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„Im Kern geht es darum, die eigenen Kernkompetenzen grundlegend weiterzuentwickeln“

Im Gespräch mit Professor Dr. Christoph Zanker, Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Industrielles Innovations- und Transformationsmanagement

Die gegenwärtige Rezession nimmt so manches Unternehmen zum Anlass sich neu zu orientieren. Gerade der Mittelstand kann dabei von Ecosystemen profitieren, meint Professor Dr. Christoph Zanker. Als Innovationsberater und Steinbeis-Unternehmer am Steinbeis-Transferzentrum Industrielles Innovations- und Transformationsmanagement begleitet er seit über zehn Jahren zahlreiche Unternehmen beim Aufbau solcher Netzwerke und weiß genau, wo­rauf zu achten ist, damit die Partnerwahl kein Glücksspiel wird.

Herr Professor Zanker, viele Unternehmen kämpfen aktuell damit, ihr Kerngeschäft aufrechtzuerhalten. Ist in dieser Situation überhaupt an neue Produkte und Veränderungsprozesse zu denken?

Meiner Wahrnehmung nach setzen sich die meisten Entscheidungsträger in der Industrie genau damit auseinander. Und das aus gutem Grund, denn die aktuelle Pandemie hat in vielen Bereichen eine katalytische Wirkung. Aus latent absehbaren technologischen oder marktlichen Veränderungen sind radikale Brüche geworden. Vielen Unternehmen ist bewusst, dass Kompetenzen, die bisher Basis für ihre Innovations-, Schaffens- und Ertragskraft waren, nach der Krise teilweise, schlimmstenfalls ganz entwertet werden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir das Thema Wartung oder Reparatur komplexer Anlagen. Wer konnte sich vor anderthalb Jahren vorstellen, dass es plötzlich nicht mehr möglich ist, Servicetechniker an jeden Ort der Welt zu entsenden? Genau das ist aber passiert. Die Shutdowns und Reiserestriktionen haben daher die Na­chfrage nach datenbasierten Re­mote-Services schlagartig erhöht. Zwar waren die Technologien und Anwendungen schon vorher am Markt verfügbar, hatten aber eher Exotenstatus mit wenigen Nutzern. Was sich jetzt aber erfolgreich etabliert hat, wird auch nach Corona nicht einfach wieder verschwinden. Vielmehr können wir davon ausgehen, dass Remote-Services in den nächsten zwei bis drei Jahren zum Standard werden. Ein exzellentes Netzwerk mit vielen Service-Niederlassungen, das gestern einen echten Wettbewerbsvorteil mit sich gebracht hat, ist übermorgen nur noch halb so wertvoll.

Was raten Sie Unternehmen, die mit solchen Veränderungen umgehen müssen?

Die Gefahr, nach der Krise über kurz oder lang nicht mehr mit den Marktanforderungen mithalten zu können, ist den meisten Unternehmen bewusst. Reihen geschlossen halten, so viel Wertschöpfung wie nur möglich im Hause abdecken, risikoreiche Innovationsprojekte zurückstellen – auf den ersten Blick scheint das die richtige Taktik aus dem Lehrbuch zu sein. Genau das kann aber für Unternehmen fatal werden und das viel proklamierte „Disrupt yourself“ ist dabei auch keine Hilfestellung. Die Fragen nach dem „was“ und dem „wie“ sind alles andere als trivial. Aus einem TIER3-Hochpräzisionsteilefertiger wird nun mal über Nacht kein datenbasierter Systemlieferant für Medizintechnik. Darum geht es aber auch gar nicht, vielmehr muss das Ziel sein, neue Technologien zu erschließen, neue Anwendungen zu entwickeln und nutzengenerierende Leistungsangebote für bestehende und neue Kundengruppen aufzubauen. Und das mit hoher Geschwindigkeit.

Im Kern geht es darum, die eigenen Kompetenzen grundlegend weiterzuentwickeln, umzuwidmen und um fehlende Bausteine zu ergänzen. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Eine Variante ist, die erforderlichen Fähigkeiten selbst aufzubauen. Das ist aber ein langwieriger Prozess und das Risiko ist groß, wenn alle Ressourcen bei hoher Unsicherheit auf eine Karte gesetzt werden. Gerade wenn es um komplexe, hybride oder datenbasierte Leistungsangebote geht, ist es empfehlenswerter auf Ecosysteme zu setzen.

Dass Unternehmen für neue Leistungsangebote kooperieren, ist an sich nichts Neues. Worin genau liegt der Unterschied zu einem Ecosystem?

Ein Ecosystem geht über die bekannte Zulieferer-Abnehmer-Beziehung deutlich hinaus. Es handelt sich um dauerhafte Kooperationen zwischen verschiedenen Akteuren, die ein gemeinsames Ziel eint, nämlich die Entwicklung und Erbringung neuer und innovativer Leistungsangebote. Ecosysteme sind damit keine sequenzielle Kette, sie haben vielmehr einen netzwerkartigen Charakter. Die Interaktion zwischen den Akteuren ist intensiver, vor allem wissensintensiver und damit noch stärker auf Innovation ausgelegt. Auch die Machtasymmetrien zwischen den beteiligten Unternehmen sind deutlich geringer. Jeder einzelne Akteur gewinnt daher auch an Bedeutung für das Leistungsangebot insgesamt und ist weniger austauschbar.

Das klingt erstmal vielversprechend, warum tun sich Ihrer Erfahrung nach viele Unternehmen dennoch so schwer mit der Partnersuche?

Häufig begegnen mir zwei Extreme: Die Konservativen benennen einen „Kooperationsbeauftragten“ oder bestenfalls eine „Task Force New Business“, die sich jetzt „endlich mal dem Thema annehmen soll“. Die vermeintlich Progressiven setzen auf Co-Working-Spaces und Innovationhubs und proklamieren eine neue wertebasierte Scheiterkultur, bei der kooperative Innovationen aber höchstens aus Zufall entstehen. In der Praxis sind beide Ansätze Irrwege, weil sie keine substanziellen Änderungen mit sich bringen. Innovationen entstehen nicht aufgrund der Tatsache, dass einige Führungskräfte jetzt weiße Sneaker tragen, und der Aufbau eines Ecosystems folgt auch nicht dem Zufallsprinzip, sondern vielmehr einer klaren Vision und Zielsetzung. Das ist zu 98 Prozent harte Arbeit und vor allem planbar. In der Organisation muss dann an vielen kleinen und großen Stellschrauben systematisch und integriert gedreht werden: Die eigene Rolle im Ecosystem muss definiert, neue Innovationsprozesse auf- und umgesetzt und die nötigen Schnittstellen nach innen und außen geschaffen werden. Diese Schnittstellen werden durch sogenannte Boundary Spanner personifiziert, die – unternehmensübergreifend – kollektive Innovationsprozesse fördern, gemeinsame Wissensbestände entwickeln und Impulse intern wie extern kanalisieren, um sie auch verwerten zu können.

Wenn alles Wissen geteilt wird, birgt das doch auch gewisse Risiken?

Das ist richtig, gilt aber für jede geschäftliche Beziehung. Entscheidend ist immer, wie man damit umgeht. Speziell im Fall von Ecosystemen muss man sich klar machen, wie stark die eigene Abhängigkeit von der Leistung der anderen ist. Fällt ein Partner aus oder agiert opportunistisch, dann kann ein komplettes Leistungsangebot in sich zusammenfallen. Auch kann es Sinn machen, dass Unternehmen, die bisher im Wettbewerb zueinanderstanden, Kooperationen eingehen. Das ist nicht unmöglich, bedarf aber anderer Taktiken und Muster. Kurzum: Es muss eine permanente und sehr bewusste Chancen-Risiken-Abwägung stattfinden und die eigene Organisation strukturiert geöffnet werden, sonst lassen sich die externen Kompetenzen nicht verwerten.

Wie kann das konkret aussehen?

Ein Beispiel: Ich durfte über drei Jahre hinweg einen mittelständischen Hersteller von Standard-Heizelementen für Weiße Ware begleiten, ein klassisches Lowtech-Produkt. Da die Kunden zunehmend in Niedriglohnländer abwanderten, waren die Zukunftsaussichten eher düster. Das Unternehmen stand vor der Wahl: Transformieren und massiv Innovationskraft aufbauen oder vor sich hindümpeln. Durch den Aufbau eigener Entwicklungskompetenzen, vor allem aber durch den Zusammenschluss mit anderen Herstellern und Technologielieferanten, ist es dem Unternehmen gelungen, komplexe Hightech-Anwendungen und ein viel breiteres und kundenindividuelles Leistungsangebot zu realisieren. Heute hat das Unternehmen eine umfassende Transformation hinter sich und liefert im Netzwerk sehr erfolgreich Hightech-Anwendungen in den Maschinenbau. Der Aufbau solcher Ecosysteme und die damit einhergehende Transformation sind also auch für mittelständische Unternehmen kein Hexenwerk, wenn die Aufgabe systematisch angegangen wird. Häufig braucht es lediglich einen Impulsgeber und etwas strukturierende Unterstützung von außen, um schnell erste Erfolge zu verbuchen.

Viele große Unternehmen kooperieren verstärkt mit Start-ups. Macht das auch für kleine und mittelständische Unternehmen Sinn?

Eindeutig ja. Meiner Erfahrung nach klappen solche Kooperationen häufig sogar deutlich besser als mit den großen Playern. Das hat vor allem drei Gründe: Erstens ist – entgegen vieler Unkenrufe – die Anpassungsfähigkeit von Mittelständlern sehr ausgeprägt und es besteht ein ehrliches Interesse da­ran, langfristig zusammenzuarbeiten und sich gegenseitig zu unterstützen. Zweitens sind die Machtasymmetrien zwischen den Kooperationspartnern deutlich geringer. Junge Unternehmen können dem Mittelstand oft bei der Digitalisierung neue Türen öffnen, während sie selbst von konkreten Anwendungsfällen und Marktzugängen profitieren. Und zu guter Letzt sind die Innovationskulturen im Mittelstand und bei Start-ups deutlich ähnlicher als die zwischen Großunternehmen und Start-ups, weil immer die konkrete Lösung im Zentrum steht, nicht das Image.

Kontakt

Prof. Dr. Christoph Zanker (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Industrielles Innovations- und Transformationsmanagement (Nürtingen)

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