europäischen Qualifikationsrahmens) geworfen werden. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Digitalisierung die Aufgaben und Arbeitsprozesse verändern wird und sich deshalb berufliche Rahmenbedingungen ändern.

Am Beispiel einer Fallstudie (Case A) wird deutlich, mit welchen Herausforderungen sich international ausgerichtete Unternehmen im Jahr 2019 aufgrund der zunehmenden Implementierung von Industrie 4.0 konfrontiert sahen. Die Grafik oben zeigt eine pragmatische Zusammenfassung der Ergebnisse eines Automobilzulieferers mit 1.500 Beschäftigten, von denen 60 % als Facharbeiter ausgebildet waren. Laut der Übersicht spielten dabei nicht nur technologische Schwerpunkte eine Rolle, sondern auch Veränderungen von Arbeit und deren sozialen Implikationen.

Vorausgesetzt wird im Case des Automobilzulieferers bei Fachkräften eine technische Ausbildung, um die Mechanik und Elektronik zu verstehen und Fehleranalysen durchführen zu können. Fachkräfte müssen denjenigen, die bei Schäden die vollständige Reparatur durchführen, zentrale Hinweise zum Schadensbild geben können. Einfache Störungsbeseitigungen und Reparaturen muss die Fachkraft selbst erledigen. Um das leisten zu können, ist während der grundlegenden Ausbildung ein Aufenthalt von rund einem Jahr in „der Linie“ erforderlich.

Der Produktionsleiter des untersuchten Unternehmens definiert Fachkräfte als Personen, die sich besonders engagieren, ständig dazulernen, sich mit dem Anlagenbetrieb auseinandersetzen und letztendlich alle Details eines Anlagenablaufes kennen. Er schätzt, dass der Facharbeiteranteil Richtung 70 % gehen würde, wenn es keine alten, manuell bedienten Linien mehr gäbe.

Industrie 4.0-Kompetenzradar (Quelle: Spöttl)

 

Das „Industrie 4.0 Kompetenzradar“ als Orientierung
Die Veränderungen innerhalb des Automobilzulieferers sind vielfältig und reichen von der Nutzung digitaler Medien über softwaregesteuerte Diagnosegeräte bis hin zu abteilungsübergreifender Kooperation. Ähnlich verhält es sich mit den sozialen Implikationen, die nicht nur auf soziale Kompetenz und Kommunikation zielen, sondern auch auf Lernbereitschaft, Engagement, Detailinteresse und Übernahme von Führungsrollen.

In den von den A.U.T.O. 4.0-Projektpartnern durchgeführten Fallstudien wurden 19 Qualifikationsprofile zur Kategorisierung von Fachkräften identifiziert, die der Bewältigung der Veränderungen durch die Implementierung von Industrie 4.0 dienen. Die Analyse der mit den Profilen verbundenen Kompetenzen zeigte, dass diese auf drei Ebenen festzumachen sind:

  • breite Kompetenzen als neue Basis in der Berufsbildung,
  • kontextspezifische Kompetenzen und
  • „abstrakte” Kompetenzen.

Die jeweiligen Kompetenzebenen stehen in enger Verbindung mit den vielfältigen Einzelkompetenzen für die Aufgabenbewältigung. Diese lassen sich in einem „Industrie 4.0 Kompetenzradar“ zusammenfassen, welches eine gute Orientierung über die Breite der Anforderungen, aber auch deren notwendige Rückbindung an konkrete Sachverhalte mittels der kontextspezifischen Kompetenzen bietet. Damit wird untermauert, dass auch die „abstrakten“ Kompetenzen nicht losgelöst von den konkreten Anforderungen zu sehen sind. Aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet, zeigt das Kompetenzradar einen Rahmen für eine Profilierung europäischer Kern-Berufsprofile.

Kontakt

Prof. Dr. Dr. h. c. Georg Spöttl (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum InnoVET (Flensburg)