„Innovieren, statt kopieren“

Im Gespräch mit Zukunftsforscher und Steinbeis-Experte Professor Dr. Heiko von der Gracht

Nachahmerpräparate von Arzneimitteln, deren Patent ausgelaufen ist, haben bereits heute einen massiven Einfluss auf Gesundheitssysteme in der ganzen Welt. Die sogenannten Generika und ihr biotechnologisches Spiegelbild – die Biosimilars – erobern mehr und mehr die Kliniken und Haushalte, auch in Europa. Doch wird sich das Kopieren patentfreier Arzneimittel auch dann noch als lukrativ für die Produzenten erweisen, wenn technologische Entwicklungen in Zukunft die Innovationszyklen der Originalhersteller rasant beschleunigt haben? Mit dieser Frage beschäftigt sich die jüngste wissenschaftliche Studie der School of International Business and Entrepreneurship (SIBE) in Kooperation mit Pro Generika e. V. Einblick in die Ergebnisse gibt Professor Dr. Heiko von der Gracht, Inhaber des Lehrstuhls für Zukunftsforschung an der Steinbeis-Hochschule, der die Studie wissenschaftlich geleitet hat.  

Herr Professor von der Gracht, was ist das Besondere an Ihrer Studie?

Zum einen ist sie die erste Publikation, die mithilfe wissenschaftlicher Methoden die Zukunft der Generika- und Biosimilarsindustrie untersucht. Dies nicht nur unilateral, sondern multilateral. Unsere Grundlage bilden die Einschätzungen verschiedenster Anspruchsgruppen der Branche, sowohl von Unternehmen und aus der Wissenschaft als auch aus dem politischen Umfeld. Zum anderen fokussiert sich unsere Studie nicht auf eine einzelne zentrale Entwicklung, sondern zieht vielmehr verschiedene Trends, auch aus angrenzenden und entfernten Branchen, zurate, um vier plausible und konsistente Bilder zur Zukunft der Generika- und Biosimilarsindustrie in Europa zu illustrieren.

Wie sehen diese Zukunftsszenarien aus?

Auf der einen Seite haben wir zum Beispiel die Entwicklung hin zur Plattformökonomie. In diesem Szenario ermöglichen neue Technologien die dezentrale Produktion und Distribution von Arzneimitteln. Hersteller tun in diesem Rahmen gut daran, eigene Plattformen aufzubauen und den direkten Kontakt zu Patienten zu suchen. Auf der anderen Seite steht ein Szenario, in dem strenge Regularien im Sinne der Nachhaltigkeit zu beobachten sind. Eine positive ökologische Bilanz ist der Standard für Unternehmen, auch in der pharmazeutischen Industrie. Mit diesen harten Vorgaben vor der Brust fokussiert sich die Generika- und Biosimilarsindustrie darauf, ihre Produkte in Europa zu produzieren und zu vertreiben. Eine deutliche Deglobalisierung ist also zu beobachten. Dies waren nur zwei beispielhafte Einblicke in die umfangreichen Szenarien aus unserer Studie.

Wie bewerten Sie auf Basis der Experteneinschätzungen in Ihrer Studie das Mindset der Generika- und Biosimilarsbranche?

Einige Insider der Generikaindustrie gehen offenbar davon aus, dass die Zukunft ein beschlossener Deal auf Basis des bisher erfolgreichen Geschäftsmodells sei. Richtig ist jedoch, dass sich das Geschäftsmodell der Generikahersteller nach 50 Jahren Erfolgsgeschichte mit Disruptionen wie zum Beispiel personalisierter Medizin konfrontiert sieht. Im Bereich der Biosimilars eröffnen sich ebenso vollkommen neue Möglichkeiten, zum Beispiel durch mobile Bioreaktoren. Für beide Industrien bedeuten diese Entwicklungen, dass sie jetzt reagieren müssen und noch rechtzeitig strategische Allianzen, neue Geschäftsfelder, Kooperationen oder Technologien angehen sollten.

Stichwort neue Technologien: Wie sieht es in der Generika- und Biosimilarsbranche damit aus?

Alle reden von digitaler Revolution, Digital Health und vom 3D-Druck. Die Generikaindustrie aber fühlt sich von diesen tiefgreifenden Entwicklungen noch wenig beeinflusst. Dabei halte ich es für unausweichlich, dass die Konsequenzen der Plattformökonomie auch bei den Generikaherstellern ankommen. Entscheidend ist, dass eine Plattform nicht nur neue Vertriebskanäle schafft, sondern auch die Macht der Daten nutzt.

Welche Ursachen gibt es für dieses konservative Denken in der Branche?

An dieser Stelle muss ich eine Lanze für die Hersteller in der Branche brechen. Das am häufigsten genannte Argument, mit dem sich die Branche gegen Entwicklungen verwehrt, ist der Preis. Es lautet in etwa: „Generika und Biosimilars wird es immer geben, weil das Gesundheitswesen ohne preisgünstige Alternativen unter der Kostenlawine zusammenbricht.“ In diesem Sinne entsteht konservatives Denken durch Routinen, die wiederum von der Politik gefördert werden. Ich sehe hier also vor allem die Politik in der Pflicht, zum einen den Kostendruck auf die Generikaindustrie zu reduzieren und zum anderen einen Druck solchen Ausmaßes bei den Biosimilars gar nicht erst zuzulassen.

Was würden Sie Unternehmen der Generika- und Biosimilarsbranche vor diesem Hintergrund raten?

Sie sollten nicht auf die Politik warten. Eine Handlungsoption unserer Studie ist der Appell an die Unternehmen der Branche zu innovieren, statt zu kopieren. Noch funktioniert das gegenwärtige Geschäftsmodell. Die Frage ist nur, wie lange dieser Zustand anhält, vor allem wenn sich aus politischer Perspektive nichts verändert. Wer heute proaktiv agiert und Innovationen vorantreibt, kann optimistischer in die Zukunft blicken. Damit wären wir auch bei einem weiteren Baustein und einer ergänzenden Handlungsempfehlung unserer Studie: Die Unternehmen sollten den Aufbau eigener Zukunftskompetenz vorantreiben. Wer nicht nur Megatrends, sondern ebenso schwache Signale auf dem Radar hat, neigt weniger dazu in die Routinefalle zu tappen. Strategische Vorausschauprozesse helfen den Organisationen dabei Innovation voranzutreiben und unterstützen sie dabei Fehler zu vermeiden. Ein namhaftes Beispiel ist das Videotheken-Franchise „Blockbuster“, das im Jahr 2000 den Kauf von Netflix ausschlug. Hätte es schwache Signale systematisch untersucht, wäre durchaus eine andere Richtung für die Entwicklung der Organisation denkbar gewesen.


Die Publikation „Die Zukunft der europäischen Generika- und Biosimilarsindustrie 2030plus“ liefert auf Basis einer Real-Time Delphi-Befragung wissenschaftliche Einblicke in die Wahrnehmung von mehr als 60 Experten zur Zukunft der Branche. Sie zeigt, welche zukünftigen Entwicklungen die Experten für wahrscheinlich, einflussreich und wünschbar halten. Auf dieser Basis werden mithilfe der etablierten Szenario-Technik vier spannende und plausible Zukunftsbilder für die Generika- und Biosimilarsindustrie sowie nahestehende Branchen abgebildet. Über die wissenschaftlich fundierten Einblicke der delphibasierten Szenarien hinaus werden in der Lektüre Handlungsoptionen für Unternehmen der pharmazeutischen Industrie, insbesondere der Generika- und Biosimilarsbranche, entworfen. In diesen werden unterschiedlichste Chancen für die Organisationen aufgegriffen, die bereits heute zu erkennen sind. Abgerundet wird die wissenschaftliche Studie durch Interviews mit herausragenden Persönlichkeiten der Branche: So stellen unter anderem Vordenker, wie Biontech-Investor Dr. Thomas Strüngmann und CureVac-Gründer Dr. Ingmarr Hoerr, ihre Visionen zur Zukunft der pharmazeutischen Industrie und hierin absehbare, disruptive Entwicklungen dar. Die Studie ist in der Steinbeis-Edition erschienen und hier erhältlich.

Kontakt

Prof. Dr. habil. Heiko von der Gracht (Interviewpartner)
Professur für Zukunftsforschung
Steinbeis-Hochschule (Berlin)
www.steinbeis-hochschule.de

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