Vom IIC-Testbed zum Micro Testbed
Die „Digitalisierung“ und das „Phänomen 4.0“ stehen für vielschichtige Veränderungen, deren Auswirkungen in weiten Teilen unbekannt sind und daher für unsere Wirtschaft weitgehend Neuland darstellen. Um in Zukunft erfolgreich zu sein, ist es notwendig, mit „digitalen Expeditionsteams“ das Unbekannte zu betreten. Wie dies pragmatisch aussehen kann, lässt sich international im Industrial Internet Consortium (IIC) beobachten. Dort arbeiten Unternehmen aus verschiedenen Branchen experimentell in sogenannten Testbeds zusammen. Ziel dieser Testbeds ist es, neue branchenübergreifende Wertschöpfung zu generieren. Das Ferdinand-Steinbeis-Institut (FSTI) der Steinbeis- Stiftung hat diese Vorgehensweise in den Mittelstand und das Handwerk transferiert: Das Ergebnis sind die sogenannten „Micro Testbeds“.
Jemanden zu fragen, der sich auskennt, ist in der Regel eine zielführende Vorgehensweise, die sich in der Vergangenheit vielfach bei der Lösung von herausfordernden Problemstellungen bewährt hat. Doch wie lautet der Ratschlag, wenn es diesen „Jemand“ (noch) nicht gibt? Für Wissenschaftler und Forscher eine tolle Ausgangsposition – es ist die Chance, Neues zu entdecken und zu diesem „Jemand“ zu werden. Und für Unternehmen? Eine herausfordernde Situation mit der Chance, Neuland zu betreten und damit (noch) unbekanntes wirtschaftliches Potenzial zu erschließen (das Risiko des Scheiterns inbegriffen).
Bei der „Digitalisierung“ beziehungsweise dem „Phänomen 4.0“ handelt es sich um eine solche Situation – Neuland: Wir können niemanden fragen, wie man damit umgeht, dass über offene Standards Gegenstände und Prozesse an beliebigen Orten gesteuert werden können – wir an anderen Orten und andere bei uns. Wir können niemanden fragen, wie sich Wertschöpfung verändert, wenn in der virtuellen Welt reale Prozesse gestaltet werden. Wir haben niemanden, der weiß, welche Werte, Maßstäbe, Methoden, Technologien etc. bei der (Um-)Gestaltung unserer Wirtschaft und Unternehmen wie berücksichtigt werden müssen. Sowohl die Chance als auch die Herausforderung liegen dabei in der Erkenntnis, dass Digitalisierung nicht einfach geschieht, sondern von uns gestaltet werden kann. Also Neuland, welches aktuell von vielen Seiten – von Einzelnen und auch von großen „Expeditionsteams“ – erkundet und experimentell „erobert“ wird.
Eines dieser „digitalen Expeditionsteams“ ist das Industrial Internet Consortium, kurz IIC. Dieses wurde 2014 von den Unternehmen AT&T, Cisco, General Electric, IBM und Intel gegründet und umfasst mittlerweile rund 260 Mitglieder aus über 30 Ländern. Als offenes und mitgliederbetriebenes Konsortium hat sich das IIC zum Ziel gesetzt, Pionier bei der Gestaltung der internetbasierten Vernetzung in branchenübergreifenden Wertschöpfungskontexten auf Basis offener Standards zu sein. Erkundet werden hierbei die Ebenen der interdisziplinären und branchenübergreifenden Wertschöpfung (Business) sowie Technologie. Zu diesem Zweck experimentieren die Mitglieder des IIC gemeinsam an nutzenstiftenden Anwendungsszenarien, die durch die Verbindung von physischer und digitaler Welt unter Berücksichtigung übergreifender Anforderungen wie Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit entstehen. Für diese Vorgehensweise zur Erkundung des Neulands hat sich der Begriff Testbed etabliert: Hierbei schließen sich situativ etwa fünf bis zehn Unternehmen zusammen, um branchenübergreifend, partnerschaftlich und pragmatisch zusammenzuarbeiten und gemeinsam Wertschöpfungsszenarien im realen Wirtschaftsumfeld in einer vorher nicht praktizierten Art und Weise experimentell umzusetzen und zu erproben. Die aktuell rund 30 laufenden beziehungsweise abgeschlossenen Testbeds sind dabei sehr vielfältig und erstrecken sich von Szenarien im Energiebereich, im Gesundheitswesen, im öffentlichen Sektor bis hin zur produzierenden Industrie und zum Transportwesen.
Das Ferdinand-Steinbeis-Institut begleitet als Host des IIC German Regional Teams die Testbed-Aktivitäten seit den Anfängen und leitet auf Basis der bisher gesammelten Erfahrungen wesentliche Erkenntnisse ab:
- Im digitalen Neuland verlagert sich die Wertschöpfung von Wertschöpfungsketten in branchenübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke (cross-domain Ecosystems).
- Damit stehen zukünftig vermehrt Wertschöpfungssysteme und weniger Unternehmen im gegenseitigen Wettbewerb.
- Daher ist die Kultur der offenen interdisziplinären Zusammenarbeit in einem Vertrauensraum ein wesentlicher Erfolgsfaktor im digitalen Neuland.
- Durch die Verwendung von Open Source und offenen Standards sind die Einstiegshürden ins digitale Neuland niedrig und das Investitionsrisiko gering.
- Die Gestaltung des digitalen Neulands über das gemeinsame Lernen mittels des experimentellen Vorgehens ist sehr zielführend.
- Durch die Pionierarbeit in Testbeds entstehen für alle beteiligten Unternehmen regelmäßig neue, nicht antizipierbare Business Cases.
- Das im Rahmen der Testbeds erschlossene digitale Terrain birgt insbesondere für mittelständische Unternehmen und kleine Betriebe (Handwerk etc.) große Potenziale für neue Wertschöpfung.
Diese Erkenntnisse haben dazu geführt, dass das FSTI in der Rolle des IIC German Regional Teams den Testbed-Ansatz auf die Belange mittelständischer und kleiner Betriebe angepasst sowie eine regionale Verortung im deutschsprachigen Raum geschaffen hat. Daraus sind unter dem Dach von Steinbeis die sogenannten „Micro Testbeds“ entstanden. Deren Fokus liegt auf der Umsetzung kleiner Anwendungsszenarien mit „ungewöhnlichen“ Partnern. Hierzu wird mit Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen ein Vertrauensraum gebildet und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit initiiert. Auf diese Art und Weise entstehen unter Nutzung bestehender Technologien durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Zusammenführung von Fähigkeiten der Partner neue, oftmals nicht vorhersehbare, nutzenstiftende Lösungen im digitalen Neuland. In den vergangenen zwei Jahren hat das FSTI 15 solche Micro Testbeds initiiert und durchgeführt. Hierbei konnten aus Sicht der Forschung die aus den IIC-Testbeds abgeleiteten Erfahrungen weitgehend bestätigt und zusätzlich KMU-Spezifika identifiziert werden.
Darüber hinaus konnte das FSTI auf Basis der gesammelten Erfahrungen erste Werkzeuge entwickeln, um gemeinsam mit KMU digitales Neuland zu gestalten. Im Zentrum steht dabei ein methodischer Ansatz auf Basis von Geschäftsfähigkeiten. Diesem liegt die Annahme zugrunde, dass KMU digitales Neuland nur erschließen können, wenn Geschäftsfähigkeiten aus unterschiedlichen Branchen kombiniert werden. Die Micro Testbeds bieten dabei den Rahmen, um Geschäftsfähigkeiten unterschiedlicher Partner zu bündeln, neue Anwendungsszenarien zu generieren und diese umzusetzen. Geschäftsfähigkeiten stellen dabei das Bindeglied zwischen der Business- und der Technologieebene dar und beschreiben die Vorgehensweise / Aktivitäten auf abstrakter Ebene. Durch diese Beschreibung können Geschäftsfähigkeiten den Unternehmen helfen, sich im digitalen Neuland zu positionieren und zu differenzieren. Wichtig ist dabei, dass für alle Beteiligten ein Nutzen aus dem Testbed entsteht.
Aus dem Blickwinkel der Praxis haben die bisherigen Micro Testbeds gezeigt, dass KMU durch die Mitwirkung in Micro Testbeds in die Lage versetzt werden, das Digitale Neuland zu betreten, zu lernen und neue Wertschöpfungspotenziale zu erschließen. Ein Beispiel hierfür ist das Micro Testbed „Production Performance Management Protocol (PPMP)“: Hier haben sich die mittelständischen Unternehmen Rampf, Sick, Balluff und der Bosch-Konzern gemeinsam auf eine Expedition in das digitale Neuland begeben. Innerhalb eines Jahres wurden auf Basis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit nutzenstiftende Anwendungsszenarien identifiziert und experimentell an einem physischen Maschinenbett erprobt. Grundlage für die schnelle und pragmatische Umsetzung war dabei das Open Source Protokoll PPMP. Durch diese Zusammenarbeit konnte jedes der teilnehmenden Unternehmen Erfahrungen im digitalen Neuland sammeln sowie erstmalig „neues Land bewirtschaften“ und dadurch Nutzen generieren, der im Vorfeld nicht abzusehen war.
Kontakt
Professor Dr. habil. Heiner Lasi ist Leiter und Patrick Weber wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ferdinand-Steinbeis-Institut (FSTI) der Steinbeis-Stiftung, das Aktivitäten im Kontext von digitaler Transformation und Technologiekonvergenz koordiniert. Der Fokus des FSTI liegt auf der transferorientierten Forschung im Themenbereich Digitalisierung und Vernetzung. Das FSTI ist Teil des Steinbeis-Verbundes und An-Institut der Steinbeis-Hochschule Berlin (SHB).
Patrick Weber
Ferdinand-Steinbeis-Institut (Stuttgart)
www.steinbeis-fsti.de
Dirk Slama ist Vice President of Business Development der Bosch Software Innovations GmbH. Das Unternehmen unterstützt Bosch-Kunden und Geschäftseinheiten bei der Umsetzung von innovativen Lösungen im Internet of Things.