Der Produktentstehungsprozess und seine Standards

Herausforderungen für den Mittelstand in der Automobilindustrie

Wer als Unternehmen im Automotive-Bereich Kunden der Automobilindustrie mit Technologien beliefern möchte, braucht als Voraussetzung die Zertifizierung nach DIN EN ISO 9001. Auf dieser basiert wiederum die Norm IATF 16949, ein verbindlicher Standard der International Automotive Task Force mit insgesamt über 800 Anforderungen. Als IATF-Auditoren wissen die Steinbeis-Experten Petra Ohlhauser und Christoph Seyfried, welche Schritte und Herausforderungen – gerade für den Mittelstand – im Produktentstehungsprozess anstehen.

Produktentstehungsprozess

 

Ein Lieferantenauswahlprozess in der Automobilzulieferkette ist dann gelungen, wenn die ersten Schritte der Angebotsphase sowie eine ISO 9001-Zertifizierung erfolgreich durchlaufen und Qualitätsmanagement-Systemaspekte – wie die finanzielle Situation, Technologien, Fachkräfte, Entwicklungs- und Fertigungskompetenzen – in einer Potenzialanalyse nach dem Qualitätsstandard VDA 6.3 positiv bewertet wurden. Dann folgt, entsprechend spezifischen Kundenanforderungen, eine Weiterentwicklung der über 300 ISO 9001-Vorgaben hin zu den zusätzlichen 500 IATF-Anforderungen. Dabei werden unter anderem Aspekte wie Schwerpunkte des Produktentwicklungsprozesses (PEP) und Erstbemusterung, Risikomanagement (von System-, Prozess- und Produktrisiken), Notfallplanung in den Bereichen Energie- und Cybersicherheit, Personalmangel, Management der weiteren Lieferkette, Korruptionsprävention sowie Einkauf neuer Maschinen oder Werkzeuge berücksichtigt.

Hohe Anforderungen an den PEP

Die Vollvermessung der Erstmusterneuteile im PEP gemäß Spezifikation und Maschinenfähigkeit hat höchste Priorität. Hier kommt die Qualitätsvorausplanung (QVP) ins Spiel, die mithilfe der Reifegradabsicherung (RGA) und des Advanced Product Quality Planning (APQP) ausgeführt wird und hohe Anforderungen an das Projekt- und Ressourcenmanagement, die Produktions- und Messtechnologien, Qualitätswerkzeuge des Risikomanagements, Prozessfähigkeiten und Reduzierung der Messunsicherheiten hat. Denn lediglich Erstmusterteile zu vermessen und freizugeben reicht nicht aus: Vom Wareneingang über die Logistik und Produktion bis zum Warenausgang müssen die Technologien mit Produktions- und Prüfplanung, Fehlermöglichkeits- und Einflussanalysen (FMEA), Qualitätswerkzeugen und Reaktionsplan im Produktionslenkungsplan zur Steuerung und Überwachung hinterlegt sein. Auch in Reaktionsplänen muss es einen Plan B für fehlerhafte Produkte, Probleme bei Prozess- und Prüfmittelfähigkeiten, Ausfall von Anlagen und komplexen Prüfmitteln geben, um die Lieferkette nicht zu unterbrechen.

Risiken reduzieren – Qualitätsniveau halten

Der VDA-Band 2 „Sicherung der Qualität von Lieferungen“ beschreibt das Verfahren zur Produktionsprozess- und Produktfreigabe im PEP. Zusammen mit dem Produktionsteil-Abnahmeverfahren (Production Part Approval Process, PPAP) ist er ein sehr wichtiger Standard der Automobil- und Zulieferindustrie. Risiken sollten über Produkt- und/oder Prozess-FMEA auf ein annehmbares Niveau reduziert und vor allem die besonderen Merkmale zur Sicherheit, Zulassung sowie Funktion risikobasiert analysiert und dokumentiert werden. Nach Freigabe des Erstmusterprüfberichtes durch den Kunden folgt die Fertigung größerer Vorserien und Serien sowie eine mögliche Bewertung der Mengen-Anlaufkurve durch Kundenaudits.

Im Rahmen einer Requalifikation der Automobilteile muss der Erstmusterstandard in einem regelmäßigen Zeitintervall überprüft werden – das verursacht einen größeren Aufwand und muss im Angebot sowie in der Kalkulation vor Einstieg in den PEP berücksichtigt werden. Je nach kundenspezifischer Anforderung in den Qualitätsvereinbarungen muss eine Vollvermessung aller Spezifikationsmerkmale sowie der Einsatz der Automotive Core Tools (dazu zählen unter anderem FMEA, APQP oder PPAP) erfolgen. Ziel ist es, im Fehlermanagement und bei Lieferengpässen nicht auffällig zu werden und die Teileversorgung gemäß Kundenvertrag sicherzustellen. Möglichen Reklamationen sollte vorgebeugt werden und falls sie doch auftreten, sollte die 8D-Methode als teamorientierter Problemlösungsansatz angewendet werden.

Dokumentation ist wesentlich

Gerade Managementthemen münden in dokumentierten Informationen und Prozessen, daher ist es wichtig, ein auf das Unternehmen ausgerichtetes Prozessmanagement zu entwickeln und praxisorientiert umzusetzen. Abgesteckte Verantwortungsbereiche, eindeutig definierte Befugnisse und ein klares Rollenverständnis in Kombination mit dokumentierten Visionen und Zielen sowie KPI-Tracking sind die Grundlagen dafür. „Nur wer ein Controlling hat, kann etwas verbessern!“, wissen die Steinbeis-Unternehmer Petra Ohlhauser und Christoph Seyfried aus Erfahrung. Und hier setzt auch die Norm IATF 16949 an, um Prozesse mit geeigneten Methoden, wie zum Beispiel statistischer Prozessregelung (SPC), Inline-Messungen, Schnittstellenbewertungen oder Prozessaudits, zu messen, analysieren und bewerten. Um einen Überblick über die erzielten Ergebnisse zu bekommen, führt die Unternehmensleitung regelmäßig eine Managementbewertung durch, anhand derer die Leistung der Organisation in Bezug auf die gesetzten Ziele überprüft wird. Der PDCA-Zyklus (Plan, Do, Check, Act) hilft darüber hinaus zu erkennen, an welchen Stellhebeln gearbeitet werden muss, um noch besser zu werden beziehungsweise den erfolgreichen Zustand zu bewahren.

Blick in die Zukunft

„Es ist für uns als IATF-Auditoren interessant, wie sich die Kompetenz und das Bewusstsein der Führungskräfte und Mitarbeiter von Audit zu Audit oder von Workshop zu Workshop steigert“, betonen die beiden Steinbeis-Unternehmer aus Gosheim. Während Mitarbeiter sich mit Prozessrisiken in Planung, Produktion und Logistik beschäftigen und Datenblätter und Regelkarten praxisorientiert interpretieren, setzen sich Führungskräfte mit Kennzahlen zu Prozessfähigkeiten und Messunsicherheiten auseinander. Die Betrachtung von Risiken, Vorbeugemaßnahmen und Notfallplänen zu Themen wie Personalmangel, Cybersicherheit oder Lieferkettenunterbrechungen sind wesentliche Anforderungen an das Management. An dieser Stelle geht es nicht mehr nur um die Dokumentation, sondern es muss auch eine Prävention und Wirksamkeitsprüfung erfolgt sein. Der risikobasierte Ansatz ist systemisch-prozessual und produktspezifisch zu gewährleisten. Diese Herausforderung will auch in und für die Zukunft gemeistert werden – und das nicht nur für die Automobilindustrie.

Kontakt

Petra Ohlhauser (Autorin)
Steinbeis-Unternehmerin
Steinbeis-Transferzentrum TQI Innovationszentrum (Gosheim)
www.tqi.de

Steinbeis-Transferzentrum TQI Metricon Kalibrierservice (Gosheim)
www.tqi.de

Christoph Seyfried (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum TQI Metricon Kalibrierservice (Gosheim)
www.tqi.de

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