Im Gespräch mit Dr. Wolfgang Seeliger (Leichtbau BW) und Beate Wittkopp (Steinbeis-Transferzentrum TransferWerk-BW) über die Zukunftspotenziale des Leichtbaus
Leichtbau hat Potenzial – das belegt einmal mehr die 2019 erschienene Studie der Leichtbau BW, dem wohl größten Leichtbaunetzwerk weltweit. Sie beschäftigt sich mit dem Thema „Leichtbau im urbanen System“. TRANSFER hat sich mit Dr. Wolfgang Seeliger, Geschäftsführer der Leichtbau BW GmbH, und Beate Wittkopp, Steinbeis-Unternehmerin und Mitglied im Beirat der Leichtbau BW, zum Gespräch getroffen.
Frau Wittkopp, Herr Dr. Seeliger, können Sie uns einen kurzen Überblick über die Kernaussagen der Studie geben?
Wolfgang Seeliger: 50 Prozent Gewichtseinsparung an Material in Leichtbauweise, bis zu 40 Prozent weniger Energieverbrauch im Warenlieferverkehr und bis zu 60 Prozent weniger Wärmeeinzeleffekte – das sind die positiven Effekte, die laut unserer Studie bereits heute durch Leichtbau im urbanen Raum möglich sind. Beim Thema Nachhaltigkeit wird derzeit viel über Kreislaufwirtschaft diskutiert. Wir reden hier über riesige Ressourcenströme. So verursacht der Bausektor weltweit etwa 50 Prozent des Müllaufkommens und verbraucht rund 40 Prozent aller Ressourcen. Wenn man die vorher genannten Einsparpotenziale betrachtet, erkennt man, warum Leichtbau die Lösung für dieses Problem ist.
Ein Indikatorenmodell macht zudem bereits in der Ausschreibungsphase die Nachhaltigkeit eines Bauvorhabens sichtbar. Es bezieht sich nicht auf einzelne Gebäude oder Gebäudeteile, sondern darauf, wie viel Nachhaltigkeitseffekt durch Integration und disziplinenübergreifende Planungs- und Bauprozesse erreicht wird. Es ergänzt daher bestehende Indikatorensysteme, wie etwa das der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen, um eine „Quartierssicht“, indem es das „große Ganze“ in den Blick nimmt.
Beate Wittkopp: Die Studie kommt wie gerufen, um die Aktivitäten rund um die IBA27 (Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart) nicht nur zu bereichern, sondern mit konkreten Vorschlägen in die Projektumsetzung zu gehen. Die Besonderheit liegt aus meiner Sicht im bereits angesprochenen Indikatorenmodell. Damit gibt es endlich eine fundierte Basis für die leichtbaugetriebenen Transformationen in der Stadtgestaltung der Zukunft. Dieses Modell wird jetzt zu einem Messsystem weiterentwickelt und konkret anwendbar.
Welche Rolle spielt der Leichtbau aus Ihrer Sicht als Gestaltungselement für die Städte der Zukunft?
BW: In den Städten werden viele der Herausforderungen am schärfsten sichtbar. Entsprechend hoch ist der Veränderungsdruck. Die Städte sind gebaut! Wir müssen uns hier Spielräume erschließen, dabei hilft der Leichtbau ganz entscheidend. Der Zeitpunkt ist geradezu ideal, bietet doch die IBA 27 auch die besondere Chance, hier interdisziplinär in neuen Allianzen Konzepte zu entwickeln und Vorbildprojekte zu realisieren, aber auch Testfelder zu eröffnen und zu experimentieren.
WS: Mit Leichtbau geben wir die Stadt wieder den Menschen zurück. Die Stadt wird dabei vor allem eins: lebenswerter. Denn Flächen wie Straßen, Parkhäuser und Parkplätze gehören bisher den Autos. Hier setzt der Leichtbau als Katalysator an: Die Studie hat gezeigt, dass wir vor allem sektorenübergreifend denken müssen. Damit meine ich, dass Bereiche wie Mobilität, Infrastruktur und Architektur nicht losgelöst voneinander betrachtet werden dürfen. Es geht um die Kombination dieser verschiedenen Sektoren und um eine integrative Vorgehensweise in Konzeption, Planung und schließlich Bauausführung. Nur so kann das maximale Einsparpotenzial realisiert werden.
Und was braucht es dafür?
BW: Wir müssen uns vergegenwärtigen, wie die Städte auch untereinander im Wettbewerb stehen, als Wirtschaftsstandorte und als Lebensräume.
WS: Auf jeden Fall. Wobei das eine mit dem anderen zusammenhängt: Als Teil der Erfolgsgeschichte Berlins als Gründer-Hauptstadt gilt auch die Attraktivität der Stadt für junge, innovative Menschen. Berlin war und ist „hip“ und hat daraus wirtschaftliches Kapital geschlagen. Nun ist Berlin – städtebaulich gesehen – alles andere als attraktiv. Aber da hätten wir die Rezepte, wie Städte wieder „lebenswerter“ gemacht werden können. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Als innovatives Konzeptleichtbaufahrzeug bringt der „ILO“ nur ein Drittel der Masse eines herkömmlichen Fahrzeugs auf die Waage und besetzt – viel wichtiger – nur ein Viertel der Fläche. Stellen Sie sich vor, wie die Stadt der Zukunft aussehen könnte, wenn im Umkehrschluss drei Viertel der heutigen Verkehrsflächen frei werden würden und wir diese den Menschen zurückgeben könnten. Integrierte Logistiksysteme mit Leichtbaufahrzeugen, unterstützt durch gebäudeintegrierte Nahdistribution, gestalten auch den Warenlieferverkehr in die Stadt und zum Kunden verträglicher und effizienter, auch dadurch können Flächen frei werden. Damit wird die berühmte Leichtbau-Spirale nach unten in Gang gesetzt, bei der Einspareffekte andere (Sekundär-)Effekte auslösen und somit der Ressourcenverbrauch in einer positiven Rückkopplungsschleife verringert wird.
Und wie können wir diese Stadt von morgen realisieren?
BW: Für mich zeigt sich hier einmal mehr, welche Innovationspotenziale in übergreifenden interdisziplinären Herangehensweisen und Modellen liegen! Das ist Neu-Bau einmal aus einer ganz anderen Perspektive! Diese Veränderungen brauchen eine breite Beteiligung und eine hohe Identifikation der Bevölkerung. Die sektorenübergreifende Suche nach Lösungen gilt meiner Wahrnehmung nach für die meisten Problemstellungen, die der Wandel hin zu einem zukunftsfähigen und tatsächlich nachhaltigen Lebensraum mit sich bringt.
WS: In der Tat zeigt die Studie sehr eindringlich die Chancen und Potenziale des ganzheitlichen Ansatzes auf. Damit meine ich, dass wir die Disziplinen wie Straßenbau, Gebäudebau und Mobilität im Stadtquartier nicht länger losgelöst voneinander betrachten dürfen, sondern integriert im gesamten Stadtsystem denken müssen. Ein Beispiel aus der Studie, das das Thema Funktionsintegration sehr gut verdeutlicht, ist der Multifunktionshub. Diese Gebäudeart beherbergt eine Vielzahl von Logistikfunktionen und benötigt aufgrund der verschiedenen Nutzungen nur ein geringes Platzangebot. Durch verkürzte Wege und den Transport über mehrere Verkehrsträger reduziert der Hub zunächst einmal das Verkehrsaufkommen im Stadtkontext. Außerdem kann er neuen Zielgruppen andere Formen und Wohnräume bieten. Mikro-Wohnungen unterstützen nicht nur die kurzen Wege, sondern auch die Eindämmung des Flächenverbrauchs in urbanen Räumen. Auch die Energieversorgung des Multifunktionshubs kann multifunktional und autark sein. Eine Erweiterung, um weitere Synergien zu schaffen, wären flexible Formate wie ein Co-Working-Space, ein FabLab und eine Urban Farm auf dem Dach.
BW: Nur mit vernetzten Nutzungskonzepten und den höchstwertig möglichen Einsatz des Materials können wir im Städtebau die beschriebenen enormen Einsparpotenziale im Ressourcenmanagement und in den Stoffkreisläufen ausschöpfen, um tatsächlich eine Kreislaufwirtschaft im eigentlichen Sinne zu realisieren.
Aktuelle Entwicklungen in der Industrie wie Digitalisierung, intelligente Produktionsverfahren, Vernetzung führen dazu, dass etablierte Grenzen verschwinden und bisher getrennte Bereiche konvergieren. Was bedeutet das für den Leichtbau im Kontext eines urbanen Systems?
BW: Sehr viel! Zum Beispiel können wir Expertise aus der Automobilbranche der Region auf den Städtebau übertragen und Innovationen im wahrsten Sinne auf die Straße bringen.
WS: Die genannten Entwicklungen bieten eine große Chance für die Region, denn diese Trends spielen unseren Kernkompetenzen in die Hände. Und mit Kernkompetenzen meine ich nicht die klassischen wie Automobil- oder Maschinenbau, sondern deren Kompetenz, hochkomplexe Produkte in hochgradig voneinander abhängigen und verflochtenen Logistik- und Fertigungsprozessen automatisiert herzustellen. Dieses Kern-Know-how in den Städtebau zu übertragen unternimmt gerade der Exzellenzcluster Integrative Computational Design and Construction an der Universität Stuttgart. Ziel ist es dabei, große Teile der Bauerstellung mit Maschinenhilfe zu automatisieren und damit produktiver zu gestalten sowie auch eine direkte Brücke von der Planung in die Vorfertigung und Bauausführung zu schlagen. Das lässt sich ohne tiefgreifende Digitalisierung aller Abläufe nicht machen. Aus meiner Sicht zeichnet dieses Projekt einen möglichen Zukunftspfad für die Region vor, um deren Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, sollten die klassischen Erwerbszweige einmal nicht mehr so tragfähig sein wie heute.
Auch der Nachhaltigkeitsaspekt ist für den Leichtbau enorm wichtig, welche Herausforderungen kommen auf die Branche im Bereich des Städtebaus zu und wie sind diese zu lösen?
BW: Wir müssen die Lebensqualität in den Ballungsräumen verbessern, ohne dabei das Umland zu belasten. Das funktioniert nur, indem wir es schaffen, die Potenziale der Gebäude, der Infrastruktur, aber auch des Stadtgrüns effektiver zu nutzen und die Stoffkreisläufe zu schließen.
WS: Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir für immer mehr Menschen zusätzlichen Wohn- und Lebensraum in Städten schaffen müssen. Derzeit leben auf der Erde rund zwei Milliarden Menschen im Kindesalter. Professor Werner Sobek hat abgeschätzt, dass man die Welt von 1930 noch einmal nachbauen müsste, um für diese aktuell heranwachsende Generation Wohnraum und Infrastruktur zu schaffen. Würde man das nach deutschem Standard machen wollen, so würde man dafür rund 1.000 Milliarden Tonnen Beton und Ziegel benötigen. Diese Zahl ist nicht nur unvorstellbar groß – man könnte die Ressourcen auch nicht produzieren. Leichtbau ist per se nachhaltig, denn es wird nur so viel Material eingesetzt, wie unbedingt nötig ist. Dieses riesige Potenzial zur Ressourceneinsparung mit Leichtbau müssen wir angehen, wir können gar nicht anders.
VIRTUAL REALITY MIT DER LEICHTBAU APP
Leichtbau BW hat eine kostenlose App für iOS und Android veröffentlicht. Die Augmented-Reality-Funktion der App können Sie mit diesem Beitrag ausprobieren. Nach der App-Installation gelangen Sie im Hauptmenü über den Button „Augmented Reality“ direkt zum Feature: Erfassen Sie mit der Kamera das nebenstehende Cover der Studie und lassen Sie sich überraschen…
Hier gelangen Sie zur App: www.leichtbau-bw.de/ios oder www.leichtbau-bw.de/android
Kontakt
Beate Wittkopp (Autorin)
Steinbeis-Unternehmerin
Steinbeis-Transferzentrum TransferWerk-BW (Schönaich)
www.transferwerk-bw.de
Dr. Wolfgang Seeliger (Autor)
Geschäftsführer
Leichtbau BW GmbH (Stuttgart)