Fußgängerfreundliche City (Toronto/Kanada) © Markus Stöckner

„Mobilitätssysteme als Gesamtstrategie zu lösen, dürfte aktuell die größte Herausforderung sein“

Im Gespräch mit Professor Dr.-Ing. Markus Stöckner, Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Infrastrukturmanagement im Verkehrswesen

Die Mobilität ist unabdingbar für eine funktionierende Gesellschaft. Dabei ist es wichtig, die Mobilität als Gesamtsystem zu begreifen. Welche Rolle dabei das Verkehrswesen spielt und wie die Straße der Zukunft aussehen kann, darüber hat sich Professor Dr.-Ing. Markus Stöckner mit der TRANSFER unterhalten.

Herr Professor Stöckner, auf das Thema Mobilität angesprochen, denken viele zunächst an E-Mobilität und selbstfahrende Autos, dabei spielt auch die Verkehrsinfrastruktur eine wichtige Rolle. Worin sehen Sie momentan die größten Herausforderungen für das Verkehrswesen?

Zunächst, das Thema Mobilität ist kein Selbstzweck, sondern Grundlage für das Funktionieren einer Gesellschaft und ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Daher müssen wir dafür sorgen, dass die Anforderungen der Gesellschaft im Sinne der drei Säulen der Nachhaltigkeit bestmöglich erfüllt werden: sozio-kulturelle Nachhaltigkeit, den Zugang beispielsweise zu Versorgung und zu Bildung sicherzustellen, ökonomische Nachhaltigkeit, also sinnvolle Mobilitätssysteme wirtschaftlich zu betreiben und gleichzeitig im Sinne der ökologischen Nachhaltigkeit umweltbezogen vernünftige Lösungen zu finden. Wir sind dabei mit unterschiedlichsten Entwicklungen konfrontiert. Hier spielt die rasant fortschreitende Digitalisierung in der Gesellschaft eine große Rolle. Denken wir dabei an den wachsenden Online-Handel: Es wird kaum möglich sein, dies langfristig über konventionelle Kurier-, Express- und Paketdienste abzuwickeln. Dabei hat auch der Individualverkehr zugenommen, der einerseits vernetzte Mobilitätssysteme und auf der anderen Seite eine völlig andere Form der Nutzerinformation und -leitung erfordert. Dabei gibt es viele Ansätze, die auch in der Anwendung sind. Der Kernpunkt aber ist Mobilität als komplexes Gesamtsystem zu begreifen, in dem verschiedene Bereiche optimal zusammenwirken müssen. Sie haben E-Fahrzeuge und autonome Fahrzeuge genannt, das ist ein wichtiges Element, aber eben nur ein Element unter mehreren. Dazu gehören ubiquitäre IKT- und ITS-Systeme, energieeffiziente Verkehrsträger, Fragen der Energiebereitstellung ebenso wie eine anforderungsgerechte und leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur. In den einzelnen Teilbereichen arbeiten auch bei Steinbeis hervorragende Transferzentren. Mobilitätssysteme aber als Gesamtstrategie zu lösen, dürfte aktuell die größte Herausforderung sein.

Der Individualverkehr nimmt Jahr für Jahr zu, wie wirkt sich das auf die Straßenplanung und den Straßenbau in der Zukunft aus?

Grundsätzlich haben wir moderate Steigerungen im Individualverkehr. Interessant ist aber die Unterscheidung nach verschiedenen Kriterien, wie z.B. Fahrtzweck, Entfernung oder auch Altersgruppe. Man kommt hier zu ganz interessanten Feststellungen, gerade was das Mobilitätsverständnis der jungen Erwachsenen betrifft, für die das eigene Auto nicht mehr die hohe Priorität wie in den vorausgegangenen Generationen hat und die multimodal unterwegs sind. Die anwachsende Zahl an Senioren führt zu einer veränderten Verkehrsnachfrage über den Tag, die morgendlichen und abendlichen Spitzenwerte könnten sich hier verändern. Dann haben wir einen ausgeprägten Trend zum Fahrradfahren, in vielen größeren Städten wird bereits ein nennenswerter Teil des täglichen Verkehrs durch das Fahrrad abgewickelt. Das bedeutet zunächst, dass wir neue Straßen nur in bestimmten Fällen brauchen und unseren Schwerpunkt auf den intelligenten Umgang mit der vorhandenen Infrastruktur richten müssen. Erhalt vor Neubau ist eine aus verschiedenen Gründen in der politischen Diskussion angekommene Forderung, aber eben im Straßenbau inhaltlich sinnvoll angewandt auch nicht falsch. Intelligenter Umgang hat für mich zwei primäre Schwerpunkte, zum einen den volkswirtschaftlich unbedingt erforderlichen Werterhalt der Straßeninfrastruktur und zum anderen eine anforderungsgerechte Veränderung der Netzqualität, beispielsweise durch die Umgestaltung der vorhandenen Flächen zur Berücksichtigung neuer und veränderter Mobilitätsangebote. Wir müssen hier sehr genau analysieren, wie die Nutzeranforderungen der Zukunft aussehen und dann auch in unserer Maßnahmenplanung entsprechend reagieren. So müssen sich Planungsstrategien mittlerweile aus der Sicht eines möglichst optimalen Gesamtsystems und nicht nur aus der Sicht einer singulären Problemstellung entwickeln.

Multimodalität auf dem Bahnhofsvorplatz in Münster © Markus Stöckner

Sie beschäftigen sich mit der Konzeption und Entwicklung von Expertensystemen, die zur systematischen Erfassung und Bewertung aller für die Straßenerhaltung notwendigen Informationen eines Straßennetzes genutzt werden (Pavement-Management-Systeme). Welche Rolle spielen diese bei der Erhaltung der Leistungsfähigkeit von Straßeninfrastruktur, die die Mobilität unserer Gesellschaft sichert?

Damit betrachten wir einen Teilaspekt des Gesamtsystems Mobilität, aber von der Infrastrukturseite her einen sehr wichtigen Aspekt. In der Presse wurde in der Vergangenheit immer wieder von der maroden Verkehrsinfrastruktur in Deutschland berichtet, auch von den Folgen, wenn wichtige Teile ausfallen. Es gibt spektakuläre Fälle, wie beispielsweise die Schiersteiner Brücke, die 2015 teilweise vollständig und dann für Fahrzeuge über 3,5 t gesperrt war. Wenn solche Infrastrukturen ausfallen, führt dies in einem empfindlichen Mobilitätssystem zu einer dramatischen Verringerung der Erreichbarkeit von Fahrzielen und damit verbundenen unvermeidlichen Staus zusammen mit einer gestiegenen Umwegigkeit. Der volkswirtschaftliche Schaden ist immens, der Umweltschaden über den Treibstoffmehrverbrauch und den damit verbundenen Schadstoffausstoß übrigens auch. Man kann dies auch auf hochbelastete Verkehrsachsen im urbanen Raum übertragen. Zielsetzung der von uns mit entwickelten Systeme ist, den technischen Zustand eines komplexen Straßennetzes zu beschreiben, um damit verbundene aktuelle Probleme transparent und objektiv zu erkennen. Die Zustandsentwicklung zu prognostizieren und dann unter verschiedenen technischen und planerischen Randbedingungen netzweite Erhaltungsstrategien zu entwickeln ist Ziel dieser Systeme. Im Ergebnis kann man damit eine Finanzbedarfsprognose erstellen. Damit wird das erforderliche jährliche Budget für die Erhaltungsaufwendungen bestimmt und auch eine optimierte Maßnahmenplanung erstellt. Das sind komplexe Auswertungen, da unterschiedlichste Einflüsse berücksichtigt werden müssen und – es geht nicht auf Knopfdruck, es ist ein System zur Entscheidungsunterstützung. Damit können wir aber Folgendes: unangenehme Überraschungen mit plötzlichen Ausfällen vermeiden und die Funktionsfähigkeit und Verfügbarkeit der Infrastruktur planbar gestalten. Wir haben das im Fall der Finanzbedarfsprognose beispielsweise bei der Landeshauptstadt München erfolgreich gezeigt; unsere 2012 berechnete Prognose konnte bei der jetzt gerade erfolgten Neubewertung bestätigt werden. Wir arbeiten aktuell für die Senatsverwaltung Berlin eine strategische Vorgehensweise zur systematischen Erhaltungsplanung für Stadtstraßen aus. Für den Hamburger Hafen betrachten wir den Fall einer extrem hohen Schwerverkehrsbelastung, die nochmal besondere Anforderungen an ein Expertensystem stellt. Zudem sind wir aktiv an der Regelwerksentwicklung innerhalb der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) beteiligt.

Die Straße der Zukunft: intelligent, umweltfreundlich, lärmarm. Eine Straße, die Schäden und Wetterverhältnisse erfasst, den Verkehr optimiert, indem sie mit den Autos kommuniziert, und somit Unfälle vermeidet und darüber hinaus noch Strom erzeugt – ist diese Vorstellung realistisch?

Technisch gesehen, ja, das ist lösbar, eine Reihe davon ist ja in Arbeit. Die Frage ist, ob sich hieraus nützliche Anwendungsfelder und ein Geschäftsmodell entwickeln lassen. Irgendjemand muss einen Vorteil aus der Anwendung einer Technologie ziehen können: Das entscheidet später der Markt und da wird sich nicht jede Idee als tatsächliche Innovation erweisen. Wir sollen und dürfen aber nicht aufhören, neue Ideen zu entwickeln, die anwendungsorientierte Forschung voranzutreiben und die Ergebnisse im Sinne des Technologietransfers auf die „Straße“ zu bringen. Das erfordert Mut, auch unkonventionelle Ideen zu haben, und es erfordert unternehmerisches Risiko, diese Ideen umzusetzen. Ohne Personen, die Ideen haben, den Mut und das Risiko aufbringen, genau dies zu tun, werden wir aber auch keinen Fortschritt haben. In diesem Sinne bin ich sehr neugierig und freue mich auf die Zukunft.

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Markus Stöckner ist Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Infrastrukturmanagement im Verkehrswesen an der Hochschule Karlsruhe. Das Dienstleistungsangebot des Steinbeis-Unternehmens umfasst die Konzeption und Entwicklung von Pavement-Management-Systemen, die strategische Entwicklung von Verkehrsnetzen, das Erstellen von Erhaltungsplanungen für Verkehrsanlagen sowie Fachberatung für Fragestellungen des Qualitätsmanagements im Straßen- und Verkehrswesen.

Prof. Dr.-Ing. Markus Stöckner
Steinbeis-Transferzentrum Infrastrukturmanagement im Verkehrswesen (IMV) (Bruchsal)