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WIRTSCHAFT X.0: GEFORDERT SIND WIRTSCHAFT WIE AUCH GESELLSCHAFT

Die digitale Transformation bringt Wandel für Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft

Immer wieder fällt in der aktuellen Debatte um die voranschreitende Digitalisierung der Begriff der Wirtschaft 4.0. Dr. Michael Ortiz, Leiter des Forschungsbereichs Innovations- und Transfermanagement am Ferdinand-Steinbeis-Institut, plädiert für eine Weitung des Begriffs hin zu einem Modellkonzept einer „Wirtschaft X.0“. Seine Sicht auf die Kernaspekte dieses hochkomplexen Konzepts nimmt bewusst eine Perspektive auf Wirtschaft X.0 ein, die nicht nur auf die technologische und ökonomische, sondern auch auf die gesellschaftliche, organisationale und ökologische Einbettung eingeht.

Wirtschaft X.0 beschreibt zugleich einen Prozess wie auch eine Zielmarke des tiefgreifenden Wandels, den Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft aktuell durch­laufen. Angetrieben wird dieser vor allem durch die digitale Transformation, die durchdringende Vernetzung sowie konvergierende Strukturen, Systeme und Technologien. Aber auch elementare Strukturveränderungen auf gesellschaftlicher, demographischer, weltpolitischer und ökologischer Ebene müssen als wesentliche Treiber berücksichtigt werden. Herausgefordert sind also nicht nur die Kernsegmente der Industrie mit ihren Schlüsselbranchen sowie der öffentliche und der Dienstleistungssektor, sondern nicht zuletzt auch das politisch-­rechtliche System, die Zivilgesellschaft und jeder einzelne Mensch.

DIGITALE TRANSFORMATION UND KONVERGENZ ALS ENTSCHEIDENDE FAKTOREN

Eine Schlüsselrolle auf dem Weg zur Wirtschaft X.0 kommt dabei der digitalen Transformation zu, also dem Prozess der fortlaufenden und umfassenden Digitalisierung und Autonomisierung in Wirtschaft, Gesellschaft und Organisationen. Zum einen zielt dieser Prozess auf die kontinuierlich zunehmende Quantität, Qualität und Intensität der Nutzung digitaler Technologien ab, unter anderem in Kommunikations- und Produktionsprozessen, im Dienstleistungssektor sowie in der Informationsverarbeitung. Ein wesentliches Merkmal der Digitalisierung ist zudem die zunehmende Bedeutung von Daten als Treiber dieser Prozesse. Die Fähigkeit, relevante Informationen und Daten aus Kommunikation, Alltagshandeln, Produktion und Dienstleistung zu erheben, zu sammeln, zu analysieren und in soziale, wirtschaftliche oder organisationale Handlungen umzusetzen und dabei auf große Datenmengen und -bestände (Big Data) zuzugreifen, gewinnt hochgradig wettbewerbsrelevante Bedeutung.

Für viele Unternehmen impliziert dies die Herausforderung, ihre Geschäftsfähigkeiten kontinuierlich neu zu definieren und zu entwickeln und dabei bewusst die Grenzen tradierter Wertschöp­fungsketten zu überwinden, um die vielfältigen Potenziale von Digitalisierung, datengetriebener Wirtschaft und Vernetzung ausschöpfen zu können. Während dabei etablierte Geschäftsmodelle auch disruptiv an Marktwirkung verlieren können, müssen die Chancen einer Erweiterung der Reichweite neuer Geschäftsmodelle über den Einsatz digitaler und smarter Technologien meist in ähnlichem Zeitraum erst entwickelt und umgesetzt werden.

Zum anderen ist die digitale Transformation aber auch gekennzeichnet durch die sich hierdurch fortschreitend verstärkende Vernetzung weiterer gesellschaftlicher Subsysteme, wirtschaftlicher Sektoren, technologischer Felder und organisationaler Funktionsbereiche untereinander und miteinander über das Internet. Die Folge ist eine zunehmende Konvergenz ehemals logisch, strukturell und prozessual voneinander getrennter Segmente von Gesellschaft und Wirtschaft, in der tradierte Handlungs-, Funktions- und Systemlogiken vermehrt ineinanderfließen und Schnittstellenmanagement sowie Interdisziplinarität in gänzlich neue Aktionszusammenhänge übergehen. Beides – Digitalisierung und Konvergenz – impliziert die Notwendigkeit der mehrwertstiftenden Vernetzung, und zwar über tradierte Organisations- und Handlungsfelder hinweg und unter den Bedingungen von Flexibilität, Agilität und Kontingenz. Die Fähigkeit, agil mit heterogenen Partnern in Netzwerken zusammenzuwirken und das eigene Geschäftsmodell verstärkt auf und über Plattformen abzubilden, wird zur unternehmerischen Kernkompetenz.

Dabei treffen die Digitalisierung, Datenbasierung, Autonomisierung, Disruptivität und Vernetzung in fast allen westlichen Marktwirtschaften auf Gesellschaften mit alternden demographischen Strukturen, die mit den vielfach diskutierten Auswirkungen und Konfliktpotenzialen in Bezug auf Innovationskraft, Adaptationsfähigkeit und Fachkräfteangebot einhergehen. Die Arbeitswelt verändert sich stark in Richtung Konvergenz von Arbeits- und Lebenswelt, die Grenzen zwischen Berufs-, Freizeit- und Privatleben verschwimmen zunehmend. Völlig neue Freiheitsgrade für den Einzelnen gehen einher mit gänzlich neuen Belastungen, die neu definiert und ausgehandelt werden sollen. Das gewohnte Wechselspiel zwischen Produzenten und Konsumenten löst sich in vielen Sektoren der Wirtschaft zugunsten der Beziehung zwischen Systemadministratoren und Anwendern auf, was zur Aushandlung völlig neuer und auf den Kopf gestellter Rollenbeziehungen und Spielregeln führen könnte. Optimierte hergebrachte und völlig neue Kompetenzen werden bei der Steuerung digitalisierter, vernetzter und autonomisierter Arbeitsplätze benötigt werden und müssen erst noch umfassend ihre Abbildung in Bildung, Ausbildung und Qualifizierung finden. Wichtige Fragen nach der Produktivität, Messung und Vergütung von Arbeitsleistung werden hohes Konfliktpotenzial mit sich bringen. Zudem stellen sich weitreichende Fragen in Bezug auf die zukünftige Definition von Wertschöpfung. Schon heute zeichnen sich substantielle Bereiche in Produktion und Dienstleistung ab, in denen unter anderem IT-Anwendungen, Automatisierung und Autonomisierung die Kosten für Produkte und Dienstleistungen marginalisiert haben. Wesentliche Fragen der Verteilung dieser Wertschöpfung werden sich anschließen. Hinzukommen neue Geschäftsmodelle, die gänzlich von den gewohnten proprietären Lösungen abkommen und vermehrt geteilte und nutzungsbasierte Angebote beinhalten. Schließlich werden stärker als bisher ökologische Überlegungen das Wechselspiel von Wirtschaft, Gesellschaft und Technologie prägen.

Kontakt

Dr. Michael Ortiz (Autor)
Senior Research Fellow
Ferdinand-Steinbeis-Institut (Stuttgart)
www.steinbeis-fsti.de