Steinbeis-Experten konzipieren mit Projektpartnern eine mobil anwendbare Patientenkühlung
In Europa erleiden jährlich über 375.000 Menschen einen Herz-Kreislauf-Stillstand außerhalb des Krankenhauses. Über 82% aller dieser Kreislauf-Stillstände in den westlichen Industrienationen sind kardial bedingt. Aufgrund der demographischen Entwicklung ist auch die Zahl der Menschen, die deshalb mit einer Herz-Lungen-Wiederbelebung reanimiert werden müssen, steigend. Die Prognosen für Patienten mit einer solchen Reanimation außerhalb des Krankenhauses zeigen, dass von allen primär erfolgreich reanimierten Patienten weniger als 10% ohne oder mit nur sehr leichten neurologischen Einschränkungen überleben. Die neurologischen Folgeschäden resultieren aus der zellschädigenden Sauerstoffmangelversorgung. Um diese Folgeschäden zu vermindern, entwickeln die Sika Werke GmbH, die dretex Textil GmbH, die PRIME-tec GmbH und die RÖSSEL-Messtechnik GmbH in Zusammenarbeit mit dem Steinbeis-Innovationszentrum Automation in Leichtbauprozessen (ALP) und der Professur Technische Thermodynamik der TU Chemnitz ein System zur mobilen Patientenkühlung für den Notfalleinsatz bei akutem Herz-Kreislauf-Stillstand.
Jedes Gewebe hat eine individuelle Toleranz gegenüber Sauerstoffmangelzuständen. Das empfindlichste Organ ist dabei das Gehirn, das für seinen Energiehaushalt fast ausschließlich auf den oxidativen Abbau von Glucose angewiesen ist. Deshalb tritt bereits wenige Sekunden nach Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr des Gehirns eine Bewusstlosigkeit ein, nach drei bis maximal sechs Minuten kommt es zu irreversiblen Zellschädigungen mit zum Teil schwersten Hirnschädigungen. Die sogenannte Ischämietoleranz, also die Toleranz gegenüber eines Ausfalls der Blutversorgung des Gehirngewebes, ist maßgebend für den neurologischen Zustand des reanimierten Patienten und beträgt rund drei bis fünf Minuten.
Als milde Hypothermie wird die Absenkung der Körperkerntemperatur auf 32° bis 34°C bezeichnet. Die kontrollierte Hypothermie hat sich insbesondere in der Bypass-Chirurgie und im Rahmen neurochirurgischer Eingriffe bewährt. Klinische Studien zeigen, dass diese milde hypotherme Therapie ebenfalls maßgeblich einen positiven Einfluss auf die neurologischen Auswirkungen der Reanimation des Patienten hat [1, 2]. Sie führt zu einer signifikanten Verbesserung des neurologischen Ergebnisses und zu einer Verminderung der Mortalität. Für die Anwendung eines zielgerichteten Temperaturmanagements außerhalb des Krankenhauses, wie es in der ERC Leitlinie 2015 [3] empfohlen wird, hat sich bisher allerdings kein geeignetes System durchsetzen können.
Aufgrund der großen Relevanz für die erfolgreiche und möglichst schadensfreie Wiederbelebung verfolgt die Forschung die Entwicklung eines geeigneten Systems mit Hochdruck. Die FuE-Arbeiten der Unternehmenspartner Sika Werke GmbH, PRIME-tec GmbH, dretex GmbH und RÖSSEL-Messtechnik GmbH in Zusammenarbeit mit der Professur Technische Thermodynamik der TU Chemnitz und dem Steinbeis-Innovationszentrum Automation in Leichtbauprozessen wurden im Rahmen des ZIM-Projekts „HypoTrans – Entwicklung eines Overalls zur umfassenden Notfallversorgung von reanimierten Patienten“ mit finanziellen Mitteln des Bundes gefördert. Das Projekt setzt bei der frühzeitigen Realisierung einer Patientenkühlung in der Notfallversorgung an. Ziel der Projektpartner war die Entwicklung eines Kühlsystems zur Überbrückung des Zeitraumes zwischen der Reanimation im Rahmen der Ersten Hilfe, dem Eintreffen des Rettungswagens und der Übergabe des Patienten an die Intensivstation im Krankenhaus. Dieses System soll dazu beitragen, die Empfehlungen der ECR Leitlinie 2015 zum zielgerichteten Temperaturmanagement umzusetzen. Und die Projektpartner waren erfolgreich: Als Ergebnis ihrer Forschung und Entwicklung entstand der durch die TU Chemnitz patentierte „HypoTrans- Overall“ [4]. Dabei handelt es sich um einen robusten Overall mit integriertem Temperaturmanagement für die gezielte Abkühlung eines Menschen. Der Overall wurde speziell für die Bedürfnisse des Einsatzes in der Ersten Hilfe konzipiert und hatte auf der Hannover Messe 2018 auf dem Gemeinschaftsstand des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie seinen ersten Auftritt in der Öffentlichkeit.
Das Funktionsprinzip beruht auf der Wärmespeicherung in Phasenwechselmaterial (PCM). Bei dem selbstregulierenden und passiven Prozess nimmt das PCM die Wärme des Körpers auf und wird dabei aufgeschmolzen. Die Wärmeenergie des PCM erhöht sich dabei stetig, wobei die Temperatur des PCM während des Phasenwechsels annähernd konstant bleibt. Damit wird dem Körper des Patienten Wärme entzogen und ein gezieltes Absinken der Körperkerntemperatur erreicht. Im Laufe dieses Prozesses stellt sich ein definiertes Temperaturniveau im Bereich von 34°C ein. Das erzielte Temperaturniveau ist primär abhängig von der Schmelztemperatur und Masse des PCM. Zur Erhöhung der Wärmeleitfähigkeit modifizierte das Projektteam das PCM und entwickelte mit Grafitpulver ein PCM-Stoffsystem [5, 6, 7]. Das PCM-Material verpackten sie für die Integration in den Overall in sogenannte Makrokapseln. Diese Kapseln entstehen durch Verschweißen unter Vakuum und können zu flexiblen Kühlelementen verschiedener Größen kombiniert werden. Sie sind im HypoTrans-Overall vollflächig verteilt und für das Temperaturmanagement verantwortlich. Einmal eingesetzt können die Makrokapseln regeneriert werden, indem sie unter die Schmelztemperatur des PCM-Stoffgemischs abgekühlt werden. Sie sind somit für einen erneuten Gebrauch einsatzfähig. Bei der Lagerung ist zu berücksichtigen, dass der Overall unterhalb der Schmelztemperatur des PCM-Stoffsystems aufbewahrt werden muss.
Das Projektteam aus Forschung, Entwicklung und Industrie hat mit dem HypoTrans-Overall ein robustes, selbstregulierendes und autark arbeitendes Patientenkühlsystem für den mobilen Einsatz entwickelt. Es ermöglicht eine definierte milde Hypothermie eines reanimierten Patienten bereits während der Erstversorgung außerhalb des Krankenhauses. Den Einsatz des Overalls sehen die Experten insbesondere dort, wo bereits ausgebildete Ersthelfer und beispielsweise AEDs („Laiendefibrillatoren“) zur Verfügung stehen.
Kontakt
Ramon Tirschmann, Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Nendel, Mirko Spieler
Steinbeis-Innovationszentrum Automation in Leichtbauprozessen (ALP) (Chemnitz)