Klimaneutrale Wärmeversorgung in Hennigsdorf
Im brandenburgischen Hennigsdorf wurde bereits 2015 beschlossen, das Wärmenetz hin zur Klimaneutralität zu entwickeln. Damit wurde die Stadt zu einem Vorbild für die Dekarbonisierung der Fernwärmeversorgung. Ein großer Meilenstein für die Stadtwerke Hennigsdorf bestand darin, die jährlich im Wärmenetz verteilte Wärmemenge von 120 GWh zu 80 % aus klimaneutralen Quellen erzeugen zu können. Das war das Ziel des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie von 2016 bis 2025 geförderten Pilotvorhabens „Wärmedrehscheibe Hennigsdorf“, an dem das Steinbeis-Innovationszentrum für zukunftsfähige thermische Energiesysteme (Solites) beteiligt war. Die Aufgabe des Steinbeis-Teams: Das Gesamtsystem als digitalen Zwilling in Form von Simulationsmodellen umfassend zu analysieren und die Realisierungsschritte zu begleiten.

Links: Die wesentlichen Komponenten des digitalen Zwillings (mit ihren Abhängigkeiten); rechts: das Wärmenetzgebiet Hennigsdorf mit den realisierten Anlagen
Über 50 % des Endenergieverbrauchs in Deutschland werden für Wärme – ob in Gebäuden oder industriellen Prozessen – aufgewendet (1). Eine zukunftsfähige Wärmeversorgung ist daher unerlässlich, um die nationalen Klimaziele zu erreichen. Wärmenetze sind eine gute Möglichkeit, die Gesamtenergieeffizienz in städtischen Gebieten zu steigern und den Anteil klimaneutraler Energie in der Wärmeversorgung zu erhöhen.
Auch in der brandenburgischen Stadt Hennigsdorf mit ihren 26.000 Einwohnern wird das Wärmenetz durch die Stadtwerke kontinuierlich ausgebaut. Eine Besonderheit ist seine weitläufige geografische Ausdehnung von Norden nach Süden. Stadt und Wärmenetz wuchsen seit dem Bau des ersten Heizhauses in den 1960er-Jahren stetig. Die Befeuerung durch Rohbraunkohle wurde schrittweise durch Steinkohle, Heizöl und schließlich Erdgas ersetzt. Heute werden etwa 80 % der Stadt über sieben zentrale Heizwerke mit Fernwärme versorgt und aus einzelnen Versorgungsbereichen ist ein zusammengeschaltetes Verbundnetz entstanden. Das Wärmenetz arbeitet mit Vorlauftemperaturen zwischen 85 °C und 108 °C sowie einer Rücklauftemperatur von rund 60 °C (2).
Ein ganzheitliches Konzept für eine nachhaltige Transformation
2015 wurde mit einem Klimaschutzrahmenkonzept die nachhaltige Fernwärmeversorgung der Stadt Hennigsdorf beschlossen. Diese Entscheidung – lange vor den gesetzlichen Pflichten zur kommunalen Wärmeplanung und zu Transformationsplänen für Wärmenetze – machte die Stadt und die Stadtwerke Hennigsdorf zu Vorreitern der Wärmewende. Daraufhin erarbeiteten die Stadtwerke Hennigsdorf, die Tetra Ingenieure GmbH, die Ruppin Consult GmbH und das Steinbeis-Forschungszentrum Solites gemeinsam ein ganzheitliches Konzept, das den Anteil klimaneutraler Wärme in der Fernwärmeversorgung Hennigsdorf von damals 50 % auf über 80 % erhöhte (2).
Das Konzept umfasst zahlreiche Komponenten:
- die Nutzung von Abwärme aus dem örtlichen Stahlwerk,
- den Betrieb eines bestehenden Biomasse-Heizkraftwerks,
- die Erneuerung einer Solarthermieanlage,
- den Zusammenschluss der Versorgungsbereiche zu einem Verbund-Wärmenetz,
- den Ausbau neuer Trassen im Wärmenetz,
- die Absenkung der Vorlauftemperatur auf maximal 95 °C,
- den Umbau beziehungsweise Neubau von Heizzentralen,
- Optimierungen in Kundenanlagen und Hausanschlussstationen zur Rücklauftemperaturabsenkung und Effizienzsteigerung,
- eine übergeordnete intelligente Regelung des Gesamtsystems sowie
- die Integration zweier neuer Stahltank-Wärmespeicher mit 1.000 und 5.000 m³ Wasserinhalt.
Das Wärmenetz wird nun als offenes Verbundnetz betrieben und muss dabei hohe Wärmetransportleistungen bewältigen.
Digitaler Zwilling: Mit Simulationen das Risiko reduzieren
Die gewachsene Struktur der Wärmeversorgung in Hennigsdorf und die Einbindung neuer klimaneutraler, dezentraler Wärmequellen in das bestehende System stellen eine große Herausforderung bei der Planung und Umsetzung eines solchen Konzepts dar. Im Vergleich zu Wärmenetzen mit einem zentralen, fossilen und gut regelbaren Wärmeerzeuger sind hier viele Komponenten und ihre Abhängigkeiten zu berücksichtigen. Durch dezentrale Wärmeerzeuger auch am Stadtrand muss Wärme aus anderen Richtungen als bisher zu den Gebäuden transportiert werden. Wärmeerzeuger wie industrielle Abwärme, große Solarthermieflächen und ein Biomasse-Heizkraftwerk mit gleichzeitiger Stromerzeugung (ORC-Prozess) haben zudem spezifische Charakteristika und können teilweise nicht bedarfsgerecht geregelt werden. Beispielsweise steht die Abwärme zeitlich sowie in Leistung und Temperatur gemäß dem industriellen Prozess zur Verfügung – was nicht zwingend mit dem Wärmebedarf im Netz übereinstimmt.
In diesem Fall ermöglicht der Einsatz digitaler Zwillinge die Betrachtung vieler verschiedener Varianten des Gesamtkonzepts, bevor dieses konkret geplant und umgesetzt wird. Das gründliche digitale Überprüfen und Testen des Gesamtsystems reduziert das Investitions- und Betriebsrisiko und führt zu einem gut einschätzbaren Betriebsverhalten sowie abgestimmten Regelungsvorgängen. Der digitale Zwilling bildet alle Wärmeerzeuger, Speicher und das Wärmenetz in einem oder mehreren Simulationsprogrammen ab.
Die Steinbeis-Experten erstellten für Hennigsdorf Modelle der Wärmeerzeugung und -speicherung im dynamischen Systemsimulationsprogramm TRNSYS und führten Simulationsstudien durch. Gleichzeitig modellierte das Planungsbüro Tetra Ingenieure GmbH das Wärmenetz hydraulisch in Bentley sisHYD und simulierte zahlreiche Varianten und Lastfälle. Die netzhydraulischen Simulationen ergaben Massenstrombegrenzungen in einzelnen Leitungsabschnitten, die wiederum in den Systemsimulationen von Solites berücksichtigt wurden.
Auf diese Weise wurden mithilfe des digitalen Zwillings verschiedene Varianten analysiert, wie zum Beispiel verfügbare Abwärmemengen mit Betriebszeiten, Leistungen und Temperaturen, Dimensionierung von Solarthermie und Wärmespeichern, saisonale Betriebszeiten des Biomasse-Heizkraftwerks, zukünftige Wärmebedarfe im Wärmenetz etc. Die TRNSYS-Simulationen wurden mit einem Zeitschritt von zehn Minuten über einen Simulationszeitraum von drei Jahren durchgeführt. Ausgewertet wurden die Ergebnisse des dritten Jahres, da zu diesem Zeitpunkt eine realistische Temperaturverteilung im Wärmespeicher vorliegt. Ziele der Simulationen waren:
- die Erzielung von mindestens 80 % erneuerbarem Wärmeanteil an der Gesamtwärmeversorgung mit minimierten Investitionskosten und bester Wirtschaftlichkeit,
- eine möglichst gute Nutzung der flexibel anfallenden industriellen Abwärme,
- die Optimierung der Betriebszeiten und der Effizienz des Biomasse-Heizkraftwerks,
- die Sicherstellung einer zuverlässigen Wärmeversorgung aller Kunden,
- die Entwicklung des übergeordneten Regelkonzeptes und
- die Dimensionierung der Wärmespeicher und möglicher weiterer erneuerbarer Wärmeerzeuger wie Solarthermieanlagen.
Zur Dimensionierung des multifunktionalen Wärmespeichers wurden zum Beispiel verschiedene Speichergrößen von 500 bis zu 150.000 m³ simuliert, jeweils für drei unterschiedliche Abwärmeprofile. Da die industrielle Abwärme über das ganze Jahr zur Verfügung steht, wurde ein großer multifunktionaler Wärmespeicher so konzipiert, dass er kurzfristig schwankende industrielle Abwärme in das Wärmenetz verteilen und den Solarthermieertrag saisonal speichern kann. Erste dynamische Systemsimulationen unterschiedlicher Varianten mit vielen Annahmen zeigten aufgrund dieser Anforderungen Speichervolumen bis zu 150.000 m³ und eine große Solarthermiefläche.
Vom Konzept zur Umsetzung
Die Maßnahmen des erarbeiteten Konzepts wurden ab 2017 schrittweise im laufenden Betrieb des Wärmenetzes umgesetzt. Nach der Installation der Abwärmeauskopplung aus dem Stahlwerk im Jahr 2019 konnten erste Messungen und umfangreiche Analysen der Abwärmemengen und ihrer zeitlichen Verteilung im digitalen Zwilling berücksichtigt werden. Dieser Schritt erfolgte 2020 und 2021: In dieser Zeit war der Betrieb im Stahlwerk pandemiebedingt zeitweise durch Kurzarbeit eingeschränkt. Im digitalen Zwilling wurden daher mehrere Varianten simuliert, in denen die Abwärmemengen auf den üblicherweise zu erwartenden Betrieb hochgerechnet wurden, um die nächsten Bauabschnitte vorzubereiten. Die gemessenen Leistungen, Zeiträume und Temperaturen der im Wärmenetz nutzbaren Abwärme lieferten wichtige Daten, um die Dimensionierung des Wärmespeichers zu überprüfen und zu optimieren.
Detailliertere Analysen der geografischen Verteilung des Wärmeverbrauchs und der erneuerbaren Wärmequellen führten zur Realisierung eines Stahltank-Wärmespeichers mit 1.000 m³ Wasservolumen neben der Heizzentrale im Stadtzentrum. In diesem Zuge konnte auch der Betrieb des dort eingebundenen Biomasse-Heizkraftwerks und der Hydraulik optimiert werden.
Auf eine Installation großer Solarthermieflächen wurde dagegen verzichtet, da der Platz für einen saisonalen Wärmespeicher nicht vorhanden war und zunächst die Abwärme aus dem Stahlwerk genutzt werden sollte. Der multifunktionale Wärmespeicher wurde 2024 als oberirdischer Stahltank mit 5.000 m³ Wasservolumen fertiggestellt (s. dazu auch Steinbeis Transfer-Magazin 03|24 S. 70 ).
Auch nach der Umsetzung der Maßnahmen im Hennigsdorfer Wärmenetz kann der digitale Zwilling weiterhin zur Betriebsoptimierung und Risikoabschätzung bei zukünftigen Veränderungen genutzt werden – etwa dann, wenn die Wärmeerzeugung vollständig klimaneutral gestaltet oder bestehende Erzeuger ersetzt werden sollen.
Das Projekt „Wärmedrehscheibe Hennigsdorf“ bekam eine Förderung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie unter dem Förderkennzeichen 03ETS002 A und B aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.
Kontakt
Magdalena Berberich (Autorin)
Steinbeis-Unternehmerin
Steinbeis-Innovationszentrum für zukunftsfähige thermische Energiesysteme (Solites) (Stuttgart)
www.solites.de
Dirk Mangold (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Innovationszentrum für zukunftsfähige thermische Energiesysteme (Solites) (Stuttgart)
www.solites.de

