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DigitALMA Mater: Virtualität als Lernumgebung der Zukunft

Ein Exposé über Lehre und Lernen im digitalen Raum

Was brauchen Menschen, damit digitale Bildung gelingen kann? Neue Technik, virtuelle Plattformen und Welten sowie digitale Didaktik und Pädagogik beschäftigen uns so sehr, dass wir das eigentliche Ziel – die Bildung – aus den Augen verlieren. Tilo Staudenrausch, freiberuflicher Projektleiter am Steinbeis-Beratungszentrum Management Moves, Brand & Innovation und Professor an der DIPLOMA Hochschule, stellt eine mögliche Lösung für das digitale Dilemma im Hochschulumfeld vor: die DigitALMA Mater.

Wenn Tilo Staudenrausch durch die Hochschule geht, an der er lehrt, dann wird ihm die Bedeutung seiner „Alma Mater“ – für sich persönlich, aber auch als Bildungsstätte – bewusst: „Seit Generationen lassen hier Menschen, die vergleichbare Ziele haben, Wissenschaft lebendig werden. Man kann also von einer geistigen Heimat sprechen.“ Heimat – das ist ein Ort oder zumindest ein Umfeld, zu dem im weitesten Sinne auch Vertrautes, Sprache, Kultur oder Menschen gehören. Durch die Pandemie wurde diese Heimat plötzlich auf eine virtuelle Ebene verlagert, Kameras, Mikrofone und mehrere Bildschirme wurden zur Grundausstattung auf den Schreibtischen. Das brachte auch Herausforderungen für die Wissensvermittlung mit sich: Man traf sich, aber war nicht (körperlich) da, die Technik löste Unsicherheiten aus, es gab Kommunikationsschwierigkeiten. „Manchmal fühlte ich mich wie ein Regisseur, musste mich mit der Technik auskennen und mit verschiedenen Plattformen auseinandersetzen. Die Konzentration verlagerte sich von den Inhalten auf die Umstände“, blickt Tilo Staudenrausch auf den Beginn der Pandemie zurück.

Zusammenspiel von Bildung und Raum
Bildung ist eng mit Raum verknüpft, denn Menschen sind in einer raumgebenden Umgebung sozialisiert: Sie gehen in den Kindergarten, die Schule, auf die Universität und zur Arbeit. Sie betreten einen Raum, der ihnen vertraut ist, in dem sie soziale Beziehungen und Emotionen haben, den sie aktiv gestalten und der dadurch zur Heimat wird. Aber wie kann virtuelle Heimat erzeugt werden und virtuelle Bildung gelingen? Entscheidend ist die Einstellung der handelnden Personen: Wenn sie eine Anti-Haltung zu virtuellen Umgebungen an den Tag legen, überträgt sich das auf die Teilnehmenden. Sehr deutlich wurde das bei den ersten Corona-bedingten Schulschließungen und durch den Begriff „Distance Learning“, bei dem die Abneigung schon im Wort steckt und der impliziert, dass ein „richtiger“ Lernraum nicht ersetzt werden kann. Tilo Staudenrausch widerspricht dem: „Gut sozialisierte, virtuelle Lerngruppen haben einen viel engeren Verbund als reale. Die Teilnehmenden nutzen die gemeinsame Zeit intensiver und vernetzen sich auch außerhalb der formellen Zeiten.“

Veränderungen in Lehre und Lernen
Die klassische Wissensvermittlung in Form von Vorträgen oder Vorlesungen ist ein aussterbendes Modell. Die konstruktive Idee ist prozessorientiert: Hier coachen die Lehrenden den Lernprozess der Lernenden.[1] Damit verändert sich auch die Rolle der Lehrenden innerhalb der Lerngruppe – von Wissensvermittlern hin zu Moderatoren. „Wenn Virtualität als Möglichkeit begriffen wird, den Zuhörenden näher zu sein, dann sind auch kaum Widerstände spürbar“, ist Tilo Staudenrausch überzeugt. Der virtuelle Raum eröffnet Inklusion: Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht in Präsenz an Veranstaltungen teilnehmen können, bekommen dadurch die Gelegenheit dazu.

Wie die DigitALMA Mater gelingen kann
Bildung ist immer unsicher und ihr Gelingen kann nicht garantiert werden, aber die Menschen können Umstände schaffen, die dazu beitragen, dass Lehre auf fruchtbaren Boden fällt. Dabei geht es in erster Linie nicht um Didaktik oder Pädagogik, sondern um Heimat und die damit verbundenen Elemente: Raum, Vertrautheit, Unterscheidbarkeit, soziale Beziehungen, Emotionen und aktive Gestaltung.[2] Der Raum ist dabei das zentrale Element: Unterschiedliche digitale Plattformen bieten unterschiedliche Möglichkeiten den Raum zu gestalten. Wie in der Realität, in der es die Vortragssituation, den Stuhlkreis oder ein Labor gibt. Alles sind einzigartige Situationen, die von den Teilnehmern eine persönliche, zu ihnen passende Raumgestaltung verlangen. Vertrautheit wird durch das Zusammenspiel dreier Aspekte erzeugt: Gewohnheit entsteht durch Rituale, zum Beispiel wenn Veranstaltungen mit einer bestimmten Titelmelodie beginnen, bei der die Teilnehmenden im Anschluss noch Zeit für Smalltalk oder einen Tontest haben. Veränderungen entstehen in Inhalten, aber auch in Verantwortungen: Je weiter die Teilnehmenden in den Vorlesungen fortschreiten, umso mehr Verantwortung bekommen sie bei deren technischer und inhaltlicher Gestaltung. Der dritte Aspekt – Spannung – wird, ähnlich wie bei TV-Serien, durch Cliffhanger erzeugt, die Vorfreude und Aufmerksamkeit wecken. Jede Zoom-Konferenz sieht gleich aus und es kann kaum Einfluss auf die Gestaltung des Raumes genommen werden – trotzdem soll eine Unterscheidbarkeit erreicht werden, beispielsweise durch bestimmte visuelle Elemente, Musik und andere Tonquellen oder auch Haptik. Das bedeutet, dass gerade in virtuellen Lernumgebungen Körperlichkeit in die Lernmethoden einbezogen werden sollte, etwa in Form von Serious Game Play oder Schnick-Schnack-Schnuck. Da Teilnehmende in Online-Veranstaltungen häufig Kamera und Mikrofon ausschalten, können kaum soziale Beziehungen entstehen – dabei tragen diese Interaktionen wesentlich zum Lernerfolg bei. Lernen ist nicht nur das Aneignen von Wissen, sondern beim Lernen werden Beziehungen zwischen Informationen hergestellt, die schließlich zu Wissen führen. Die emotionale Anbindung an Lernereignisse schafft individuelle Erlebnisse und damit auch eine stärkere Beziehung zu den Inhalten. Methoden wie Flipped Classroom oder Eduscrum können dabei unterstützen. Bei der aktiven Gestaltung ist eine aktive Beteiligung der Teilnehmenden gefordert.

Haltung der Bildungseinrichtungen
Die Institutionen sollten ihre Haltung zu virtueller Lehre und einzelnen methodischen und didaktischen Bausteinen klar kommunizieren, denn mit der Grundhaltung der Lehrenden steht und fällt das Gerüst der DigitALMA Mater, sie sind deren Repräsentanten und werden innerhalb der Lerngruppen einfacher akzeptiert. Viele der analogen Lernmethoden und -übungen lassen sich nicht ohne Adaptionen in den virtuellen Raum übertragen. „Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese Anpassungen auf allen Fachgebieten funktionieren, egal wie theoretisch oder praktisch diese ausgeprägt sind“, berichtet Tilo Staudenrausch. Wichtig ist es dabei, auch die Lernenden einzubinden und sie an der Entwicklung neuer Formate teilhaben zu lassen, um so einen Mehrwert für Lehre und Lernen zu erzielen. Und: Die meisten dieser virtuellen Ideen lassen sich andersrum wieder ganz leicht in reale Veranstaltungen übertragen.

Heute gestaltet Tilo Staudenrausch seine Veranstaltungen aus seinem Büro, dort ist alles auf virtuelle Vorlesungen ausgelegt: Eine stabile Internetanbindung, große Monitore, zwei Kameras, gute Beleuchtung und ein gutes Mikrofon. Er freut sich über diese Entwicklung: „Die erste Generation von Akademikern ist bereits so sozialisiert, dass auch im virtuellen Raum Wissenschaft und Kreativität lebendig werden können. Hier ist unsere geistige Heimat.“

Kontakt

Prof. Tilo Staudenrausch (Autor)
Freiberuflicher Projektleiter
Steinbeis-Beratungszentrum Management Moves, Brand & Innovation (Bönnigheim)


Quellen
[1] WILDT, J.: Ein Hochschuldidaktischer Blick auf Lehren und Lernen. Neues Handbuch Hochschullehre (NHHL) 2001, A 1.1.
[2] https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/heimat
217078-23