Rendering des Block B der Neuen Weststadt Esslingen © Architekten Graf + Graf, Montabaur

MEHR ALS UTOPIE: DIE KLIMANEUTRALE STADT

Steinbeis-Team setzt zukunftsfähiges Energiekonzept in Esslingen um

Klimaschutz und Energiewende erfordern neue Energieversorgungskonzepte im urbanen Raum. Welchen Beitrag können Städte und Stadtquartiere dabei konkret leisten? Dieser Frage geht das Steinbeis-Innovationszentrum Energie-, Gebäude- und Solartechnik (EGS) aus Stuttgart im Auftrag der Bundesministerien für Wirtschaft und Energie sowie Bildung und Forschung nach. Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts in der Neuen Weststadt in Esslingen entwickelt das Steinbeis-Team mit elf weiteren Projektpartnern ein zukunftsfähiges und energiewendedienliches Quartierskonzept. Mit Power-to-Gas (P2G) als Schlüsseltechnologie wird überschüssiger Ökostrom in „grünen“ Wasserstoff umgewandelt und für die Nutzung in der Mobilität, der Industrie sowie im Gasnetz aufbereitet.

Auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs in Esslingen am Neckar entsteht auf einer Fläche von 100.000 m² ein urbanes Vorzeigequartier mit rund 500 Wohnungen, Büro- und Gewerbeflächen sowie einem Neubau der Hochschule Esslingen. Die Realisierung eines klimaneutralen Quartiers ist wichtiger Baustein zur Erreichung der kommunalen Klimaschutzziele. „Gewinner bei der Entwicklung eines klimaneutralen Stadtquartieres sind weit über die künftigen Bewohner der Neuen Weststadt hinaus alle Esslinger Einwohnerinnen und Einwohner“, so Oberbürgermeister Dr. Jürgen Zieger.

ENERGIEVERSORGUNGSKONZEPT: INNOVATIV UND KLIMANEUTRAL

Der Kern des technologisch innovativen Stadtquartiers ist das vom Steinbeis-Innovationszentrum EGS entwickelte energetische Versorgungskonzept, das eine Koppelung der Sektoren Gebäude (Strom, Wärme, Kälte), Mobilität und Industrie vorsieht. Dafür wird ein sektorenübergreifendes digitales Informationsnetz („Smart Grid“) umgesetzt, bestehend aus Strom-, Gas-, Wärme- und IKT-Netz, mehreren verteilten Technikzentralen in den Gebäudeblöcken und einer Energiezentrale in der Mitte des Quartiers. Das Herzstück dieser Energiezentrale ist ein Elektrolyseur (ca. 1.000 kWel), der überschüssigen erneuerbaren Strom (lokal und überregional) in Wasserstoff umwandelt (P2G).

Der erzeugte „grüne Wasserstoff“ (250 bis 400 kg H2 pro Tag) wird dann über eine H2o-Tankstelle und eine H2-Abfüllstation in den Bereichen Mobilität und Industrie genutzt und kann perspektivisch zusätzlich über die Einspeisung in das bestehende Erdgasnetz einen wichtigen Beitrag zur Dekarbonisierung des Gasnetzes leisten. Wird zu einem späteren Zeitpunkt, beispielsweise nachts, Strom aus erneuerbaren Quellen im Stadtquartier benötigt, lässt sich Wasserstoff in Brennstoffzellen oder Blockheizkraftwerken einfach rückverstromen (G2P). Der netzstabilisierende Betrieb von Elektrolyseuren gilt als wichtiger Baustein im Kontext der Transformation des bundesdeutschen Energiesystems hin zu einer nahezu erneuerbaren Energieversorgung, mit der die angestrebten Klimaschutzziele bis 2050 erreicht werden sollen.

Neben dem Ziel einer hohen erneuerbaren Eigenversorgung durch lokalen PV-Strom – auf den Gebäudedächern werden rund 1.600 kWp installiert – wird zur Steigerung der Gesamteffizienz die beim Elektrolyseprozess anfallende Abwärme in das Nahwärmenetz eingespeist und zur Deckung des Heizenergiebedarfs der Gebäude genutzt. Dadurch wird der Wirkungsgrad des Elektrolyseurs von etwa 55 % (Wasserstoffproduktion) auf rund 90 % gesteigert.

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Durch die Integration von Batteriespeichern (gesamt rund 1.500 kWh) wird Überschussstrom aus den PV-Anlagen kurzzeitig gespeichert und damit die Eigenstromnutzung im Quartier gesteigert. Darüber hinaus sollen die Batterien genutzt werden, um zu jeder Zeit die erforderlichen Ladeleistungen für die Elektromobilität bereitstellen zu können und die Lade- und Buchungstechnik der Fahrzeuge für einen netzdienlichen Betrieb zu verbinden. Es ist geplant, die einzelnen technischen Komponenten und Versorgungssysteme über ein Smart Grid miteinander zu verbinden. Ein zentrales Energiemanagementsystem übernimmt dabei die Steuerung der Energieflüsse.

Das effiziente Zusammenspiel der innovativen Technologien in Form von stromgeführten Blockheizkraftwerken und des Elektrolyseurs wird mit einem eigens im Forschungsprojekt entwickelten Simulationstool für vernetzte Quartiere untersucht.

Für die Einbindung der Nutzer im Quartier plant das Projektteam bereits diverse Maßnahmen. So soll beispielsweise für die Mieter eine App als Nutzerinterface entwickelt werden, um zeitnahe zielgerichtete Informationen zum Energieverhalten oder zu Tarifen zu erhalten.

 

Schema der Wasserstoffnutzung aus der Energiezentrale © SIZ-EGS, Stuttgart

 

HERAUSFORDERUNG PLANUNG UND VERMARKTUNG

Die aktuellen Herausforderungen im Projekt liegen insbesondere in der Planung der Energiezentrale, die aufgrund der städtebaulichen Anforderungen zur Schaffung eines hohen Wohn- und Aufenthaltskomforts in ein unterirdisches Bauwerk integriert werden muss. Die Wasserstoffproduktion ist Ende 2020 geplant und bedarf aufgrund der urbanen Lage eines umfangreichen sicherheitstechnischen Genehmigungsprozesses, um einen sicheren und rechtskonformen Betrieb gewährleisten zu können. „Insbesondere müssen Vorurteile gegenüber Wasserstoff abgebaut werden. Die Akzeptanz der verschiedenen Nutzungsgruppen und die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger der Stadt Esslingen sind wichtige Bausteine für Erfolg und Übertragbarkeit des Projektes“, betont Prof. Dr.-Ing. Manfred Norbert Fisch, Leiter des Steinbeis-Innovationszentrums EGS und Mitgründer der Green Hydrogen Esslingen (GHE). Das im März 2019 gegründete Unternehmen – weitere Gesellschafter sind die Polarstern München und die Stadtwerke Esslingen – finanziert und betreibt die Energiezentrale mit Elektrolyseur. Außerdem vermarktet sie den „grünen“ Wasserstoff, den Strom aus den gebäudeintegrierten Photovoltaik-Anlagen und Blockheizkraftwerken sowie die Abwärme aus dem Elektrolyseur und H2-Blockheizkraftwerken (Rückverstromung).

Ein Markt für den Vertrieb von „grünem“ Wasserstoff muss dabei erst geschaffen werden. Mit dem Pilotprojekt soll parallel der Aufbau von Wasserstoff- und Brennstoffzellensystemen in Deutschland stimuliert werden. Hierzu finden aktuell Gespräche mit potenziellen Endkunden aus den Bereichen ÖPNV, Industrie und mit PKW-Flottenbetreibern statt.


Auf einen Blick: Die „Neue Weststadt Esslingen“

Die Bundesregierung strebt bis 2050 einen klimaneutralen Gebäudebestand an. Um die Energiewende in diesem Sektor durch Forschung, Entwicklung und Demonstration voranzubringen, haben die Bundesministerien für Wirtschaft und Energie sowie Bildung und Forschung im Jahr 2016 die ressortübergreifende Förderbekanntmachung „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt“ mit einem Fördervolumen von 150 Millionen Euro veröffentlicht. Aus mehr als sechzig Mitbewerbern wurde die „Neue Weststadt Esslingen“ als eines von sechs Leuchtturmprojekten in Deutschland ausgewählt.

Die zuwendungsfähigen Gesamtkosten belaufen sich in dem Esslinger Projekt auf rund 23 Mio. Euro. Dem interdisziplinären Projektteam stehen durch die Förderung der Bundesregierung für eine erfolgreiche Umsetzung und Begleitung des Vorhabens Zuwendungen in Höhe von rund 13 Mio. Euro zur Verfügung. Der Startschuss für das Projekt fiel im November 2017. Das Steinbeis-Innovationszentrum Energie-, Gebäude- und Solartechnik (EGS) koordiniert das Projekt und arbeitet nun fünf Jahre lang mit insgesamt elf Partnern vor Ort an der Umsetzung des Konzepts.

Das Projekt „ES-West P2G“ ist ein notwendiger Baustein innerhalb des Gesamtprojekts zur Erreichung der Klimaschutzziele in Deutschland und wird sicher eine große Zahl von Nachahmern anregen.


 

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Manfred Norbert Fisch (Autor)
Leiter
Steinbeis-Innovationszentrum Energie-, Gebäude- und Solartechnik (EGS) (Stuttgart)

Tobias Nusser (Autor)
Projektleiter „Klimaneutrale Weststadt Esslingen“
Steinbeis-Innovationszentrum Energie-, Gebäude- und Solartechnik (EGS) (Stuttgart)