Kreative Zerstörung positiv gestalten
Unter dem aktuell in der Öffentlichkeit häufig diskutierten Begriff der digitalen Transformation werden einige parallel ablaufende Trends subsumiert, die unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren nachhaltig beeinflussen werden. Um in der Zukunft erfolgreich zu sein, sollten die Unternehmen in Wertschöpfungsnetzwerken denken und handeln, meint Dr.-Ing. Jürgen Jähnert, Geschäftsführer der bwcon GmbH im Steinbeis-Verbund.
Grundsätzlich findet eine digitale Transformation bereits seit Jahrzehnten statt und Digitalisierung ist letztlich schon seit Beginn der Einführung von Datenverarbeitung Weichensteller und Treiber von Innovation in der Wirtschaft, aber auch in der Verwaltung und in anderen Bereichen der Gesellschaft. Aktuell wird dieser Transformationsprozess jedoch zusätzlich von einigen technologischen Trends flankiert, die allesamt einen mehr oder weniger starken Bezug zur Informationstechnologie haben und sich selbst untereinander in einem Konvergenzprozess befinden. An erster Stelle dieser Trends steht die Mobilität. Diese schließt neben einer Weiterentwicklung der uns bekannten Mobilitätsformen (Automobil, öffentlicher Güter- und Personenverkehr) auch die neue Generation der mobilen Kommunikationsinfrastruktur (5G) und die Entwicklungen auf den mobilen Endgeräten mit ein. Als weiterer Trend ist Cloud Computing zu erwähnen. Hierunter versteht man eine Rezentralisierung der IT-Ressourcen verbunden mit einer Industrialisierung der IT. Informationstechnische Dienste werden damit zum standardisierten Massenprodukt. Ebenfalls ein neuer Trend ist Big Data/Data Analytics. Gemeint ist das systematische Sammeln von Daten aus verschiedensten Quellen. Diese Daten werden dann auf einen jeweiligen Anwendungskontext bezogen und effizient ausgewertet. Sie bilden die Basis für eine mit Data Analytics bezeichnete Wissensgewinnung, die wiederum Basis für Mehrwertdienste wird. Cloud Computing und Big Data/Data Analytics stellen somit die Grundlage für neue, datengetriebene Geschäftsmodelle dar. Den nächsten Trend stellen in diesem Zusammenhang die cyber-physischen Systeme dar. Hier werden Sensoren und Aktoren so an das Internet angebunden, dass ein sogenanntes Internet der Dienste und Dinge (Internet of Things – IoT) entsteht. Das Zusammenspiel von Kommunikationsinfrastruktur, cyber-physischen Systemen und Cloud/Big Data/Data Analytics liefert wiederum die Grundlage für neue Wertschöpfungsmodelle. Diese konvergierenden Technologien werden zukünftig in nahezu allen Sektoren unserer Gesellschaft zur Anwendung kommen. So wird beispielsweise in der Textilindustrie Kleidung mit ans Internet angebundenen Sensoren versehen, neue Wertschöpfung wird durch datengetriebene Geschäftsmodelle entstehen oder es werden – wie vereinzelt bereits sichtbar – im traditionellen Maschinenbau komplette Wertschöpfungsketten grundlegend verändert. Im industriellen Bereich ist zusätzlich mit dem 3DDruckverfahren ein weiterer Trend im Kommen, der wiederum mit den oben genannten Trends völlig neue Möglichkeiten schafft.
Die gesamte Entwicklung schreitet rasant voran und eröffnet nahezu jedem Unternehmen, der öffentlichen Verwaltung und allen Bereichen der Gesellschaft große Chancen für die Zukunft. Gerade in den Unternehmen im Hochlohnland Deutschland, die vor der zunehmend schwierigen Herausforderung stehen, sich im globalen Wettbewerb zu behaupten, erfordert dies ein neues Denken und Handeln. Die neuen Technologien treffen auf etablierte Branchen beziehungsweise auf eingeschwungene Wertschöpfungssysteme und ermöglichen inkrementelle Verbesserungen, zum Beispiel durch weitere Prozessautomatisierung. Die Tatsache, dass in Deutschland sehr viele in Nischenbereichen angesiedelte Unternehmen zu Weltmarktführern werden konnten, zeigt, dass diese inkrementellen Innovationsprozesse bisher vielerorts und sehr erfolgreich umgesetzt wurden.
Nun gibt es die von Schumpeter erkannte und dargestellte „schöpferische Zerstörung“ durch Innovation. Diese liegt vor allem dann vor, wenn neue Technologien ermöglichen, etablierte Wertschöpfungsmodelle durch völlig neues Denken und Handeln zu attackieren und abzulösen. Das Gestalten dieses eher disruptiven Pfads der Innovation ist gerade für Unternehmen mit erfolgreicher Geschichte und bewährter Unternehmenskultur eine sehr große Herausforderung. Zahlreiche Unternehmen haben trotz beziehungsweise gerade wegen einer komfortablen Marktposition diesen Pfad bisher nicht oder in ungenügender Weise gestaltet und einige namhafte Unternehmen sind binnen sehr kurzer Zeit ganz oder zumindest teilweise aus dem Wettbewerb ausgeschieden. Beispielhaft hierfür sind Alcatel, Kodak, Nokia und die Kommunikationssparte von Siemens. Welchen Herausforderungen müssen sich nun Unternehmen in dieser Phase des technologischen Wandels stellen? Grundsätzlich ist hierzu anzumerken, dass die genannten (wie auch weitere) technologischen Trends konvergiert in spezifische Anwendungsbereiche gebracht werden müssen, um dann die etablierte Wertschöpfung weiterzuentwickeln. Dies kann und wird zu Brüchen führen und ist zudem ein vielschichtiges Problem. Die Vielschichtigkeit erstreckt sich dabei auf Aspekte der eigenen Unternehmenskultur, auf die Art und Weise der Kooperation mit anderen Unternehmen – die zukünftig auch Wettbewerber sein können (sogenannte Frenemies) – und besonders auf den Prozess der Erschließung neuer Geschäftsfelder.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die meisten Unternehmen stetig weiter spezialisiert und ihre Kernkompetenzen ausgebaut. Dies war Grundlage für außerordentliche Erfolge im globalen Wettbewerb. Diese Vorgehensweise und die erlangten Fähigkeiten reichen aber in Zukunft nicht mehr aus, um die sich ergebenden Chancen zu nutzen und die erreichte Position zu halten. Die zentrale Herausforderung für alle Unternehmen besteht in Zukunft darin, neben der bisher erfolgreichen Spezialisierung zu einem uneingeschränkt vernetzten Denken und Handeln nach innen und außen zu kommen. Erfolgreich werden in Zukunft nur diejenigen Unternehmen sein, die in Wertschöpfungsnetzwerken denken und agieren können und die sich daraus ergebenden Chancen konsequent ausnutzen. Dies gilt sehr wohl auch für Weltkonzerne, bei denen das vernetzte Denken und Handeln stärker innerhalb des Konzerns stattfinden kann, während kleinere und mittelgroße Unternehmen sehr viel stärker zu einer bisher zu wenig gepflogenen Vernetzung mit anderen kommen müssen. Dafür ist multidisziplinäres Handeln erforderlich und somit eine neuartige Kommunikation innerhalb des Unternehmens, eine andersartige Interaktion mit Kunden und Lieferanten sowie ein völlig anderer Umgang mit Wettbewerbern. Weiter ist zu erwarten, dass völlig neuartige Partnerschaften zwischen Unternehmen eingegangen werden. Somit finden Innovationsprozesse nicht mehr vorwiegend innerhalb des Unternehmens statt, sondern zwischen den Unternehmen. Für zahlreiche Unternehmen erfordert dies eine deutliche Weiterentwicklung der etablierten Unternehmenskultur. Vor allem der Kontakt zwischen Großunternehmen und kleinen Unternehmen kann und wird wesentliche positive Impulse für alle Beteiligten liefern. Dazu ist jedoch ein Umgang auf Augenhöhe erforderlich – ein Status, der bisher erst selten erreicht ist.
Netzwerke, besonders formale und gut organisierte, möglichst technologie-, branchen- und unternehmensgrößenübergreifende, leisten einen wichtigen Beitrag beim Aufbau des für die neue Art der Zusammenarbeit benötigten Vertrauens. Dies geschieht zunächst durch die Vermittlung und Herstellung persönlicher Kontakte. Das entstehende Vertrauen ist die Basis für eine bislang ungewohnte Offenheit, die einerseits den Wandel der eigenen Unternehmenskultur fördert, andererseits Erfahrung, Wissen, Kompetenzen und Ideen zu „importieren“ vermag. Um durch diese vertrauensschaffende Vermittlerrolle den Unternehmen den Zugang zu Wissen, Kompetenzen und neuen Ideen verschaffen zu können, bedienen sich Netzwerke spezieller Methoden, um einen kooperativen Innovationsprozess anzumoderieren und zu begleiten. Es sind beispielsweise Design Thinking, Effectuation oder auch LEGO Serious Play. Dadurch werden die verschiedenen Akteure themenfokussiert in einem Klima zusammengebracht, in dem Ideen aus der Interaktion zwischen Unternehmensvertretern generiert werden und dadurch neue Wertschöpfungsmodelle entstehen können.
In der Umsetzungsphase sind zumeist weitere Fachkompetenzen beziehungsweise Organisationsstrukturen, aber häufig auch finanzielle Ressourcen erforderlich. Auch hier leisten Netzwerke einen wesentlichen Beitrag als aktiver Vermittler und Orchestrator der benötigten Ressourcen. Aber auch die Netzwerke selbst stehen in diesem Prozess vor der Herausforderung sich weiterentwickeln zu müssen. Waren Netzwerke bislang häufig mit einem Technologie- beziehungsweise Branchenfokus organisiert, so ergibt sich aus der Vielschichtigkeit der beschriebenen Herausforderungen und Möglichkeiten die Aufgabe, sich zu einem sogenannten zweiseitigen beziehungsweise mehrseitigen Marktplatz weiterzuentwickeln, in dem nicht mehr so klar wie bislang zwischen Anbieter und Anwender unterschieden werden kann und die Akteure aus dem Netzwerk heraus die kreativen Impulse für die eigene Weiterentwicklung generieren. Somit wird es für Unternehmen zunehmend wichtiger sein, sich in Netzwerken zu engagieren und sich in die dort ablaufenden Innovationsprozesse proaktiv einzubringen und ebenfalls die Rolle des Konsumenten und des Produzenten (Prosumer) gleichzeitig einzunehmen. So – und nur so – kann der nicht aufhaltbare Prozess der kreativen Zerstörung für ein Unternehmen positiv gestaltet werden.
Kontakt
Dr.-Ing. Jürgen Jähnert ist Geschäftsführer der bwcon GmbH im Steinbeis-Verbund. Das Unternehmen unterstützt mit seinen Dienstleistungen bei der Nutzung strategischer Technologien. bwcon managt technologie-, unternehmens- und organisationsübergreifende Netze, berät Personen und Unternehmen sowie Organisationen, koordiniert Forschungs- und Innovationsaktivitäten, führt Veranstaltungen und Projekte zur Vernetzung durch und ermöglicht die Gründung von Unternehmen. bwcon gestaltet einen Transfer von öffentlichen Wissensquellen in Netze und insbesondere auch den unternehmerischen Transfer zwischen privatwirtschaftlichen Wissensquellen.