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Sensorunterstützte Diagnose: direkt, zuverlässig und schnell

Bioelektronische Sensoren spielen bei der Therapie eine immer größere Rolle

Der Stoffwechsel unterscheidet sich von Mensch zu Mensch und damit ist auch die Medikamentenwirkung nicht bei jedem Patienten gleich. In der Medizin der Zukunft wird es schnell und einfach möglich sein, für jeden einzelnen Patienten die ideale Wirkstoffkombination und die passende Dosierung zu finden. Aber bereits heute liefern bioelektronische Sensoren die nötigen Daten, um den Therapieerfolg vorhersagen zu können. Sie können die Heilung eines Knochenbruchs überwachen oder feststellen, wenn ein Tumor plötzlich zu wachsen beginnt. Und sie bieten die Chance, bei der Erprobung neuer Medikamente künftig auf Tierversuche zu verzichten. Die Experten am Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik und Lab on Chip-Systeme in München haben sich auf bioelektronische Sensoren spezialisiert und konzipieren daraus intelligente Systeme für die Medizin.

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Im Zentrum dieser Systeme steht ein spezieller elektronischer Sensorchip, den das Team um Professor Dr. Bernhard Wolf in jahrelanger Forschungsarbeit entwickelt und optimiert hat: ein sogenannter „multiparametrischer Sensorchip“. Er kann mehrere Parameter wie pH-Wert, Temperatur, Sauerstoffgehalt, Impedanz und Ionenkonzentration gleichzeitig ermitteln, weil mehrere Sensoren auf einem einzigen Chip angeordnet sind. Durch stetige Miniaturisierung ist ein solcher Sensorchip heute gerade mal ein paar Millimeter groß. Für viele medizinische Anwendungen ist dies entscheidend, etwa in elektronischen Implantaten. Die Daten, die ein multiparametrischer Sensorchip liefert, können vom Computer ausgewertet und miteinander korreliert werden. So ist es innerhalb kurzer Zeit möglich, Aussagen über den Zustand von lebenden Zellen und Geweben zu treffen, was einen entscheidenden Vorteil für unterschiedlichste medizinische Fragestellungen bietet.

Schnelle Medikamententests: Weniger Nebenwirkungen, geringere Kosten
Für Medikamententests verwenden die Steinbeis-Experten eine Mikrotiterplatte mit 24 Reaktionskammern, die von einem Pipettierroboter befüllt werden können. In jeder dieser Kammern befindet sich ein multiparametrisches Sensor­array – jede Reaktionskammer ist quasi ein bioelektronisches Mini-Labor. Direkt auf den Sensoren der intelligenten Multiwellplatte werden tierische oder menschliche Zellen kultiviert. Es entsteht ein biohybrides System aus lebenden Zellen und elektronischem Sensor. Wird eine Substanz in flüssiger Form in die Reaktionskammer gegeben, messen die Sensoren die Antwort im Stoffwechsel der Zellen, zum Beispiel eine Veränderung des pH-Werts und der Sauerstoffkonzentration in der Umgebung der Zellen. Die Daten leitet die Elektronik dann zur Auswertung an einen Computer weiter.

Mit diesem Verfahren sind große Testreihen möglich, die für Medikamententests unerlässlich sind. So kann etwa ermittelt werden, welche Wirkstoffkombination den Tumor eines Patienten am besten bekämpft. Dazu entnimmt der Arzt dem Patienten per Biopsie Tumorzellen, die im Labor auf den Sensoren der intelligenten Multiwellplatte kultiviert werden. Der Roboter pipettiert dann hochpräzise 24 unterschiedliche Wirkstoffkombinationen und -konzen­trationen in die Reaktionskammern und die Sensoren messen die Reaktion der Tumorzellen. Der Computer schlägt anhand der Messdaten den idealen Wirkstoff und die beste Dosierung vor. Auf diese Weise erhalten die behandelnden Mediziner wichtige Informationen da­rüber, welches Medikament beim betreffenden Patienten den größten Behandlungserfolg verspricht und welches eher nicht in Frage kommt – gerade in der Krebstherapie ist dieses Wissen entscheidend. Auf diese Weise kann der Patient von vornherein mit dem passenden Medikamentenmix und der idealen Dosis behandelt werden, so können die Nebenwirkungen reduziert und Kosten gesenkt werden.

Das vom Münchner Steinbeis-Team entwickelte System „Intelligent Microplate Reader“ (IMR) kann für unterschiedliche Testanforderungen angepasst werden. Besonders gut eignet es sich, um Medikamente vor der Zulassung auf Wirksamkeit und Verträglichkeit zu prüfen. Damit könnte künftig ein großer Teil der heute gängigen Tierversuche entfallen. Und in Kooperation mit der Domatec GmbH, einem mittelständischen Spezialisten für Wasserhygiene und Umweltanalytik, wollen die Steinbeis-Experten ihr IMR-System demnächst modifizieren, um schnell und zuverlässig die Keimbelastung in Klimaanlagen und im Trinkwasser messen zu können.

Elektronische Implantate: Direkt im Körper messen und schnell reagieren
Die personalisierte Medizin ist aktuell einer der wichtigsten Trends in der Medizin. Hierbei können die elektronischen Implantate unterstützen, sie erfassen die für die Personalisierung der medizinischen Diagnose und Therapie benötigten physiologischen Daten direkt im menschlichen Körper. Auch das ist keine Zukunftsmusik mehr: Die Steinbeis-Experten haben dafür intelligente Implantate entwickelt, die ungefähr die Größe einer Schokoladen-Linse haben. Sie können minimalinvasiv direkt an Tumoren eingesetzt werden, die nicht operativ entfernt werden können. Sobald der Tumor wächst, misst der Sensor an der Oberfläche des Implantats die abnehmende Sauerstoffkonzentration bei gleichzeitig sinkendem pH-Wert im umgebenden Gewebe und sendet die Daten an eine Empfängereinheit außerhalb des Körpers. Der Arzt kann da­raufhin eine Therapie einleiten. Oder das Implantat wird automatisch tätig und verändert auf elektronischem Weg das Transmembranpotenzial der Tumorzellen, wodurch das Wachstum des Tumors gehemmt wird. Der Krebs wird sozusagen „elektrisch ausgeschaltet“. Ein solches Closed-Loop-System ermöglicht eine sehr schnelle Reaktion auf Veränderungen im Tumor. Dadurch werden schwere Nebenwirkungen vermieden und der Organismus geschont, so wird die Lebensqualität des Patienten deutlich weniger beeinträchtigt als bei heute üblichen Therapien.

Die Implantate erlauben in vivo auch Lang­zeitmessungen. Sie könnten zukünftig auch die Heilung eines Knochenbruchs, den Zustand orthopädischer Implantate oder die Funktion transplantierter Organe überwachen. Denn auch in diesen Fällen gibt die Sauerstoffsättigung des Gewebes Aufschluss über den Zustand der betroffenen Körperbereiche und die Sensoren der elektronischen Implantate liefern die dafür entscheidenden Daten. Gemeinsam mit dem Elektronikhersteller Texas Instruments wollen die Steinbeis-­Forscher ihre Sensoren und Implantate weiter optimieren und vor allem weiter miniaturisieren.

Elektronische Zahnschienen gegen Zähneknirschen
Ebenfalls nach dem Schema eines Closed-Loop-Systems funktioniert die „intelligente Zahnschiene“, die zur Diagnose und Therapie von Bruxismus (Zäh­neknirschen) dient, allerdings kommt hier eine andere Art von Sensoren zur Anwendung. Basis ist eine individuell an den Patienten angepasste Zahnschiene, in die ein piezoelektrischer Sensor, ein Funktransmitter und eine Stromversorgung integriert sind. Der Sensor misst die (meist nächtlichen) Kauaktivitäten. Die Daten werden drahtlos an eine Empfängereinheit gesendet, die sich neben dem Bett oder unter dem Kopfkissen befindet. Über eine USB-Schnittstelle können die gespeicherten Daten auf den Computer des behandelnden Arztes übertragen werden. Zeitpunkte und Intensitäten der Knirschereignisse lassen Rückschlüsse auf deren Ursachen zu. Neben der diagnostischen Anwendung des Systems ist ein sofortiges taktiles (in Form von Vibration) oder akustisches Biofeedback über die Empfängereinheit möglich. Dieser Reiz führt langfristig dazu, dass der Patient sich das Zähneknirschen abgewöhnt.

Ein Arzt in der Jackentasche
Auch für die Telemedizin hat das Forscherteam um Bernhard Wolf seine Expertise in der Sensorik genutzt und ein handliches All-in-one-Medizingerät entwickelt: Es ist quasi der Arzt in der Jackentasche. Der Patient legt täglich seinen Finger in eine integrierte Manschette mit den Sensoren, die in einem einzigen Vorgang Blutdruck, Temperatur, Puls, Sauerstoffsättigung des Bluts und Hydratisierung messen. Der Blutzuckerwert wird durch einen Bluttropfen und einen Messstreifen ermittelt. Sofern der Patient zustimmt, übermittelt das All-in-one-Medizingerät alle Werte automatisch per Mobilfunk an eine Datenbank. Hierfür kommt das Telemedizin-System COMES® zum Einsatz, das in den vergangenen Jahren aufgebaut wurde. Der behandelnde Arzt hat jederzeit Zugriff auf die Daten seiner Patienten, bei auffälligen Werten wird er sofort alarmiert und kann eingreifen. COMES® kann dem Patienten anhand der Messwerte aber auch automatische Warnmeldungen senden und ihm individuelle Maßnahmen vorschlagen.

Gerade in Pandemiezeiten ist es von Vorteil Arztpraxen zu entlasten, das haben die vergangenen Monate eindrucksvoll gezeigt. Die Medizin der Zukunft wird also zu einem gewissen Teil auch Telemedizin sein: Patienten messen ihre Vitalwerte selbst, bleiben auf digitalem Weg aber trotzdem mit der Arztpraxis in Verbindung. Der große Vorteil des All-in-one-Medizingeräts ist, dass es handlich und einfach zu bedienen ist. Es kann zu Hause und unterwegs eingesetzt werden, sowohl durch den Patienten als auch durch einen Pflegedienst. Auch in der Klinik ist es für das Pflegepersonal eine enorme Erleichterung, mit einem einzigen Gerät in einem Schritt viele verschiedene Parameter zu messen, wobei die Daten auch gleich an die digitale Patientenakte gesendet werden können. Damit vereinfacht sich die oft zeitraubende Dokumentation. Derzeit entwickeln die Stein­beis-Experten eine neue Generation des All-in-one-Geräts, das künftig noch handlicher sein und ein besonders intuitives Design haben soll.


„Digitale Medizin kann Therapie über Raum und Zeit ermöglichen“

Im Gespräch mit Professor Dr. Bernhard Wolf, Steinbeis-Unternehmer
am Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Elektronik und Lab on Chip-Systeme

Herr Professor Wolf, wo stehen wir Ihrer Meinung nach auf dem Weg zur Digitalisierung im Gesundheitswesen, geht es schnell genug voran?
Nein, meiner Meinung nach geht es viel zu langsam voran. Im Vergleich zu Skandinavien liegen wir 15 Jahre zurück. Selbst manche südeuropäische Länder haben einen gewaltigen Vorsprung gegenüber Deutschland. Zum einen liegt das an den unterschiedlichen technologischen Standards, die am Markt durchgesetzt werden sollen, zum anderen an den wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen Institutionen im Gesundheitswesen. Deutschland könnte längst ein medizinisches Datennetz haben, vergleichbar mit dem deutschen Wissenschaftsnetz. Aber der bisherige Partikularismus wird wohl auch in den nächsten 100 Jahren verhindern, dass hierzulande die Digitalisierung im Gesundheitswesen zum Wohle der Patienten ausgebaut wird.

Welche Probleme könnten durch eine schnelle Digitalisierung in der Medizin behoben werden? Wie ist die Akzeptanz bei Patienten und Ärzten dafür?
Digitale Medizin kann Therapie über Raum und Zeit ermöglichen. Wird sie verantwortungsbewusst und umsichtig eingesetzt, findet sie eine große Akzeptanz bei den Patienten: Das weiß ich aus eigenen Erfahrungen und von Kontakten zu digitalen Dienstleistern wie beispielsweise dem Versorgungsnetzwerk Medgate in der Schweiz. Viele Ärzte stehen der digitalen Medizin allerdings immer noch skeptisch gegenüber, weil sie befürchten dadurch Patienten zu verlieren. Außerdem haben manche Mediziner die Sorge, sie könnten wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden, wenn sie bei einer telemedizinischen Versorgung ihrer Patienten im Ernstfall nicht rechtzeitig einschreiten. Dabei ist es den skandinavischen Ländern gelungen, durch Telemedizin bei der Versorgung der Patienten im Vergleich zu Deutschland einen Qualitätsvorteil von bis zu 75 % – je nach Krankheit – zu erreichen, und das bei einem wesentlich dünneren Netz von Kliniken.

Bioelektronische Sensoren erheben Daten direkt am Menschen, wie sieht es da mit der Datensicherheit aus?
Gesundheitliche Daten können heute am Menschen nicht-invasiv bereits mit sehr hoher Präzision erfasst werden, dabei gibt es kein Risiko bezüglich der Datensicherheit. Das Thema wird erst dann akut, wenn personalisierungsfähige Daten auf „Abwege“ geraten. Aber prinzipiell erlauben es die verfügbaren Verschlüsselungstechniken sichere und störungsfreie Datennetze aufzubauen, das zeigt uns nicht zuletzt die Raumfahrt, wo selbst sehr kritische Prozesse über extrem weite Entfernungen sensorkontrolliert gesteuert werden. Dieses Sicherheitsniveau ist natürlich auch in medizinischen Datennetzen möglich.

Kann elektronische Sensorik die Medizin wirklich kostengünstiger machen?
Viele Krankheiten treten nicht ad hoc auf, sondern haben eine lange Vorgeschichte, sie könnten eigentlich rechtzeitig erkannt werden. Gute Beispiele sind die Herzinsuffizienz oder der Schlaganfall. Sensorisch erfasste Daten spielen dabei eine Schlüsselrolle. Wird der Blutdruck regelmäßig gemessen, das Körpergewicht beobachtet und werden durch ein einfaches EKG-Implantat in Kombination mit Pulsoxymetrie periodisch Daten erfasst, kann der Arzt ungefähr in vier von fünf Fällen Befindlichkeitsstörungen seiner Patienten bereits im Vorfeld erkennen und darauf reagieren: Das spart eine Menge Kosten. Geeignete Geräte mit der nötigen Sensorik stehen dafür längst zur Verfügung, etwa das von uns entwickelte All-in-one-Medizingerät, das am Finger des Patienten Vitaldaten misst und an den Arzt weiterleitet.

Geht die Menschlichkeit nicht verloren, wenn die Medizin digital wird?
Ganz im Gegenteil: Digitale Medizin ist stets unterstützend, sie erleichtert dem Arzt seine tägliche Arbeit und erlaubt es ihm, sich mit höherer Intensität auf die Patienten zu konzentrieren – das steigert die Menschlichkeit. Und praktische Erfahrungen mit telemedizinischen Zentren haben gezeigt, dass sie dem Patienten in vielen Fällen schnell helfen können, weil sie ihm die Panik nehmen und ihn zu einer ruhigeren Einschätzung seiner akuten Situation bringen. Damit werden unnötige Notfallaufnahmen verhindert, es kann sofort eine sachgerechte Therapie eingeleitet werden. Für den Patienten ist es doch nur von Vorteil, wenn seine Daten im Ernstfall sofort vorliegen, damit sie vom behandelnden Arzt digital abgerufen werden können und er sich dann sofort ein Bild vom Allgemeinzustand des Patienten machen kann. Auf diese Weise können auch Komplikationen durch Medikamentenunverträglichkeiten verhindert werden: Das ist individualisierte und personalisierte Medizin im positiven Sinne.