Im Gespräch mit Dr. Andreas Crivellin, theoretischer Physiker am Paul Scherrer Institut (PSI) in Villigen in der Schweiz
Mit welchen Fragestellungen beschäftigt sich ein theoretischer Teilchenphysiker? Was für Arbeitsmethoden verwendet er und welche Rolle spielen Kreativität und Querdenken in der theoretischen Physik? Diese und weitere Fragen hat Steinbeiserin Ute Villing für die TRANSFER Dr. Andreas Crivellin gestellt.
Herr Dr. Crivellin, Sie beschäftigen sich mit der mathematischen Beschreibung der fundamentalen Bausteine und Wechselwirkungen der Materie. Können Sie uns kurz den aktuellen Wissensstand zusammenfassen?
Das Standardmodell (SM) der Teilchenphysik besagt, dass alle uns umgebende Materie aus fundamentalen Bausteinen besteht und auch die Wechselwirkungen aus dem Austausch von Teilchen herrühren. Sie kennen sicher aus der Schule oder dem Studium noch das Konzept der Atome, die aus Protonen und Neutronen im Kern bestehen und um die Elektronen kreisen – besser gesagt, um welche sich eine Art Wolke aus Elektronen befindet. Die Kraft, die die Atome zusammenhält, ist die elektromagnetische Wechselwirkung. Die Elektronen sind, soweit wir das heute sagen können, tatsächlich fundamentale Teilchen und in ihrer mathematischen Beschreibung sogar punktförmig. Protonen und Neutronen wiederum sind nicht elementar, sondern aus einzelnen Bausteinen zusammengesetzt. Diese Bausteine – Quarks – werden durch die starke Wechselwirkung zusammengehalten, die eine sehr überraschende Eigenschaft besitzt, nämlich, dass sie mit zunehmendem Abstand zwischen den Teilchen größer statt kleiner wird. Daher kann man einzelne Quarks nicht beobachten, sondern nur indirekt auf deren Existenz schließen. Die dritte und letzte Wechselwirkung des SM ist die schwache Wechselwirkung, die sehr exotisch ist und im „Alltag“ nur in radioaktiven Zerfällen auftritt. Zu guter Letzt gibt es dann noch das berühmte Higgs-Teilchen, das 2012 am Large Hadron Collider (LHC) am CERN in Genf entdeckt wurde. Dieses Teilchen verleiht nicht nur den anderen Elementarteilchen, sondern auch sich selbst, die Massen.
Das ist also der aktuelle gesicherte Wissensstand in der Teilchenphysik. Was sind die offenen Fragestellungen, denen man heute nachgeht?
Seit der Entdeckung des Higgs-Teilchens, das leider fälschlicherweise manchmal als Gottesteilchen bezeichnet wird, obwohl es auch nur ein Teilchen ist, ist das SM der Teilchenphysik komplett. Jetzt sucht man vor allem nach der Existenz neuer unbekannter Teilchen, die so schwer sind, dass sie bisher nicht gefunden werden konnten. Die direkte Suche nach solchen Teilchen ist die Hauptaufgabe des LHC am CERN. Man kann aber auch indirekt über Präzisionsexperimente nach neuen Teilchen suchen. Dies ist möglich, da nach dem Unschärfeprinzip von Heisenberg auch schwere Teilchen für kurze Zeit aus dem Vakuum erzeugt und dann wieder vernichtet werden können. Solche Experimente werden unter anderem am PSI durchgeführt. Hier werden zum Beispiel sehr, sehr viele Myonen erzeugt und gemessen, wie diese zerfallen. Die direkten Suchen nach schweren Teilchen am LHC haben bisher keine Hinweise ergeben und auch die meisten Präzisionsmessungen stimmen mit dem Standardmodell überein. Allerdings gab es in letzter Zeit einige Abweichungen in den Zerfällen von B-Mesonen, die ich sehr interessant finde.
In welchem Zusammenhang steht Ihre theoretische Forschung zu diesen experimentellen Anstrengungen?
Ich beschäftige mich mit der Konstruktion von neuen theoretischen Modellen, die das SM erweitern. Diese Modelle enthalten neue Teilchen, die sowohl in direkten Suchen als auch in indirekten Messungen auftreten können. In diesem Zusammenhang berechne ich die Vorhersagen dieser Modelle. Insbesondere versuche ich Modelle zu entwickeln, die die erwähnten Abweichungen in den Zerfällen von B-Mesonen erklären können, und eventuelle Korrelationen mit anderen möglichen Messungen aufzuzeigen.
Wie ist bei Ihnen die Forschung strukturiert und welche Rolle spielen hierbei Kreativität und unkonventionelles Denken?
In der theoretischen Teilchenphysik arbeiten wir zumeist in recht kleinen Gruppen von zwei bis vier Personen. Ich betreue und forsche hier am PSI mit einem Doktoranden. Zusätzlich arbeite ich mit den anderen Wissenschaftlern der Theoriegruppe des PSI zusammen, aber ich habe auch sehr viele und enge Kontakte zu Physikern in der ganzen Welt, mit denen ich unter anderem an Publikationen schreibe. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, seine Forschungsergebnisse auf internationalen Konferenzen und auf Seminaren an Universitäten und Forschungsinstituten vorzustellen. Daher bin ich auch viel auf Reisen, um meine Forschungskontakte aufrecht zu erhalten und mein wissenschaftliches Netzwerk zu erweitern.
Kreativität spielt im Bereich des „Model Buildings“, also in der Konstruktion von Modellen für neue Physik, eine große Rolle. Hieran wird schon seit Jahrzehnten gearbeitet und es ist nicht ganz einfach neue Ideen zu entwickeln, die bisher noch nicht untersucht wurden. Allerdings ist auch Ausdauer eine sehr wichtige Eigenschaft, die man in der Forschung braucht, da natürlich nicht alle Modelle, die man sich überlegt, funktionieren, und man muss mit Rückschlägen klar kommen können. Vor allem muss man sich vor Augen halten, dass auch, wenn viele Modelle konsistent sind, nur ein einziges in der Natur realisiert ist, weshalb die Wahrscheinlichkeit, dass man einen „Treffer“ landet, nicht sehr groß ist.
Auch unkonventionelles Denken, also die Beschreitung neuer Wege, ist sehr von Vorteil. So haben wir zum Beispiel keine experimentellen Hinweise auf die Modelle gefunden, die aus mathematischer Sicht als schön bezeichnet werden und in der Vergangenheit bereits intensiv untersucht worden sind. Außerdem gibt es Hinweise auf Modelle, die die meisten Physiker nicht als „natürlich“ bezeichnen würden. Selbstverständlich muss man sich an die „Normen“ halten, in dem Sinn, dass das Modell nicht widersprüchlich und die Rechnung korrekt ist, aber was ich an meinem Gebiet schätze, ist, dass man allgemein sehr offen und tolerant ist; nicht nur gegenüber neuen und ungewöhnlichen Ideen, sondern auch gegenüber außergewöhnlichen Menschen. Zusammengefasst kann man sagen, dass man viel Ausdauer, Kreativität und auch unkonventionelles Denken braucht, um den Grundgesetzen der Natur auf die Spur zu kommen.
Kontakt
Dr. Andreas Crivellin ist theoretischer Teilchenphysiker am Paul Scherrer Institut in Villigen (CH). Er studierte am Karlsruher Institut für Technologie und arbeitete an der Universität Bern und am Europäischen Kernforschungszentrum in Genf. Aktuell beschäftigt sich Andreas Crivellin mit der mathematischen Beschreibung der fundamentalen Bausteine der Materie und ihrer Wechselwirkungen. Insbesondere ist er Experte für Erweiterungen des Standardmodells der Teilchenphysik und untersucht den Einfluss neuer, bisher unentdeckter Teilchen auf die Zerfälle schwerer Mesonen (Quark-Bindungszuständen). Er wird am 29.01.2018 in Rottweil im Rahmen des Studium Generale über den im Interview geschilderten Themenbereich vortragen.
Ute Villing ist Projektleiterin am Steinbeis-Transfer-Institut Business School Alb-Schwarzwald an der Steinbeis-Hochschule Berlin. Seit 2004 können hier (angehende) Führungskräfte berufsbegleitend Betriebswirtschaft studieren. Außerdem bietet das Steinbeis-Unternehmen seinen Kunden einige ausgesuchte Weiterbildungen auf Hochschul-Niveau sowie viele Netzwerkmöglichkeiten an.
Dr. Andreas Crivellin
Paul Scherrer Institut (Villigen (CH))
Ute Villing
Steinbeis-Transfer-Institut Business School Alb-Schwarzwald (Berlin/Gosheim)