Der Mittelstand muss neben der Digitalisierung seiner Prozesse seine Geschäftsmodelle weiterentwickeln
Die Diskussion um Digitalisierung und digitale Transformation hat die Wirtschaft aufgerüttelt. Das Gelingen der digitalen Transformation wird inzwischen oft als eine Schicksalsfrage der deutschen Industrie gesehen, denn die jüngsten Technologiesprünge haben ein Potenzial für die Disruption von Geschäftsmodellen geschaffen, das in der Form vermutlich noch nie vorhanden war. In diesem Sturm der schnellen Veränderung und des Wegbrechens vorhandener Geschäftsmodelle werden sich große Teile des deutschen Mittelstands existenziell behaupten müssen. Was KMU dafür tun können und welche Rolle dabei Configure-to-order spielt, damit beschäftigt sich Prof. Dr.-Ing. Jörg W. Fischer, Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Rechnereinsatz im Maschinenbau und Professor für Produktionsmanagement und Virtuelle Fabrik an der Hochschule Karlsruhe.
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit und weitgehend unabhängig von der Diskussion um Digitalisierung läuft im Mittelstand bereits seit längerem eine tiefgreifende Veränderung ab: der Wandel vom Engineer-to-order (ETO) zum Configure-to-order (CTO). Der klassische Maschinen- und Anlagenbau ist bisher vom ETO geprägt. Dies bedeutet, dass für den Kunden eine individuelle Lösung in Form genau der Maschine oder Anlage, die er braucht, maßgeschneidert entwickelt wird. Nun entspricht der ETO-Ansatz dem Trend zur Individualisierung, bringt jedoch eine Reihe von Problemen mit sich: Da der jeweilige Auftraggeber die hohen anfallenden Entwicklungskosten alleine trägt, werden die so bestellten Maschinen oder Anlagen oft zu teuer. Dazu kommt noch die diesem Ansatz geschuldete lange Lieferzeit von häufig neun oder gar zwölf Monaten. Bei der heute vorherrschenden Dynamik im Markt ist dies zu lange, denn potenzielle Kunden können zumeist nicht mehr in diesen langen Zyklen planen und beauftragen die benötigten Maschinen oder Anlagen dann entsprechend bei Unternehmen mit kürzeren Lieferzeiten. Für Unternehmen, die im ETO agieren, können sich daraus schnell unternehmensgefährdende Situationen ergeben.
CONFIGURE-TO-ORDER: VORTEILE UND HERAUSFORDERUNGEN
Eine Lösung für diese Problematik ist der Wandel zum CTO: Der CTO-Ansatz gibt dem Kunden vordefinierte Auswahlmöglichkeiten, so dass er sich sein Produkt nach seinen Anforderungen konfigurieren kann. Die möglichen Konfigurationen sind dabei vorausgedacht und im Idealfall bereits im Voraus entwickelt. Ist dieser Wandel erfolgreich beschritten, können Lieferzeiten von Monaten bis auf wenige Tage gesenkt werden und das bei viel geringeren Kosten.
Der Wandel vom ETO zum CTO erfordert die Implementierung gänzlich neuer Prozessmuster, die Veränderungen im gesamten Unternehmen nach sich ziehen. Diese Prozessmuster lassen sich nur mithilfe von modernsten IT-Systemen umsetzen, was eine weitreichende Digitalisierung der Produktentstehungs- und Auftragsabwicklungsprozesse notwendig macht. Bei vielen mittelständischen Unternehmen, die in der Regel noch von klassisch funktionalen Organisationsstrukturen geprägt sind, stagniert eine solche Veränderung zumeist an den vorhandenen Abteilungsgrenzen. Unternehmen, die diese Problematik erkannt haben, diskutieren dann oft über die Umsetzung einer Prozessorganisation. Dabei werden häufig übergreifende Abteilungen, wie zum Beispiel ein PMO (Project Management Office), ein Prozessmanagement oder eine Organisationsentwicklung, eingeführt. Das schwächt die bisherige Dominanz der klassischen funktionalen Abteilungen ab. Da nun die Umstellung vom ETO zum CTO eine abteilungsübergreifende Digitalisierung mit sich bringt, werden dann bei Bedarf noch zentrale Abteilungen gegründet, die den Digitalisierungsprozess gesamtheitlich gestalten sollen oder gar ein CPO (Chief Process Officer) oder ein CDO (Chief Digital Office) installiert, um die gesamte Digitalisierung zentral zu gestalten.
DIGITALISIERUNG VS. DIGITALE TRANSFORMATION
Diese Maßnahmen sind alle wichtig und stellen oft auch richtige Weichen für den Weg in die Zukunft. Dennoch darf man solche Maßnahmen zur Digitalisierung nicht mit der notwendigen digitalen Transformation verwechseln, da sie im Falle der Disruption der bisherigen Geschäftsmodelle einem Unternehmen nicht weiterhelfen. An dieser Stelle zeigt sich der Unterschied zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation: Während Digitalisierung sich auf die (Teil-)Automatisierung von Geschäftsprozessen durch den Einsatz moderner Softwarelösungen bezieht, zielt die digitale Transformation auf die Wandlung eines Unternehmens hin zu neuen digitalen Geschäftsmodellen. Im Kern geht es um die Frage, wie ein Unternehmen zukünftig Geld verdienen kann, falls die heutigen Geschäftsmodelle wegbrechen. Was, wenn zum Beispiel der klassische Produktverkauf mit direktem Kundenkontakt sich wie in vielen Branchen hin zum Leistungsverkauf wandelt. Ist der Mittelstand bereit dazu? Was passiert, wenn plötzlich die Integrationsfähigkeit eines gelieferten Produkts in neuen Szenarien ein zentrales Argument für die Kaufentscheidung wird?
Was dies bedeutet, zeigt das Szenario Auto, Parkplatzsuche und Parkhaus: Kein Autofahrer hat Interesse an aufwändiger Parkplatzsuche. Eine absehbare Erwartung des Kunden wird daher sein, dass dies das Fahrzeug selbst durchführt. Zukünftig wird daraus ein Zusammenwirkungsszenario aus Fahrzeugen, Parkraumanbietern und einer zentralen Plattform entstehen, die miteinander kommunizieren, um das Fahrzeug dann selbstständig zu einem freien Parkplatz zu bringen. Für Unternehmen, die Produkte in einem solchen Szenario anbieten wollen, ist es notwendig dieses vorauszusehen, um bereits heute ihre Produkte und Leistungen darauf vorzubereiten.
Der Mittelstand steht daher vor multiplen Herausforderungen: Einerseits erfordert die Wandlung vom ETO zum CTO die Digitalisierung zentraler Prozesse, andererseits verändert die Disruption der Geschäftsmodelle gegebenenfalls das notwendige Agieren am Markt grundlegend. Als Lösung für diese Situation gibt es kein Patentrezept. Es lassen sich allerdings einige Punkte zusammenfassen, die ein Unternehmen unbedingt berücksichtigen sollte:
- die ohnehin notwendige Digitalisierung der internen Prozesse,
- das kontinuierliche Vorausdenken möglicher sich herausbildender Veränderungen der Geschäftsmodelle,
- die Bereitschaft von Gesellschaftern und Management schnell auch mutige unternehmerische Entscheidungen zu treffen inklusive des Bereitstellens der notwendigen finanziellen Mittel,
- eine handlungsfähige Organisation mit flachen Hierarchien, um Entscheidungen schnell umsetzen zu können und dann letztendlich einen flexiblen digitalen Kern für das Unternehmen zu schaffen, der alle notwendigen Informationen durchgängig miteinander vernetzt.
Kontakt
Prof. Dr.-Ing. Jörg W. Fischer (Autor)
Leiter
Steinbeis-Transferzentrum Rechnereinsatz im Maschinenbau (STZ-RIM) (Karlsruhe)