Im Gespräch mit Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut, Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau in Baden-Württemberg
Big Data, Digitalisierung und Vernetzung beschreiben technologische Aspekte des Wandels hin zu „Wirtschaft 4.0“. Was in ihnen nicht zum Ausdruck kommt, ist wie umfassend und radikal dieser Strukturwandel Wirtschaft aber auch die Gesellschaft umwälzen wird. TRANSFER sprach mit Dr. Nicole Hoffmeister- Kraut, Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau in Baden-Württemberg, über Herausforderungen und Chancen einer „Wirtschaft 4.0“.
Frau Ministerin, Sie haben „Wirtschaft 4.0“ als ein zentrales Thema der Wirtschaftspolitik der kommenden Jahre ausgerufen. Wie sieht Ihre Standortbestimmung aktuell aus: Wo steht vor allem unser Mittelstand, die rund 500.000 kleinen und mittleren Unternehmen in Baden-Württemberg, bei Digitalisierung und Vernetzung? Welche Chancen sehen Sie für diese Unternehmen?
Ich sehe das Themenfeld Digitalisierung in der Tat als zentrales wirtschaftspolitisches Feld an. Viele Unternehmen in Baden-Württemberg sind bei der Digitalisierung und Vernetzung schon auf einem guten Weg. So vielfältig wie unsere Wirtschaft insgesamt ist, so ist sie es auch beim Grad der Digitalisierung: Es gibt unter den Unternehmen schon viele Digitalisierungsvorreiter, aber auch noch digitale Neulinge und Betriebe, die sich im Mittelfeld dazwischen befinden. Dabei sind die Chancen groß, beispielsweise für neue Produkte und Dienstleistungen, für neuartige Wertschöpfungsketten, für effiziente Produktions- und Innovationsprozesse sowie für neue Geschäftsfelder und Geschäftsmodelle. Das gilt für alle Branchen und das ganze Land. Die Potenziale sehe ich für die Industrie genauso wie für Handwerk, Handel, Gastgewerbe und Dienstleistungssektor. Auch für unsere Arbeitsweise kann die Digitalisierung ganz neue Chancen eröffnen, zum Beispiel für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben durch digitalisierte und flexible Arbeitsmodelle.
Die Industrie gilt als Vorreiter beim Strukturwandel hin zu einer digitalen und vernetzten Wirtschaft. Andere Branchen wie Handwerk oder Handel stoßen die notwendigen Prozesse aktuell erst an. Wie unterstützt das Land diese Unternehmen? Welches Eigenengagement ist aus Ihrer Sicht aber auch von diesen Unternehmen notwendig?
Um die Unternehmen im Land branchenübergreifend im digitalen Transformationsprozess zu unterstützen, habe ich die „Initiative Wirtschaft 4.0“ gestartet. Zusammen mit den Partnern der Initiative haben wir uns auf zehn Handlungsfelder verständigt, die wir in den nächsten Jahren gemeinsam bearbeiten wollen. Dazu zählen unter anderem Themen wie Innovations- und Gründungsförderung, IT-Sicherheit, Aus- und Weiterbildung und Arbeit 4.0. Wir wollen die Unternehmen zielgruppengerecht bei der Digitalisierung unterstützen, das heißt, wir setzen je nach Ausgangssituation und Digitalisierungsgrad an.
Für die „digitalen Neulinge“ unter den kleinen und mittleren Unternehmen bieten wir mit unseren Digitallotsen erste Orientierung zur Digitalisierung und unterstützen sie dabei, individuelle Lösungsansätze zu entwickeln. Dazu reicht unser Angebot von Informationsmaterialien über Digitalisierungs-Workshops bis hin zu individuellen Einstiegsberatungen.
Unsere Digitalisierungsprämie zielt auf kleine und mittlere Unternehmen ab, die schon einen Schritt weiter sind und die Einstiegsphase des digitalen Transformationsprozesses bereits hinter sich haben. Mit der Digitalisierungsprämie fördern wir die Umsetzung konkreter Digitalisierungsprojekte im Unternehmen oder damit verbundene Weiterbildungsmaßnahmen für die Beschäftigten. Mit den „Digital Hubs“ tragen wir die Digitalisierung der Wirtschaft in die Fläche und fördern Anlaufstellen zur Digitalisierung in den Regionen Baden-Württembergs. Damit erleichtern wir die Zusammenarbeit von etablierten Unternehmen mit Start-ups vor Ort und bieten Anlaufstellen bei Fragen zur Digitalisierung.
Die Unternehmen selbst sind gefordert, sich aktiv mit der Digitalisierung auseinanderzusetzen, die damit verbundenen Chancen zu nutzen und die damit einhergehenden Herausforderungen zu meistern. Denn das ist das Fundament, auf dem die Innovationskraft der Zukunft gebaut wird. Dabei spielen Kooperationen und Start-up-Kultur eine immer größere Rolle.
Während Befürworter im digitalen Wandel eine Möglichkeit sehen, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, befürchten Kritiker, dass gering beziehungsweise nicht zukunftsorientiert qualifizierte Arbeitskräfte um ihren Job fürchten müssen. Wie werden sich die zukünftigen Anforderungen an die berufliche Qualifikation ändern?
Keine Frage: Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt und damit auch die Anforderungen an die Beschäftigten tiefgreifend verändern. Das Gelingen der Wirtschaft 4.0 erfordert ausreichend Fachkräfte mit dem nötigen digitalen Know-how. Dafür müssen wir alle Beschäftigtengruppen – auch An- und Ungelernte – auf die Arbeitswelt der Zukunft vorbereiten. Bei vielen Beschäftigten werden künftig ein sehr hohes Maß an selbstgesteuertem Handeln, kommunikativen Kompetenzen, Selbstorganisation und Kenntnissen in der Informations- und Kommunikationstechnik gefragt sein. Es ist Aufgabe der Aus- und Weiterbildung von heute, auf diese Arbeitswelt von morgen vorzubereiten.
In den vom Land geförderten Lernfabriken 4.0 können die Auszubildenden, aber auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Weiterbildungslehrgängen fit gemacht werden für die digitale Produktion der Zukunft. Im Weiterbildungsangebot in Baden-Württemberg werden zudem bereits einige Projekte im Bereich Digitalisierung und berufliche Weiterbildung umgesetzt. Der Startschuss für Projekte zur Gestaltung von betrieblichen Veränderungsprozessen durch Digitalisierung oder zur Digitalisierung der Meisterausbildung im Handwerk ist beispielsweise schon gefallen. Und für den Bereich der beruflichen Ausbildung läuft derzeit ein Ideenwettbewerb für Modellprojekte, der sich auch den Fragen widmet, wie digitale Lerninhalte umgesetzt und angewendet, Lehr- und Lernprozesse ausgestaltet und die Zusammenarbeit zwischen Ausbildungsbetrieb und Berufsschule intensiviert werden können. Damit schaffen wir die Grundlage für die konkrete Projektentwicklung.
„Wirtschaft 4.0“ setzt ein Verständnis und eine breite Akzeptanz der sie treibenden Technologien und sie prägenden Geschäftsmodelle voraus. Außerhalb der „Szene“ stellt man beidem gegenüber ein teilweise sehr ambivalentes Verständnis und oft ablehnende Haltung fest. Welche Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang Ihre Initiative zur Durchführung der Industriewoche Baden-Württemberg im Juni 2017?
Die Industriewoche Baden-Württemberg geht auf den Industriedialog zurück. Hier haben sich die Partner aus Wirtschaft und Gewerkschaften auf ein gemeinsames Leitbild und Leitlinien geeinigt. Unser erklärtes Ziel ist, dass Baden-Württemberg auch in Zukunft ein starker Industriestandort bleibt. Die Industrieunternehmen unseres Landes – zumeist mittelständische, häufig familiengeführte Unternehmen – tragen in großem Maß zum Wohlstand des Landes bei und nehmen oft auch gesellschaftliche Aufgaben und Verantwortung wahr. Wir haben mit der Aktionswoche gezeigt, dass die Industrie vielfältig ist und nahezu alle Lebensbereiche berührt. Wir wollten die Akzeptanz und die Sichtbarkeit erhöhen. Die hohe Zahl der angemeldeten Veranstaltungen hat ein großes Interesse der Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Museen, Verbände und Kammern belegt, aber auch zum Beispiel von beruflichen Schulen. Somit waren die Aktionen quer durch das gesamte Land sehr facettenreich aufgestellt. Die Themen Digitalisierung, Zukunft, Ausbildung und Industrie 4.0 waren gut besetzt. Werksführungen ermöglichten hier auch Blicke hinter die Kulissen. Ich bin mir sicher, dass die Industriewoche sehr gut aufgezeigt hat, dass die Digitalisierung nicht nur Herausforderungen mit sich bringt, sondern viele Chancen für Baden- Württemberg bietet.
Ein branchen- und technologienübergreifender Wandel, wie der hin zu „Wirtschaft 4.0“, bedingt auch ein Klima, in dem neue Ideen in bestehenden Unternehmen und neue Unternehmen mit dem Ziel erfolgreicher Produkte und Dienstleistungen entstehen: (Hidden) Champions und Start-ups, die mit ganz neu gedachten Produkten und Dienstleistungen den Wandel unterstützen und forcieren. Wie sehen Sie Baden-Württemberg hier aufgestellt?
Mehr vielleicht noch als früher sind im digitalen Zeitalter oft junge, agile Unternehmen Impulsgeber für Marktveränderungen und Innovationen. Darum engagieren sich auch unsere zahlreichen Weltmarktführer zunehmend im Start-up-Bereich. National wie international ist schon länger ein stark umkämpfter Wettbewerb um die besten Start-ups entbrannt. Baden-Württemberg muss diesen Wettbewerb noch offensiver annehmen. Wir wollen unsere Stärken als Start-up-Standort besser bündeln und vermarkten. Bei der Entwicklung und Finanzierung von skalierbaren Geschäftsmodellen ist internationales Top-Niveau das Ziel. Dabei fangen wir nicht bei Null an. Die Zahl der Gründungen ist zwar bundes- und landesweit rückläufig, aber es gibt in Baden-Württemberg einen deutlichen Trend hin zu Gründungen mit innovativen Geschäftsideen und Wachstumspotential – ein erfreulicher Trend zu echten Startups also. Als Land haben wir auch schon ein etabliertes Portfolio bewährter Förderprogramme und Wettbewerbsformate, zum Beispiel die Innovations- und die Beratungsgutscheine. Kürzlich ergänzt zum Beispiel um den neuen Innovationsgutschein „Hightech Digital“. Aber es geht mir auch um weitere neue Aktivitäten, damit der Gründungsstandort Baden-Württemberg noch attraktiver und dynamischer wird. Das steht auch im Fokus unseres Start-up-Gipfels am 14. Juli auf der Landesmesse in Stuttgart.