Im Gespräch mit Professor Dr.-Ing. Cristóbal Curio, Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Mensch-zentrierte Künstliche Intelligenz
Eine künstliche Intelligenz, die trotz allem Maschinendenken den Menschen im Fokus hat. Ist das eine Utopie oder ein mögliches Szenario für die zukünftige Weiterentwicklung der KI? Unter anderem darüber hat sich die TRANSFER mit Professor Dr.-Ing. Cristóbal Curio unterhalten. Er ist Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Mensch-zentrierte Künstliche Intelligenz und Prodekan für Forschung an der Hochschule Reutlingen.
Herr Professor Curio, Sie legen Ihren Fokus auf die Mensch-zentrierte künstliche Intelligenz, worum geht es dabei genau?
Meine Arbeiten sind vom Motiv „Vom Menschen – für den Menschen lernen“ geleitet. Ich denke, dass gerade in diesem Wechselspiel technische Innovationen für den Menschen entstehen und sich somit Industriebranchen weiterentwickeln lassen. Idealerweise entstehen dabei neue methodische Sichtweisen, mit denen sogar die menschliche Kognition erforscht werden kann. Das ist ein Anliegen, das auf meine Zeit in der Grundlagenforschung im Bereich menschlicher Kognition an den Max-Planck-Instituten in Tübingen zurückgeht. Die Idee der Mensch-Zentriertheit im Bereich der künstlichen Intelligenz ist nicht neu und kann einen wichtigen Beitrag zur Industrie 4.0 oder zu cyber-physischen Systemen beisteuern, genauer gesagt, zu allen Bereichen, in denen der Faktor Mensch auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird. Die Herausforderung liegt darin, den Menschen als einen sich nicht-deterministisch und sehr unterschiedlich verhaltenden Faktor zu verstehen.
In aller Munde sind autonome Systeme, die einen großen Nutzen versprechen, beispielsweise autonome Fahrzeuge oder Systeme mit hohem Automatisierungsgrad. Autonome Systeme sind per Definition zunächst nicht Mensch-zentriert. Betrachtet man insbesondere höhere Geschwindigkeitsregime und zudem noch Räume, in denen Menschen vorkommen – beispielsweise urbane Lebensräume – erahnt man, dass diese Systeme ein hohes Gefährdungspotenzial darstellen. Umso mehr müssten sie ein quasi menschliches Verständnis über Menschen erhalten, um nicht als egoistische Systeme mit Vorfahrt zu gelten. Autonome Systeme ohne menschenähnliches Verständnis von Menschen wären aus derzeitiger verkehrstechnischer Sicht nicht akzeptabel.
Auf technischer Seite liegt mein Fokus auf der Optimierung und Nutzbarmachung von Algorithmen des maschinellen Lernens, mit denen Sensortechnologien intelligenter werden. Der Mensch ist hier in vielerlei Hinsicht ein Vorbild, das über seinen gesamten „Lebenszyklus“ hinweg das Zusammenspiel seiner Sinneswahrnehmungen optimiert, unter anderem durch Lernprinzipien. Auch wenn noch lange nicht alle Mechanismen der menschlichen Wahrnehmung verstanden sind, so lassen sich dennoch spannende Anforderungen an technische Sensorsysteme aus dem Wechselspiel der Sinne ableiten, um diese intelligent zu gestalten. Das sollte auch soziale Intelligenz einschließen. Und es führt zu verblüffenden neuen Funktionen: Beispielsweise können damit erweiterte Sinneswahrnehmungen aus menschlicher Sicht erzeugt werden, was die Sicherheit von Systemen erhöht. Häufig spielt für einen Nutzer bei Anwendungen die Berücksichtigung von menschlichen Eigenschaften eine große Rolle. Das kann zum Beispiel ein Sichtunterstützungssystem oder eine Aufmerksamkeitssteuerung im Auto sein. „Mensch-zentriert“ bedeutet hier, dies geschlossen in einem gesamten Entwicklungssystem zu betrachten. Spannend wird es, wenn Nutzer jenseits einer Norm Berücksichtigung finden. Das erfordert KI-basierte Technologien, die barrierefrei und in einer alternden Gesellschaft für jeden nutzbar sind.
Die Realisierung KI-basierter Systeme ist für mich ebenso wichtig, wie deren Folgen abschätzen zu können. Hier bieten neue VR-Technologien durch Interaktionsmöglichkeiten ein realitätsnahes Erleben von Zukunftstechnologien. Gleichzeitig stellen diese Simulationsinteraktionstechnologien Innovationsgrundlagen dar. Sie bieten die Basis, kritische Situationen, sogenannte Corner-Cases, zu produzieren und intelligente Systeme damit abzusichern. In vielen Bereichen ist die notwendige Datengrundlage für ein System nicht vorhersehbar. Ein Ausweg ist die Nutzung aufwendiger, möglichst naturgetreuer Datensimulationen. Hier zeichnen sich immer stärkere Lösungen ab. Eine Herausforderung besteht hier insbesondere in der Sensorsimulation in Form der beschriebenen Abbilder von Menschen, deren Verhalten nach wie vor nicht in all ihren Facetten synthetisierbar ist. Aber auch hier entstehen gerade spannende Forschungsergebnisse, die sich für einen Transfer in verschiedenste Anwendungen eignen.
In vielen der genannten Bereiche hält die Forschung Grundlagen bereit. Hieraus sind bereits Verfahren hervorgegangen, die Anwendung in verschiedensten Branchen finden.
Sie sprechen vom maschinellen Lernen wie auch der KI. Wie grenzen sich diese beiden Begriffe voneinander ab?
Maschinelles Lernen wird als ein Teilgebiet der künstlichen Intelligenz gesehen und entwickelt sich zurzeit noch sehr dynamisch. Der heutige Sprachgebrauch der künstlichen Intelligenz bezieht häufig die Definition des maschinellen Lernens mit ein. Hier kommen insbesondere bei begrenzt zur Verfügung stehenden Daten, auch Beobachtungen genannt, lernende Methoden zum Einsatz. Maschinelles Lernen erweitert häufig auch bisherige intelligente Suchstrategien, was die Lösung komplexer Optimierungsaufgaben erlaubt.
Vor welche Herausforderungen stellt die aktuelle Entwicklung im KI-Bereich aus Ihrer Sicht Unternehmen, insbesondere KMU?
Viele Neuerungen im Bereich der KI betreffen den methodischen Bereich. Die Methoden werden oft im Zusammenhang mit speziellen Benchmarks von forschenden KI-Wissenschaftlern entwickelt. Hier muss häufig erst das jeweilige Abstraktionslevel erkannt werden, um bei diesen Neuerungen die Relevanz für eine Anwendung zu erkennen. Die Problemlösungsklassen lassen sich in Unternehmen meist schnell identifizieren: Teilweise stellen sich Lösungsansätze für Unternehmen zunächst als komplex dar, teilweise steht das notwendige Expertenwissen nicht zur Verfügung. Eine empirische KI erfordert zudem immer die Verfügbarkeit von relevanten Daten. Der Wert von Daten schließt häufig Domänenwissen zu bestimmten Ereignissen ein. Leider treten wichtige Ereignisse selten auf, sodass sich ein großer Datensatz als weit weniger wertvoll als zunächst angenommen herausstellt.
Viele Branchen befinden sich im Aufbruch zur Nutzung von KI. Während die Automobilindustrie derzeit den Beweis der Umsetzung des allgemeinen autonomen Fahrens noch erbringen muss und KI hier unbestreitbar eine wesentliche Rolle spielt, verbergen sich große Märkte zum Beispiel in Assistenzsystemen anderer Art, wie in der Mikroelektronik beim automatischen analogen Schaltungsentwurf. Hier zeichnet sich ab, dass eine Kombination von geeigneten Simulationen, Expertenwissen und datengetriebenen KI-Methoden wie dem Reinforcement-Learning in Zukunft einen großen Beitrag leisten kann.
Sind erste Lösungen für ein Problem gefunden und implementiert, müssen deren Betrieb und Wartung gewährleistet werden. Hier wird insbesondere bei größeren Datenmodellen noch viel Erfahrung gesammelt. Während viele technologische Herausforderungen durch zukünftige Dienstleister gelöst werden können, besteht aber großer Bedarf an neuen Software- und KI-Hardware-Produkten. In jedem Fall stellen Haftungsfragen, vor allem im Bereich der Gesundheitsindustrie, eine große regulatorische Herausforderung dar.
Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema KI-Ökosystem. Welches Potenzial verbirgt sich gerade für produzierende Unternehmen dahinter?
Komplexe Innovationen, insbesondere in klassischen produzierenden Unternehmen, erfordern immer komplexere Verbünde und ineinandergreifende Beiträge. Vor allem kleinere produzierende Unternehmen müssten mühsam KI-Wissen aufbauen und den Nutzen von KI an verschiedensten Stellen erkennen: Das Spektrum reicht von Automatisierungsfragen bis hin zu Qualitätssicherungsaspekten. Wir erwarten, dass hier wiederkehrende Lösungen nachgefragt werden, die eine Integration verschiedener Anbieter erfordert. Gefragt werden neue KI-Ökosysteme sein, quasi KI-Zulieferverbünde, die sich optimal ergänzen. Es ist zu hoffen, dass gerade produzierende Unternehmen im Rahmen solcher KI-Ökosysteme neue Impulse bis in die KI-Grundlagenforschung geben können und hier neue KI-Forschungs-Benchmarks entwickelt werden, die nachhaltig ganze Industriezweige voranbringen. Eine Herausforderung werden agile Wettbewerber sein, die KI gekonnt einsetzen, sehr früh in ihre Produkte integrieren und damit schneller und effizienter produzieren oder komplett neue Geschäftsmodelle entwickeln.
Kontakt
Prof. Dr.-Ing. Cristóbal Curio (Interviewpartner)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Mensch-zentrierte Künstliche Intelligenz (Tübingen)