Prof. Dr. Heiner Lasi und Michael Köhnlein

Von der Digitalisierung zur Business Transformation

Im Gespräch mit Prof. Dr. Heiner Lasi und Michael Köhnlein

2019 war für das Ferdinand-Steinbeis-Institut in vielerlei Hinsicht ein ereignisreiches Jahr. Neben zahlreichen Micro Testbeds, in denen das Team aus rund 30 Wissenschaftlern und Mitarbeitern aus der Praxis in kleinen Anwendungsszenarien mit Mittelständlern und Handwerksunternehmen konkrete Herausforderungen der digitalen Transformation angeht, standen 2019 die Gründung der Ferdinand-Steinbeis-Gesellschaft und eines weiteren Standortes am Bildungscampus Heilbronn im Fokus. TRANSFER veröffentlicht an dieser Stelle ein Interview mit Prof. Dr. Heiner Lasi und Michael Köhnlein, Geschäftsführer am Ferdinand-Steinbeis-Institut, das im Rahmen des Jahresberichts des FSTI entstand.

Herr Professor Lasi, Herr Köhnlein, hinter dem Ferdinand-Steinbeis-Institut liegt ein spannendes akademisches Jahr. Worauf hatte sich das Team fokussiert, was waren die Herausforderungen 2019?

Lasi: Das vergangene Jahr war vielleicht das dynamischste Jahr in der noch jungen Geschichte des Ferdinand-Steinbeis-Instituts. Vor fünf Jahren sind wir mit einem kleinen Team und einem engen Fokus auf die Veränderung der Wertschöpfung durch Digitalisierung und Vernetzung gestartet. Im vergangenen Jahr hat das Ferdinand-Steinbeis-Institut durch tolle neue Köpfe enorm an Interdisziplinarität und Internationalität gewonnen. Dadurch haben sich neue Perspektiven und zusätzliche methodische Ansätze für unsere Forschung ergeben. Sie ermöglichen es uns, die für uns zentrale Frage, wie unsere Wirtschaft vom Handwerksbetrieb über KMUs bis zu den großen Unternehmen neuen Nutzen stiften und zusätzliche Wertschöpfung generieren kann, aus weiteren Blickwinkeln zu betrachten. Durch diese ganzheitliche Perspektive haben wir uns in unserem Selbstverständnis von einem Institut für Digitalisierung zu einem Institut für Business Transformation weiterentwickelt.

Köhnlein: Vor dem Hintergrund unseres Verständnisses von „dualer wissenschaftlicher Forschung“ möchte ich gerne ergänzen, dass sich auch der Bereich des „Transfers“ durch neue Mitarbeiter wesentlich weiterentwickelt hat. Durch diese Dynamik konnten wir hinsichtlich unseres Leitbildes sowohl wissenschaftlich als auch in der Umsetzung die Stufe des Proof of Concept überschreiten. Wir sind jetzt so weit, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig verändern und neue von uns initiierte Ökosysteme in der realen Welt Einzug halten. Wir begleiten die Umsetzung und sind hierdurch in der Lage, die Veränderungen wissenschaftlich zu abstrahieren, beschreiben und verstehen zu können. Das ist für uns ein großer Schritt.

Mit seinen Projekten ist das Ferdinand-Steinbeis-Institut immer eins: am Puls der Zeit. Eine hohe Dynamik und ein sich rasant weiterentwickelnder digitaler Fokus bringen immer auch unerwartete Herausforderungen mit sich. In welchen Projekten und Entwicklungen im vergangenen Jahr steckte das größte Potenzial an Überraschungen?

Köhnlein: Überrascht haben mich im vergangenen Jahr gleich mehrere Projekte. Interessanterweise beinhalteten die Projekte meist Problemstellungen, deren Bezug zur Digitalisierung gar nicht so offensichtlich war, wie beispielsweise die Frage nach zusätzlicher Wertschöpfung in der Gastronomie oder das Projekt zur Beherrschung von Risiken in der Holzindustrie. Dieses Projekt zeigt exemplarisch, dass Digitalisierung einfach, schnell und konkret Nutzen stiftet. Wir konnten dank eines gut funktionierenden Zusammenspiels mehrerer Partner – wir nennen das ein Ökosystem – sehr schnell die Realität über digitale Abbilder in der Virtualität darstellen.

Am Beispiel der Holzindustrie sind dies digitale Abbilder von Motoren oder Maschinen, die Informationen wie Temperatur, Körperschallschwingung oder Leistungsaufnahme beinhalten. Damit können innerhalb des Ökosystems Partner mit ihren Fähigkeiten beispielsweise Risiken frühzeitig erkennen und proaktiv andere Partner dazu befähigen, die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Dadurch wurden bereits riskante Situationen, die vielleicht zu einem Brand, auf jeden Fall aber zu einem Maschinenschaden geführt hätten, erkannt und durch rechtzeitige Gegenmaßnahmen vermieden. Wissenschaftlich betrachtet bedeutet dies, dass unser Verständnis der wirtschaftlichen Transformation in der Umsetzung bestätigt werden konnte: Virtualität steuert Realität und schafft somit neuen Nutzen. Im Rahmen unserer wirtschaftlichen Forschung verstehen wir immer besser, wie sich neue Nutzenszenarien gestalten lassen, wie neue Wertschöpfung entsteht und wie bisherige Geschäftsmodelle an Bedeutung verlieren. Im genannten Beispiel betrifft dies insbesondere die Versicherungswirtschaft, die sich disruptiv verändern wird. Da unsere Digitalisierungsprojekte in der Regel ergebnisoffen starten, bin ich persönlich immer wieder überrascht, welche neuen Nutzenszenarien sich ergeben und wie diese in der Wirtschaft umgesetzt werden.

Lasi: Ein Aspekt, den ich an dieser Stelle noch ergänzen möchte, ist die für mich zunächst unerwartete Aufmerksamkeit, die wir durch die konkreten Umsetzungen seitens der Politik erhalten haben. Vor einem Jahr hätte ich noch nicht zu träumen gewagt, dass wir mit den Erkenntnissen aus unseren internationalen Aktivitäten in Verbindung mit den Ergebnissen, die wir in der Umsetzung mit der lokalen Wirtschaft erarbeitet haben, das Interesse der Politik in Baden-Württemberg und in Berlin wecken würden. Für mich persönlich war es ein Zeichen der Wertschätzung für unser gesamtes Institut, unsere Erfahrung in die Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche, soziale und ökologische Potenziale“ des Deutschen Bundestages einbringen zu können. Besonders gefreut hat mich die Entwicklung, dass wir seit November 2019 Teil des Bildungscampus Heilbronn sind. Dies wurde durch die großzügige Unterstützung der Dieter Schwarz Stiftung möglich. Zusammen mit anderen Forschungsinstituten und Hochschulen am Bildungscampus Heilbronn zu arbeiten, ist für uns eine Auszeichnung und ein Ansporn zugleich. Die Möglichkeiten, die uns dort geboten werden, sind einzigartig und ich denke, dass wir mit unserem Ansatz der dualen wissenschaftlichen Forschung eine Bereicherung für den Bildungscampus und die Wirtschaft in der Region Heilbronn sind.

Forschung und Transfer heißt auch immer permanent dazu zu lernen. Welche Projekte haben für Sie im vergangenen Jahr den größten Lerneffekt mit sich gebracht?

Köhnlein: Den größten Lerneffekt gab es nicht in einem einzelnen Projekt, sondern durch die Muster, die sich durch eine Vielzahl von Projekten ergeben. Die „key takeaways“ der Projekte aus dem vergangenen Jahr sind für mich: Digitalisierung ist nicht teuer, hat nichts oder nur wenig mit „der“ IT zu tun, und kann sehr schnell einen konkreten Nutzen stiften. Mit ein und demselben Lösungsansatz kann im Verlauf eines Projekts weiterer zu Anfang ungeahnter Nutzen generiert werden, der Branchen betreffen kann, die man zu Beginn nicht im Fokus hatte.

Lasi: Mit der Frage nach Projekten assoziiere ich in meiner Funktion als Professor in erster Linie Dissertations- und Forschungsprojekte. In diesem Kontext haben wir ausgezeichnete Forschungsvorhaben, die überwiegend mit öffentlichen Forschungsmitteln und wertvollen Kooperationspartnern, wie dem Handwerkstag oder dem Großhandelsverband, durchgeführt werden können. Hierbei haben wir zahlreiche spannende Projekte im realen Feld mit dem Mittelstand, dem Großhandel und dem Handwerk – und genau hier konnte ich dank unserer tollen Doktorandinnen und Doktoranden im vergangenen Jahr viel lernen. Eine Erkenntnis war, dass Branchen- und Gewerkegrenzen ebenso wie Unternehmensgrenzen zunehmend verschwinden und neue Wertschöpfung durch das kooperative Zusammenspiel von Unternehmensfähigkeiten, virtuellen Abbildern und Technologien, wie beispielsweise KI, entsteht. Um Unternehmen für diese neue Form des orchestrierten Wirtschaftens zu befähigen, benötigt es auf Basis unserer Forschungsergebnisse neue Methoden und (Leadership-)Fähigkeiten. Im vergangenen Jahr ist beispielsweise aufgrund einer umfassenden Studie der pragmatische Lösungsansatz einer Toolbox für Handelsunternehmen zur Gestaltung der digitalen Transformation entstanden. In einem anderen Vorhaben konnte eine große Anzahl von Ansätzen zur Erarbeitung neuer Geschäftsmodelle mit über 100 Handwerkern evaluiert werden – super spannend, wissenschaftlich anspruchsvoll und mit einem konkreten Nutzen. Gelernt habe ich zudem, dass duale wissenschaftliche Forschung in mir eine Leidenschaft weckt. Ich bin überzeugt, dass wir damit einen Beitrag für unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, die Wissenschaft und unsere Führungskräfte von morgen leisten können.

Sie haben beide deutlich gemacht, wie der Anspruch einer dualen wissenschaftlichen Forschung die Projekte am Ferdinand-Steinbeis-Institut prägt. Worin liegen die Herausforderungen dieses besonderen Forschungsansatzes?

Lasi: Aus der „klassischen Wissenschaft“ kommend, war es für mich eine große Herausforderung, unausgesprochene Forschungsparadigmen zu hinterfragen und den Nutzen von Real-Wissenschaft neu zu denken. Dabei waren mir einige sehr geschätzte Kollegen an der Steinbeis-Hochschule eine große Hilfe. Des Weiteren hat der Diskurs mit Steinbeis-Kollegen dazu beigetragen, die beiden teils unvereinbar zu scheinenden Pole „Abstraktion“ und „konkreter Nutzen“ vor dem Hintergrund der „dynamischen Synergie von Polen“ als Ansatz einer anderen Denkstrategie zu verstehen. Diesen „Denkprozess“ fortzuführen und die duale wissenschaftliche Forschung im Spannungsfeld des wissenschaftlichen Anspruchs einerseits als auch der praktischen Relevanz andererseits zu navigieren, ist und bleibt für mich eine Herausforderung.

Köhnlein: Als ich nach langjähriger Arbeitserfahrung in der Wirtschaft an ein wissenschaftliches Institut kam, hatte ich tatsächlich meine Zweifel, dass duale wissenschaftliche Forschung funktionieren kann. Die Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren machen durfte, haben mich überzeugt, dass sich Wissenschaft und Wirtschaft im Bereich der Business Transformation gegenseitig bedingen. Phänomene in der Realität zu identifizieren, sie zu abstrahieren und Muster zu erkennen, ermöglicht wissenschaftlichen Fortschritt und bringt den Unternehmen schnell wirksamen Erfolg. Die Schwierigkeit, die ich im wirtschaftlichen Umfeld sehe, ist, dass sich Unternehmen oftmals nicht gerne auf Experimente einlassen. Unternehmen sind oft sicherheits- und ROI-getrieben. Sich dann auf ein Projekt mit unterschiedlichen Partnern einzulassen, dessen Ausgang zu Beginn nicht bezifferbar ist, fällt manchen schwer. Auf der anderen Seite sprechen die Ergebnisse unserer bisherigen Experimente für uns.

„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“, was für den Fußball gilt, gilt hier auch für die Forschung am Ferdinand-Steinbeis-Institut. Das zurückliegende Berichtsjahr ist abgeschlossen, was sind die Ziele fürs schon begonnene neue akademische Jahr?

Köhnlein: Wir sind im November 2019 dank der Unterstützung der Dieter Schwarz Stiftung am Standort Heilbronn gestartet. Erstes Ziel ist es, den Spirit, den wir in Stuttgart haben, nach Heilbronn zu übertragen und der Gesellschaft und den Unternehmen in der Region Heilbronn-Franken schnell denselben Nutzen zu stiften, ohne dabei die Aktivitäten in Stuttgart zu vernachlässigen. Wir wollen den Grundstein für viele erfolgreiche Jahre legen und die duale wissenschaftliche Forschung und unser Institut als festen Player am Campus etablieren, indem wir durch wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt und Nutzen für die Wirtschaft der Region überzeugen.

Lasi: Darüber hinaus wollen wir im akademischen Bereich unser Angebot in der Lehre ausbauen und unserem wissenschaftlichen Nachwuchs an Doktorandinnen und Doktoranden sowie Juniorprofessorinnen und Juniorprofessoren eine bestmögliche Umgebung bieten. Hierzu gehört auch der Auf- und Ausbau solider Kooperationen. Im kommenden Jahr möchten wir eng mit Partnern aus der Wissenschaft und Bildung, der Wirtschaft sowie dem öffentlichen Sektor zusammenarbeiten. Als ambitioniertes Ziel streben wir an, mit dem Ferdinand-Steinbeis-Institut in diesem Jahr eine internationale Sichtbarkeit als Forschungsleuchtturm zu erhalten.

Kontakt

Prof. Dr. Heiner Lasi (Autor)
Akademische Leitung, Geschäftsführer
Ferdinand-Steinbeis-Institut (Stuttgart)
www.steinbeis-fsti.de

Michael Köhnlein (Autor)
Leitung Transfer, Geschäftsführer
Ferdinand-Steinbeis-Institut (Stuttgart)
www.steinbeis-fsti.de