Einsatz von mobilen Technologien und Wearables im Rahmen von klinischen Studien
In den letzten Jahrzehnten sind die Entwicklungskosten für neue Arzneimittel um ein Vielfaches gestiegen. Mehr als die Hälfte der Ausgaben entfallen hierbei auf die klinische Entwicklung. Der Einsatz mobiler Technologien und Wearables mit der Zielsetzung, klinische Forschung sicherer und wirtschaftlicher zu machen, könnte in den kommenden Jahren die klinische Forschung grundlegend verändern. Das Steinbeis- Forschungszentrum ProMyelo untersucht zusammen mit seinen Kooperationspartnern, wie dies in der Praxis umgesetzt werden kann.
Als klinische Studie bezeichnet man eine Untersuchung an gesunden Probanden oder freiwilligen Patienten, die dazu dient, bestimmte Fragen zu neuen Therapien, Impfstoffen oder diagnostischen Verfahren – oder auch neue Anwendungsbereiche bekannter Arzneimittel – zu untersuchen. Klinische Studien finden in mehreren aufeinanderfolgenden Phasen statt, im Laufe derer herausgefunden werden soll, welche Risiken eine neue Behandlung mit sich bringt, wie gut ein Medikament wirkt und wie sich die Behandlung auf verschiedene Aspekte der Lebensqualität auswirkt. Phase-I-Studien sollen Informationen darüber geben, was in Bezug auf Sicherheit und Verträglichkeit mit dem Arzneimittel im Körper passiert, nachdem es verabreicht wurde. Die Probanden werden hierfür auf das Auftreten und die Schwere von Nebenwirkungen beobachtet, nachdem sie das Medikament verabreicht bekommen haben. Phase-I-Studien werden für gewöhnlich mit einer geringen Anzahl von Teilnehmern, üblicherweise mit 6–10 gesunden Probanden, durchgeführt. Wenn das Prüfpräparat im ersten Prüfabschnitt seine Verträglichkeit unter Beweis gestellt hat, beginnt die Phase II. Im Rahmen von Phase-II-Studien sollen erste Informationen hinsichtlich der Sicherheit und Wirksamkeit eines potenziell neuen Medikamentes bei Patienten gesammelt werden. Es wird außerdem untersucht, ob unterschiedliche Dosierungen unterschiedliche Wirkungen hervorrufen. In vielen Fällen werden mehrere Phase-II-Studien durchgeführt, um das Arzneimittel in unterschiedlichen Patientenpopulationen oder Indikationen zu prüfen. Der eigentliche Nachweis der Wirksamkeit und Verträglichkeit eines Medikamentes wird im Rahmen einer Phase-III-Studie erbracht. Sie findet unter annähernd praxisnahen Bedingungen statt. Klinische Studien der Phase II und III beziehen immer (mindestens) eine Kontrollgruppe in die Untersuchung ein. Die Wirksamkeit des Prüfpräparats wird mit der Wirksamkeit der Standardtherapie (der bisher gebräuchlichen Behandlung der entsprechenden Krankheit) oder, falls es diese nicht gibt, mit der Wirkung eines Placebos verglichen. Phase-IV-Studien erfolgen, nachdem das Arzneimittel von den Behörden die Marktzulassung erhalten hat. Diese Studienphase (man spricht auch von einer Post-Marketing Phase) ist darauf ausgelegt, die langfristigen Auswirkungen der Behandlung mit dem Arzneimittel zu bewerten. Auf diese Weise können seltener auftretende unerwünschte Nebenwirkungen erfasst werden. Sämtliche Phasen der Medikamententestung sind also darauf ausgelegt, Wirksamkeit und Sicherheit eines potenziell neuen Medikamentes zu überprüfen.
Im Idealfall würde man einen Patienten kontinuierlich während der gesamten Studiendauer überwachen, um eine Veränderung der Krankheitsaktivität beziehungsweise das Auftreten von Nebenwirkungen frühzeitig erkennen zu können. In der Realität ist eine kontinuierliche Überwachung jedoch (noch) nicht umsetzbar, es sein denn, man entscheidet sich für eine stationäre Aufnahme der Patienten/Probanden. Im Rahmen von klinischen Studien werden Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten deswegen in mehr oder weniger nah zusammenliegen den zeitlichen Intervallen im Studienzentrum festgestellt. In der Regel, je nach Krankheitsbild, suchen Studienteilnehmer alle vier bis acht Wochen ihren Studienarzt auf, der den Fortschritt der Erkrankung und eventuell aufgetretene Nebenwirkungen erfasst. Für die Erfassung beider Prüfparameter steht dem Studienarzt nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung. Die Kombination aus langen Untersuchungsintervallen einerseits und kurzen Untersuchungszeiten andererseits birgt zwei potenzielle Risiken: Erstens, eventuell auftretende Nebenwirkungen werden zu spät oder gar nicht erfasst und zweitens, die Wirksamkeit einer neuen Wirksubstanz wird nur unzureichend bewertet. Beide Faktoren, alleine oder aber in Kombination, können zu einer verzögerten Zulassung neuer Medikamente sowie zu steigenden Kosten der einzelnen Studienphasen führen. In Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (C. Kohlschein; IMA und Dr. S. Jonas/mhealth) sowie der Medizinischen Hochschule Hannover (Prof. M. Stangel und S. Gingele) untersucht das Steinbeis- Forschungszentrum ProMyelo, inwiefern sogenannte „Wearables” dazu verwendet werden können, medikamentöse Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen und deren Wirksamkeit genauer beurteilen zu können.
Zu den Wearable-Technologien zählt man prinzipiell alle Geräte, die am Körper getragen werden und einen Sensor besitzen, der über eine kabellose Verbindung Daten zu einem Endgerät, meist ein Smartphone, übermittelt. Beispiele hierfür sind Fitnessarmbänder, Smartwatches, um die Brust geschnallte Messgeräte, elektronische Waagen, Blutdruckmessgeräte oder an die Kleidung angebrachte Clips. Über eine App können die erhobenen Daten prinzipiell gesammelt, über das Internet an ein Studienzentrum oder den Studienarzt übermittelt und dort systematisch ausgewertet werden. Mit Hilfe von Wearables können bereits eine Reihe verschiedener Körperfunktionen wie etwa Hauttemperatur, Gewicht, Blutdruck, Herzfrequenz, Schlafqualität, Sauerstoffsättigung des Blutes, oder die Schrittfrequenz gemessen, und damit prinzipiell in real-time überwacht werden. Es können darüber hinaus auch verschiedene kognitive Parameter, wie etwa Sprachverständnis, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, oder Exekutivfunktionen untersucht und mit Hilfe entsprechender Apps im Verlauf einer Studie beobachtet werden.
Im ersten Schritt wollen die Steinbeis-Experten im Rahmen des Projektes „WeSeniMuS“ (Wearable Sensors in Multiple Sclerosis) untersuchen, inwiefern Wearable-Technologien dazu verwendet werden können, den Gesundheitszustand von an Multipler Sklerose (MS) erkrankten Patienten zu überwachen. Zu diesem Zweck werden Probanden und MS-Patienten mit verschiedenen tragbaren Sensoren ausgestattet, ihr Gesundheitszustand nach etablierten klinischen Kriterien beurteilt und mit den Messwerten der tragbaren Sensoren verglichen. Neben der Mobilität (Apple Watch Series 3; Garmin vívosmart HR+ Fitness-Tracker) wird der Blutdruck (QardioArm), das Gewicht (QardioBase), die Herzaktivität (Qardio- Core; tragbares EKG) sowie die Sauerstoffsättigung (iHealth Air Pulsoximeter) mehrmals täglich beziehungsweise sogar kontinuierlich erfasst.
Motorische Beeinträchtigungen sind bei MS-Patienten augenscheinlich, weniger bekannt ist jedoch, dass MS-Patienten teilweise schon früh im Verlauf der Erkrankung unter kognitiven Defiziten leiden. Bis zu 70 Prozent der Patienten sind betroffen. Diese kognitiven Defizite machen sich in Form von Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten oder abnehmender Gedächtnisleistung bemerkbar. Zwei spezifische Gruppen (oder „batteries“) neuropsychologischer Tests, die „Brief Repeatable Battery for Neuropsychological Evaluation” (BRB-N) und die „Minimal Assessment of Cognitive Function in MS”-Battery (MACFIMS) werden von Experten zur Beurteilung der kognitiven Leistungsfähigkeit von MS-Patienten vorgeschlagen. Beide Batterien kombinieren mehrere Tests miteinander. Der MACFIMS kann in ungefähr 90 Minuten bewerkstelligt werden, der BRB-N in ungefähr 35 Minuten. Ziel einer solchen neuropsychologischen Testung ist die Beurteilung verschiedener kognitiver Leistungskomponenten, wie etwa Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache, Flexibilität im Denken und Problemlösefähigkeit. Die regelmäßige Durchführung kognitiver Tests bei MS-Patienten ist bisher im klinischen Alltag weitestgehend nicht etabliert und findet nur selten Einzug in klinischen Studien. In Kooperation mit Peak-App werden die Forscher mit Hilfe einer angepassten Smartphone-Software neben physischen Daten auch Daten über die Leistungsfähigkeit verschiedener kognitiver Domänen erfassen. Die Steinbeis-Experten wollen in diesem Teilprojekt die spannende Frage klären, inwiefern die von ihnen verwendete App zuverlässig die kognitive Leistungsfähigkeit von MS-Patienten im Vergleich zu etablierten Testverfahren messen kann.
Immer häufiger kommen in klinischen Studien digitale Lösungen zum Einsatz. Ein 2015 veröffentlichter Bericht der Gartner Group prognostizierte, dass bis Ende 2017 etwa zehn Prozent der klinischen Studien mit Wearables arbeiten würden. Die zunehmende Digitalisierung ist eine grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft, der sich auch die Medizin stellen muss. Während einige Bereiche mit der Digitalisierung bereits fortgeschritten sind, steht die klinische Forschung erst am Anfang dieser Entwicklung. Der Einsatz von Smartphones oder Wearables, die am (oder sogar im) Körper getragen werden, könnte die Zuverlässigkeit der Studiendaten im Rahmen von MS-Studien verbessern. Das Steinbeis- Forschungszentrum ProMyelo möchte durch die zeitgleiche Erfassung physischer und kognitiver Parameter ein ganzheitliches Patientenbild digital abbilden und so klinische Studien effizienter, günstiger, aber vor allem auch sicherer gestalten.
Kontakt
Professor Dr. med. habil. Dr. rer. nat. Markus Kipp ist Leiter des Steinbeis-Forschungszentrums ProMyelo an der Universität München. Das Steinbeis-Unternehmen bietet seinen Kunden die Planung und Durchführung von Forschungsprojekten mit neurodegenerativen und/oder neuroinflammatorischen Fragestellungen, die Entwicklung neuer in-vivo-Tiermodelle im Bereich der Neurobiologie sowie Beratung im Rahmen von präklinischen Studien (Neurowissenschaften).
Professor Dr. med. habil. Dr. rer. nat. Markus Kipp
Steinbeis-Forschungszentrum ProMyelo (München)