Ein Mannheimer Forscherteam erweitert das Basiskonzept der digitalen Transformation
Wie wird aus meinem physischen Produkt ein smartes Produkt der Zukunft? Diese Frage müssen sich Produzenten unweigerlich stellen, wenn sie über die komplexe Herausforderung der Digitalisierung des eigenen Unternehmens nachdenken. Dabei ist das produzierende Gewerbe nur ein Platzhalter für nahezu jede beliebige Branche. Ein gängiger Weg ist inzwischen, die Smartness nicht direkt in den physischen Objekten zu verankern, sondern einen digitalen Zwilling zu erzeugen und die Intelligenz in diesen Zwilling auszulagern. Das Forschungszentrum CeMOS der Hochschule Mannheim hat sich gemeinsam mit dem Steinbeis-Transferzentrum Intelligente Industrielösungen mit der Frage befasst, wie ein digitaler Zwilling aus einer rein passiven Rolle in die Rolle einer autonom agierenden Entität gelangen kann, und hierfür eine prototypische Infrastruktur realisiert.
Der sogenannte „Digital Twin“ ist ein Kernkonzept der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Er repräsentiert auf der technischen Grundlage des Internet of Things die unterschiedlichsten Objekte der physischen Welt digital. Der Begriff „Repräsentation“ wird dabei weit gefasst: So kann ein digitaler Zwilling lediglich die Daten und Zustände eines physischen Objektes als Objektinstanz im Hauptspeicher eines Computers repräsentieren, aber auch visuelle Abbildungen durch entsprechende Virtual- und Augmented-Reality-Technologien sowie komplexe Simulationsmodelle sind möglich. Jede Zustandsänderung des physischen Objekts spiegelt sich im digitalen Zwilling wider, gleichzeitig werden Zustandsänderungen am digitalen Zwilling aber auch am physischen Objekt nachvollzogen. Das ermöglicht die Schaffung komplexer, cyberphysischer Systeme, deren digitale Repräsentation nicht sinnvoll von der physischen getrennt werden kann.
Der Vorteil eines solchen Systemdesigns liegt in der funktionalen Erweiterbarkeit: Während eine einmal gebaute Maschine oder verfahrenstechnische Anlage nur mit großem Aufwand verändert und erweitert werden kann, können bestimmte Funktionen – wie beispielsweise Datenanalysen von Sensordaten, kontextbezogene Kalibrierungen oder Verfahren des maschinellen Lernens – flexibel im digitalen Zwilling angesiedelt werden. Einem physischen Gerät können so auf einfache Art und Weise smarte Eigenschaften im digitalen Raum verliehen werden, ohne die physischen Objekte anpassen zu müssen. Die Kommunikation zwischen physischem Gerät und digitalem Zwilling wird über den digitalen Faden („Digital Thread“) aufgebaut und gehalten.
Das Ziel: autonom agierende digitale Zwillinge
Bisher ist allerdings keine echte Standardisierung erfolgt, die über die De-facto-Standards des Internet of Things hinausgeht: Die starke Heterogenität der physischen Objekte wie auch der Anforderungen der jeweiligen Anwendungsfälle im Hinblick auf das Zeitverhalten der Geräte sowie der verwendeten Protokolle und Datenaustauschformate verhindert das aktuell noch. Außerdem werden digitale Zwillinge momentan noch eher in einer passiven, meist von externen Ereignissen getriebenen Rolle gesehen und spielen faktisch keine Rolle im Bereich der autonom agierenden, aktiven, agentenähnlichen Systeme. Das schränkt das hebbare Potenzial digitaler Zwillinge, was Wertschöpfung und Produktivität angeht, deutlich ein.
Im Rahmen des Projektes „TWINEvent“ entwickeln die Experten am Forschungszentrum Center for Mass Spectrometry and Optical Spectroscopy (CeMOS) der Hochschule Mannheim eine Gesamtarchitektur, die neben der standardisierten On-Demand-Bereitstellung digitaler Zwillinge (Digital Twin as a Service, DTaaS) auch eine verteilte und skalierbare Laufzeitumgebung, also eine Art „Lebensraum“ für digitale Zwillinge, zur Verfügung stellt.
ProxiCube: Physische Objekte erstellen eigenen digitalen Zwilling
Der Bensheimer Optoelektronik-Spezialist Proxivision, das CeMOS-Team und die Experten des Steinbeis-Transferzentrums Intelligente Industrielösungen arbeiten seit vielen Jahren projektbezo-gen zusammen. Im aktuellen Projekt des Messwürfels „ProxiCube“ haben sie nun die von CeMOS entwickelte Gesamtarchitektur bei der erweiterten Steuerung und Datenverarbeitung eingesetzt. Der Messwürfel misst Umweltdaten aller Art und als besonderes Highlight sowohl Feinstaub als auch in einem getrennten Messkanal flüssige Aerosole.
In der momentanen Pandemie ist dies besonders wichtig. Die hohe Anzahl der auszuliefernden Sensoren und der schnelle Erkenntnisfortschritt erfordern das Auslesen extrem vieler ortsselektiver Daten und häufige Updates der Software. Mit dem digitalen Zwilling können genau solche Vorgänge automatisiert, remote und ohne jeden physischen Kontakt mit den Messwürfeln sehr effizient durchgeführt werden.
Im ersten Schritt entwarf das Projektteam einen Basisdienst, mit dem quasi beliebige physische Objekte einen digitalen Zwilling von sich selbst anhand einer Selbstbeschreibung in einer standardisierten Sprache erzeugen können. Einzige Voraussetzung: Das physische Objekt muss in der Lage sein, direkt oder indirekt (beispielsweise mit einer Gateway-Architektur oder durch Proxys) mit dem DTaaS-System zu kommunizieren. Über die standardisierte Selbstbeschreibungssprache werden nicht nur die Funktionen, Fähigkeiten und Eigenschaften des physischen Objektes beschrieben, sondern es wird auch eine semantische Einordnung der Geräte ermöglicht. Auf diese Weise lassen sich die Objekte in ihren jeweiligen, aktuell gültigen Kontext setzen. Die konkrete Platzierung der digitalen Zwillinge ist transparent und frei konfigurierbar. Auf diese Weise kann die Infrastruktur vollständig in der Cloud betrieben werden, aber auch eine On-Premise-Lösung, der Betrieb auf Edge- und FOG-Servern oder sogar ein hybrider Mischbetrieb kann aufgesetzt werden, wenn es der jeweilige Anwendungsfall erfordert.
Der Basisdienst ist dafür verantwortlich, eine standardisierte Programmierschnittstelle für Anwendungen zur Verfügung zu stellen, und generiert damit automatisch eine Abstraktionsschicht zwischen Anwendungen und den eigentlichen physischen Geräten. Ein Anwendungsentwickler kann auf diese Weise einem oder mehreren digitalen Zwillingen weitergehende Funktionen und Fähigkeiten verleihen: Das können Parameterstudien, Simulationen oder auch Optimierungsverfahren sein, um nur einige zu nennen, deren Ergebnisse und Auswirkungen sich dann – per Definition – auf das physische Objekt übertragen. Der Basisdienst sorgt also automatisch für eine generische und um semantische Eigenschaften angereicherte Instanziierung eines digitalen Zwillings, den bidirektionalen Datenaustausch zwischen digitalem Zwilling und physischem Gerät sowie die automatische Erzeugung einer auf offenen Standardprotokollen basierenden Programmierschnittstelle für Anwendungsentwickler, die dem Zwilling (und damit auch dem Gerät selbst) smarte Fähigkeiten hinzu implementieren.
Autonome Kommunikation zwischen mehreren digitalen Zwillingen
Jenseits des Basisdienstes ist das Projektteam an der Entwicklung einer Erweiterung der Laufzeitumgebung, die es den digitalen Zwillingen erlaubt, autonom und selbstständig zu agieren und prädefiniert Ziele zu verfolgen. Dazu werden Ansätze aus Multiagentensystemen untersucht und in adäquater Weise implementiert. Das Team verspricht sich hiervon die Möglichkeit, komplexe Prozesse zwischen mehreren digitalen Zwillingen abbilden zu können, ohne dass der Kontrollfluss durch eine zentrale Anwendung gesteuert wird. Eine solche Lösung wird – gerade im Zusammenspiel mit der semantischen Kontexteinordnung – die Kommunikation und Prozessabbildung digitaler Zwillinge ermöglichen, die sich a priori nicht kennen. Auch hier ist das Anwendungspotenzial groß: Digitale Zwillinge von Werkstücken holen eigenständig Angebote für eine Bearbeitung in unterschiedlichen Bearbeitungszentren ein oder Produkte in der Distribution bemühen sich selbst um eine schnellstmögliche Auslieferung zum Kunden im Rahmen eines vorgegebenen Budgets. Lösen die digitalen Zwillinge das Problem, ist es damit automatisch auch in der physischen Welt gelöst und es können automatisch die notwendigen Maßnahmen eingeleitet werden.
Die Projekte der Mannheimer Forscher zeigen die Möglichkeiten des Systems im Kontext von Smart-X-Szenarien: Ob Smart Production, Smart Cities oder Smart Transportation, mithilfe der autonomen digitalen Zwillinge können verteilte, skalierende Anwendungsfälle mit einfachen Mitteln bedarfsgerecht automatisiert werden. Das entwickelte System stellt daher einen elementaren Baustein im Rahmen der digitalen Transformation für Wirtschaft und Gesellschaft dar und leistet einen Beitrag zur schnellen und bedarfsgerechten Adaption und Implementierung komplexer Technologien.
Kontakt
Prof. Dr. Matthias Rädle (Autor)
Steinbeis-Unternehmer
Steinbeis-Transferzentrum Intelligente Industrielösungen (Mannheim)
Prof. Dr. Julian Reichwald
Wirtschaftsinformatik – Digital Business Technologies
Forschungszentrum CeMOS (Center of Mass Spectrometry and Optical Spectroscopy) der Hochschule Mannheim