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„Es sind nicht die Mediziner alleine, sondern das gesamte Gesundheitssystem, das die Herausforderungen zu bewältigen hat“

Im Gespräch mit Professor Dr. Hans-Peter Deigner, Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Personalisierte Medizin

Personalisierte Medizin: Was steckt dahinter, welche Vorteile aber auch Herausforderungen bringt sie mit sich, was sind die Zukunftsaussichten? Darüber hat sich die TRANSFER mit Professor Dr. Hans-Peter Deigner unterhalten.

Herr Professor Deigner, was versteht man unter personalisierter Medizin und welche Vorteile bietet dieses Konzept den Patienten?

Personalisierte Medizin beinhaltet eigentlich alle Maßnahmen, die man durchführt, um eine genauere, präzisere Diagnose und Therapie, aber auch Prognose zu erhalten. In der Zukunft wird man damit auch bestimmte Erkrankungen vermeiden können. Das heißt, man kann frühzeitig eingreifen und gezielte, an das konkrete Individuum angepasste Maßnahmen durchführen. Krebstherapie wird sicherlich ein Bereich sein, in dem das Konzept der personalisierten Medizin aus mehreren Gründen am schnellsten umgesetzt wird. Hier weiß man schon lange, dass kein Tumor so wie der andere ist, deswegen sind die Erfolgsaussichten bei der Behandlung größer, wenn die Therapie an den Patienten und seine Situation angepasst wird.

Mit welchen Herausforderungen werden die Mediziner bei der Umsetzung konfrontiert, wie können und sollen sie damit umgehen?

Es sind nicht die Mediziner alleine, sondern das gesamte Gesundheitssystem, das Herausforderungen zu bewältigen hat. Dabei spielt die Fragestellung der Erstattung „Wer zahlt wofür unter welchen Voraussetzungen“ eine große Rolle, eine Problematik, die aktuell teilweise völlig widersinnig gelöst wird. Die Erwartungshaltung von Kassen und Erstattern ist, dass die Leistung pro Diagnostik oder pro diagnostischen Parameter im Durchschnitt einen bestimmten Betrag kosten darf. Auch Fallpauschalen sind nicht gerade hilfreich für den medizinischen Fortschritt. Dabei wäre es sinnvoller, an manchen Stellen viel mehr zu investieren, weil sich bestimmte Investitionen langfristig auch wieder auszahlen werden. Das Problem ist letztendlich, dass eine Ökonomisierung des gesamten Gesundheitsbereiches nicht im Interesse der Patienten ist. Für mich und auch für Ärzte ist widersinnig, primär nach ökonomischen Gesichtspunkten vorzugehen und nicht im Sinne des Patienten; das ist aber leider zusammen mit der Privatisierung zunehmend die gängige Praxis.

Löst die personalisierte Medizin eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen aus oder hilft sie langfristig Kosten zu sparen? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Was meinen Sie?

Ich denke, dass es kurzfristig natürlich teurer wird, denn die Entwicklung kostet auch Geld: Je mehr Parameter ich habe, desto exakter wird mein Bild vom Zustand des Patienten, das bedeutet aber auch mehr Aufwand und folglich mehr Geld. Wenn man aber die gesunde Lebensphase eines Individuums verlängern, Spätschäden vermeiden oder sogar das Überleben des Patienten ermöglichen kann, dann werden sich diese Kosten langfristig rechnen. Die Zeitperspektive ist je nach Mitspieler im Gesundheitssystem unterschiedlich, es wird oft nicht die Prognose und Prävention über die nächsten 20 Jahre betrachtet, sondern man überlegt, was rechnet sich innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre. Zusammengefasst kann man sagen, dass es nicht zwangsläufig teurer werden muss, aber es kommt natürlich immer auf durchaus unterschiedliche Interessenslagen an.

Welche Entwicklungen werden Ihrer Meinung nach die Zukunft der personalisierten Medizin bestimmen?

Ich denke, dass die personalisierte Medizin auch jetzt schon erfolgreich umgesetzt werden kann, zumindest in Bereichen, wo es nicht zwangsläufig viel Geld kostet. So können aktuell zum Beispiel bereits vorhandene Daten mit überschaubarem Aufwand ausgewertet werden. Ein Kollege hat zusammen mit einer Klinik Daten von Intensivpatienten ausgewertet, die sowieso anfallen, aber gerade in dieser umfassenden Art und Weise bisher nicht ausgewertet wurden. Das bedeutet, dass relativ viele Daten bereits erfasst werden, die mit Hilfe von Data Mining und einem bioinformatischen/statistischen Ansatz zum Nutzen von Patienten verwendet werden können. Das haben bereits einige Firmen erkannt, die sich mit der Verarbeitung solcher Daten befassen. Diese sind ursprünglich in einem ganz anderen Feld tätig, steigen jetzt aber in den Bereich der personalisierten Medizin ein. Es ist hier anzumerken, dass die Gesamtdatenlage für die Entwicklung der personalisierten Medizin und deren Geschwindigkeit entscheidend ist. Das heißt, wir brauchen letztendlich Populationsstudien, die einen guten Teil der Bevölkerung umfassen und longitudinal über einen sehr langen Zeitraum laufen, idealerweise über die gesamte Lebensdauer. Daher wird noch einige Zeit vergehen, bis die Datenbasis deutlich besser wird und in Kombination vorhandene Daten wesentlich besser ausgewertet werden können. Dazu kommt, dass die für die Mehrzahl der Bevölkerung in den Industrieländern relevanten Erkrankungen sehr multifaktoriell durch hunderte bis tausende Genaktivitäten bedingt sind. Diese kann man natürlich auch in Studien mit ein paar tausend Patienten nur unzureichend auswerten, weil die Datenbasis einfach zu gering ist. Wenn ich jetzt aber die Daten von Millionen Patienten und auch über einen längeren Zeitraum habe, inklusive Verwandtschaftsverhältnisse etc., ändert sich die Situation komplett: Wir können auf dieser deutlich breiteren Datenbasis eine präzise Prognose und dann auch die Therapie erstellen, was aber noch Jahrzehnte dauern wird. Andererseits gibt es wie bereits gesagt auch sehr kurzfristig umsetzbare Möglichkeiten die schon vorhandenen Daten zu analysieren, denn der technologische Fortschritt, beispielsweise im Bereich der Sequenzierung, erhöht die Geschwindigkeit und reduziert die Kosten nochmals deutlich. Man gewinnt mehr Informationen, sei es von Genen, Genaktivitäten, RNA, Proteinen bis zu Metaboliten, und kann diese zunehmend mehr im Zusammenhang analysieren und auswerten. Es sind also technische Voraussetzungen und Entwicklungen, die diesen Prozess bestimmen, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen. Darüber muss Konsens bestehen und die datenrechtlichen Bedingungen vorliegen, damit man so breit Daten von Individuen sammeln und auswerten kann. Man muss natürlich auch ethische Bedenken berücksichtigen. Wie Sie sehen, es gibt sicher noch viele Probleme zu lösen, aber man muss sich damit befassen und sie schnell lösen, damit man vor allem zum Nutzen der Patienten vorankommt.

Kontakt

Professor Dr. Hans-Peter Deigner

Professor Dr. Hans-Peter Deigner leitet zusammen mit Professor Dr. Matthias Kohl das Steinbeis- Transferzentrum Personalisierte Medizin an der Hochschule Furtwangen. Das Steinbeis-Unternehmen beschäftigt sich mit der Entwicklung und Validierung von Biomarkern, biostatistischen und bioinformatischen Analysen, der Planung und Auswertung von Experimenten sowie klinischen Studien und der Zulassung von Medizinprodukten.

Professor Dr. Hans-Peter Deigner
Steinbeis-Transferzentrum Personalisierte Medizin (Rottweil)