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Im Wandel der Zeit: Mobilität auf dem Weg zu Industrie 4.0

Mobilität ist Grundbedürfnis und Ausdruck der Ungebundenheit und Flexibilität der Moderne

Über wenig andere Themen wird so emotional und mit persönlichem Interesse in der Gesellschaft diskutiert, wie über das Thema Mobilität, da jeder von uns davon betroffen ist. Lösungsvorschläge zur Qualitätsverbesserung sind vielfältig, notwendig und können für Einzelne existenzielle Folgen besitzen. Auch zukünftig wird die Mobilität in vielen Bereichen eine entscheidende Schlüsselrolle einnehmen, meint Prof. Dr.-Ing. Lutz Gaspers, Leiter des Steinbeis-Beratungszentrums Raumbezogene Planungen und Strukturentwicklung: für uns alle als Nutzer, für das Funktionieren der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Siedlungsstrukturen, die wesentlich durch Automobilität geprägt sind, und auch für weite Teile unserer arbeitsteiligen Wirtschaft, die lokale Standortvorteile bei komplexen Produktionsstrukturen nutzt.

Mobilität ist eines der Zukunftsthemen, das in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung gewinnen wird. Hier kann sich zeigen, ob Städte und Regionen zur Wahrnehmung ihrer Funktionen und Gewährleistung der Daseinsvorsorge aufgestellt sind und sich daraus Standortvorteile (unter anderem als Kostenvorteile) ergeben. Dabei werden zunehmend integrierte Siedlungs- und Verkehrsentwicklungsplanungen sowie eine effiziente Infrastrukturplanung notwendig. Aufgrund sich wandelnder Rahmenbedingungen in der Gesellschaft entstehen bereits heute veränderte Mobilitätsmuster, denen zunehmend Mobilitätsbarrieren gegenüberstehen. Mobilität ist eine Grundvoraussetzung unseres Lebens und Wirtschaftens geworden. In der globalen Wirtschaft hängt von ihr ab, ob unsere Regionen in Zukunft konkurrenzfähig bleiben. Von unserer privaten Mobilität hängt ab, ob Menschen künftig ihren bevorzugten Tätigkeiten nachgehen und ihr gewünschtes Maß an Lebensqualität erreichen können. Mit der Diskussion um Ressourcenknappheit und der Forderung nach Nachhaltigkeit – insbesondere bei der Mobilität – verändern sich jedoch auch unsere Auffassung von Mobilität und unser Mobilitätsverhalten.

Um Mobilität dauerhaft zu sichern und Verkehr verträglich gestalten zu können, muss Klarheit bestehen, aus welchen Bedürfnissen heraus Mobilität entsteht und woraus Verkehr resultieren kann. Nur so kann eine Auswahl und Zuordnung von Planungsinstrumenten vorgenommen werden, die zu einer positiven, planerisch gewollten Beeinflussung von Mobilität und Verkehr führen kann. Mobilität, das meint die Möglichkeit zur Durchführung von Aktivitäten an anderen Orten. Sie ist quantifizierbar, als die mit Ortsveränderungen einhergehende Aktivitätenvielfalt eines Individuums oder eines Kollektivs und dem damit verbundenen Entfernungs-/ Zeitaufwand pro Zeiteinheit. Mobilität ist ein Grundbedürfnis und Teil unseres Demokratiesystems. Die Wahrnehmung und Umsetzung unseres Wertesystems und der im Grundgesetz formulierten Grundrechte wären ohne unser Verständnis und unsere Einstellung zu Mobilität nicht umsetzbar. Nur damit ist das Einräumen der im Grundgesetz verankerten Teilnahmechancen jedes Einzelnen in der Gesellschaft möglich und erfordert ein leistungsfähiges Verkehrssystem. Eine Kenngröße zur Bewertung dieser Leistungsfähigkeit ist u.a. die Zeit, die für Ortsveränderungen in Anspruch genommen wird. Jeder von uns hat ein individuelles Zeitbudget, in dessen Umfang wir bereit sind, Mobilität real wahrzunehmen und damit Verkehr zu erzeugen. Dieses sogenannte Zeitbudget, das für Ortsveränderungen einerseits und für Aktivitäten andererseits verfügbar ist und limitierend wirkt, spielte und spielt eine wesentliche Rolle für die Entstehung von Mobilitätsmustern und die entstandenen Siedlungsmuster. Auch für den Güterverkehr kann in analoger Weise eine Güterverkehrsmobilität definiert werden. Nicht aus jeder möglichen Aktivität entsteht eine reale Wahrnehmung der Mobilität. Verkehr entsteht erst durch Ortsveränderungen, die durch Aktivitäten bei Personen und Gütern ausgelöst werden. Neben dem Verkehr als Mittel zum Zweck existiert auch Verkehr zum Selbstzweck, der jedoch auch einen Ausdruck individueller Mobilitätsbedürfnisse darstellt.

Die Entwicklung von Mobilität, Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen steht seit Jahrhunderten in einem untrennbaren Kontext. Im 17. und 18. Jahrhundert waren die Städte im Vergleich zu heute klein, das „Zufußgehen“ war die Hauptverkehrsart in den Städten und limitierte die Ausdehnung der Stadtgrenzen. Das Wachstum der Städte wurde dadurch begrenzt. Diese Raum-Zeit-Entfernungs-Problematik konnte erst Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Einführung von neuen Technologien wie der Dampfmaschine und neuen Verkehrsmitteln wie der Eisenbahn gelöst werden. Durch neue Produktionsformen entstand ein enormer Arbeitskräftebedarf in den Städten, die zu wachsen begannen. Leistungsfähige Massenverkehrsmittel wie Straßen- und Vorortbahnen ermöglichten erst die Stadtausdehnungen in diesem Ausmaß. In gleicher Reisezeit war es nun möglich, ein Vielfaches der Wegstrecke im Vergleich zum Zufußgehen zurückzulegen. Nur so konnten auch weiter entfernte Wohnstandorte gewählt werden. Die Jahrhunderte lang existierende mittelalterliche Stadt „verließ“ ihre Grenzen und wuchs in ihr Umland. Diese Entwicklungen wurden später als Industrialisierung oder „erste industrielle Revolution“ bezeichnet. Auch die darauf folgende „zweite“ und „dritte“ industrielle Revolution brachten grundlegende Veränderungen bei den Produktionsweisen, Technologien, Verkehrsmitteln und den Entwicklungen unserer Wohn- und Lebensformen mit sich. Für das Verkehrswesen bedeutete dies Erfindungen wie den Verbrennungsmotor, das Automobil, Luftverkehrsmittel, Höchstgeschwindigkeitszüge oder den Düsenantrieb. Die Siedlungsstrukturen lösten sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte weiter auf, in vergleichbaren Reisezeiten war es möglich, immer weiter entfernt gelegene Ziele zu erreichen. Suburbanisierungs- und Desurbanisierungsprozesse setzten ein, neue, stark transportorientierte Produktionsformen setzten sich durch (beispielsweise Just-in-time Verfahren). Die immer leistungsfähigeren Verkehrssysteme trugen jedoch nicht nur zur Spezialisierung und Effizienzsteigerung bei, sondern verursachten auch Verlagerungsprozesse bei den Wertschöpfungsketten. Ganze Industriezweige und Regionen waren vom Strukturwandel betroffen. Die heute bevorstehende „vierte“ industrielle Revolution unterscheidet sich von den bisherigen zunächst dahingehend, dass sie die „erste Revolution“ dieser Art sein wird, die mit vorheriger Ankündigung einsetzt. Für Mobilität und Verkehr werden Veränderungen erwartet, die nicht minder grundlegend im Vergleich zu den bisherigen industriellen Revolutionen ausfallen werden. Teilautonomes und autonomes Fahren, Veränderungen bei den Antriebsarten von Fahrzeugen, Sharing Economy bei Mobilitätsdienstleistungen, steigende Nutzerkosten, zunehmende Reglementierungen des motorisierten Individualverkehrs oder unsere Grundeinstellung zu Mobilität und Verkehr zeichnen sich bereits als die Rahmenbedingungen für ein sich wandelndes Verkehrssystem ab. Denken wir an die Problematik des ruhenden Verkehrs: Es gibt fast fünf Millionen bewirtschaftete Parkplätze in deutschen Städten – oft in Lagen, die sich ebenso gut für die Lösung der innerstädtischen Wohnungsknappheit verwenden ließen. In einem durchschnittlichen Haushalt steht ein Pkw rund 95% seiner Lebenszeit still. Auch im Vergleich zu den Anschaffungsaufwendungen ist dies ein vergleichbar geringer Nutzungsgrad, dessen Optimierung durch effizientere Nutzung ein Ansatzpunkt der Strategien der künftigen Mobilität sein wird. Den etwa 45 Millionen zugelassenen Pkw in Deutschland stehen vermutlich rund 150 Millionen Stellplätze gegenüber, die oft nur eingeschränkt für andere Nutzungsarten verwendet werden können.

Im Nachkriegsdeutschland stand in der Wiederaufbauphase unter den Leitbildern wie der „verkehrsgerechten Stadt“ oder der „autogerechten Stadt“ ein leistungsfähiges Verkehrsangebot im Zentrum der Planungen, das der ständig steigenden Nachfrage angepasst wurde. Auf das steigende Verkehrsaufkommen wurde hauptsächlich durch Dimensionierungsaufgaben reagiert: Durch Verkehrswegebau sollte den Überlastungserscheinungen entgegengewirkt werden. Konsequenz des Ausbaus von Verkehrsinfrastruktur waren zusätzlich induzierte Verkehre, die ihrerseits wieder Anlass für einen weiteren Ausbau gaben. Städtische Verkehrsplanungen waren in Deutschland jahrzehntelang davon geprägt, Situationsverbesserungen durch Ausbau zu erzielen, wodurch mehr Verkehr entstanden ist und die Mobilität nur bedingt verbessert wurde. In aktuellen Planungsansätzen wird Verkehr und Mobilität als Gesamtheit betrachtet. Der Fokus liegt dabei nicht länger nur auf der Bewältigung des entstandenen Verkehrs, sondern bereits dort, wo Verkehr entsteht oder vermieden werden kann. Ansätze wie diese sind nur durch interdisziplinäre Denk- und Arbeitsweisen umsetzbar. Das Berufsbild der Verkehrsplaner verändert sich damit auch zu einem Manager für Mobilität, die Qualität der Lösungsansätze wird entscheidend von der Fähigkeit zu interdisziplinären Arbeitsweisen anhängig sein. Damit sind wir auf die veränderten Rahmenbedingungen vorbereitet und das Leitbild könnte Realität werden: Mehr Mobilität bei weniger Verkehr!

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Lutz Gaspers leitet das Steinbeis-Beratungszentrum Raumbezogene Planungen und Strukturentwicklung und bietet seinen Kunden Beratung auf dem Gebiet der räumlichen Entwicklungsplanung, zur Entwicklung der Siedlungsstruktur und der Gemeindeentwicklung, Beratung und Analysen zum demographischen Wandel sowie Mobilitätsuntersuchungen. Auch in seiner Tätigkeit an der Hochschule für Technik Stuttgart beschäftigt er sich mit den Mobilitätsthemen: Zu seinem Fachgebiet gehören Raumund Entwicklungsplanung, Verkehrssysteme, Verkehrsentwicklung, Mobilitätskonzepte, EDV in der Verkehrsplanung sowie integrierte Verkehrsplanung.

Prof. Dr.-Ing. Lutz Gaspers
Steinbeis-Beratungszentrum Raumbezogene Planungen und Strukturentwicklung (Meiningen)