© istockphoto.com/sesame

„Digitales Arbeiten braucht auch digitale Führung!“

Im Gespräch mit Dr. Michael Ullmann, freier Projektleiter am Steinbeis-Beratungszentrum Innovationswerkstatt BW

Die Digitalisierung der Unternehmen und der Wirtschaft ist keine Vision mehr, das Zeitalter der Industrie 4.0 hat längst begonnen. Diese Entwicklung hat weitreichende Auswirkungen auf die Art, wie wir leben und arbeiten, insbesondere jetzt in Pandemie-Zeiten. Kommunikation und Zusammenarbeit lassen sich durch digitale Tools vereinfachen und beschleunigen. Dabei ist die effektive Führung räumlich verteilter Teams für den Erfolg im digitalen Workplace entscheidend. Digital Leadership stellt daher eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Digitalisierung eines Unternehmens dar, sowohl in der aktuellen Situation als auch in der Zukunft. Wie das gelingen kann, erklärt Dr. Michael Ullmann vom Steinbeis-Beratungszentrum Innovationswerkstatt BW. Er ist Experte für Remote Leadership, Führung und Motivation.

Herr Dr. Ullmann, Sie schulen Führungskräfte, ihre Mitarbeiter auch aus der Ferne zu führen und zu motivieren. Wie hat der verstärkte Einsatz von Homeoffice in der aktuellen Situation die Führungsanforderungen verändert?

Digitales Arbeiten braucht auch digitale Führung! Quasi über Nacht ist es durch die Corona-Pandemie erforderlich geworden, das Verhalten und das Handeln der verteilt agierenden Teammitglieder zu koordinieren und das in einem Umfang, wie er zuvor noch nicht gegeben war. Mit anderen Worten, es braucht nun die effektive und motivierende Führung verteilter Teams. Diese Kompetenz von Führungskräften wird zum Schlüsselfaktor, damit der digitale Workplace erfolgreich gelingt. Digital Leadership ist damit der zentrale Baustein für eine erfolgreiche Umsetzung einer Digitalisierungsstrategie im Unternehmen.

Mal schnell bei einem Kollegen im Büro vorbeischauen, sich mal eben über den Gang abstimmen, auf dem Weg noch was zurufen, sich in der Pause oder vor der Kaffeemaschine informell austauschen, sich von Angesicht zu Angesicht besprechen, wertschätzendes Feedback und konsensorientierte Entscheidungsfindung im ganzen Team fällt erst mal weg, wenn jeder für sich im Homeoffice arbeitet. Und dort fehlen dann das Zugehörigkeitsgefühl und die Anerkennung, die sozialen Kontakte und das Gefühl von Sicherheit. Was jetzt folgen muss, ist der Schritt vom Management by Walking Around hin zu Leadership by Fernsteuerung – Remote Leadership. Und das erfordert einen viel höheren Führungswillen und eine viel höhere Führungsqualität. Beispielsweise müssen Abläufe und Regeln – Teamnormen – viel expliziter definiert und immer wieder in den Fokus gerückt werden. Auch muss man beim Arbeiten in virtuellen Teams viel ergebnisorientierter denken. Die Führungskraft kann nun nicht mehr prüfen, wie lange ein Mitarbeiter arbeitet oder Pausen macht. Am Ende zählen die Ergebnisse (in time, quality and budget) und nicht mehr die Arbeitsstunden.

Welche Fähigkeiten benötigt die Führungskraft, um diese Aufgabe erfolgreich erfüllen zu können?

Agil, eigenständig, vernetzt – so sieht das Ideal des Mitarbeiters in der digitalen Wirtschaftswelt aus. Doch die Realität ist häufig noch eine ganz andere: Viele Führungskräfte fragen sich, wie sie ohne regelmäßige physische Anwesenheit effektiv führen können. Das Wichtigste ist und bleibt, dass die Führungskraft gut führt, das heißt, klar, zielbezogen, begeisternd, feedbackreich, ergebnisorientiert, ressourcensteuernd, offen, bidirektional usw. Remote Leadership bedarf dabei einer noch konsequenteren Umsetzung der Führungsaufgaben als die Präsenzführung. Schlechte Führung wird durch Digitalisierung nicht besser. Und gute Führung hängt sowohl vom eigenen Rollenverständnis als auch von den eingesetzten Managementinstrumenten ab. Dabei spielt Psychologie für gute Führung eine weitaus größere Rolle als Software. Die Technik, also digitale Tools, helfen dann, Entfernungen und Zeitzonen zu überbrücken, damit gute Führung stattfinden kann.

Im ersten Schritt gilt es, das Rollenverständnis als Führungskraft upzudaten und sich klar zu werden, dass der Kern der Führungsrolle darin besteht, die Rahmenbedingungen für den Erfolg des Teams und damit für das gesamte Unternehmen sicherzustellen. Dazu gehört es, Teamnormen, Prozesse und Abläufe festzulegen, die richtigen Teammitglieder für eine Aufgabe zu identifizieren und das Team immer wieder zu fokussieren. Diese Führungskompetenzen sind seit jeher im Anforderungsprofil einer guten Führungskraft enthalten. Beim Fernführen sind sie jedoch noch in viel höherem Maße von Bedeutung als in der Präsenzführung, bei der die physische Präsenz und der informelle Kontakt noch vieles kompensieren können. Von zentraler Bedeutung beim Führen virtueller Teams ist die Kommunikationskultur: kürzer, aber immer öfter. Ganz wichtig beim Führen virtueller Teams sind daher regelmäßige Feedbackrunden, um Orientierung zu geben, aber auch um Missverständnissen vorzubeugen.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Damit die Zusammenarbeit in der täglichen Praxis effektiv funktioniert, müssen Führungskräfte in allererster Linie für klare Ziele und Prioritäten sowie die dafür erforderliche Ressourcenausstattung sorgen. Dies kann auf eine eher direktive oder auf eine eher partizipative Weise erfolgen. Der eingesetzte Führungsstil ist dabei keine Frage der verfolgten Führungsideologie, sondern ist auf den Reifegrad des Teams, also die Kommunikations- und Interaktionsfähigkeiten des Teams sowie seine Kompetenz zur Selbstorganisation und Selbst­­verantwortung, abzustimmen. Und dann gilt es, mit den engsten Mitarbeitern ständig persönlich-digital in Kontakt zu sein. Teamwork funktioniert dann reibungslos, wenn Spielregeln und Rahmenbedingungen für den Umgang miteinander klar vereinbart sind. Als Managementmethode bietet sich beispielsweise Googles „Erfolgsrezept“ OKR (Objectives und Key Results) an.

Die im Remote Leadership eingesetzten Tools sind jedoch nicht der entscheidende Faktor für den Erfolg von digitaler Führung! Denn digitale Tools führen nicht, sie transportieren – im Idealfall gute – Führung. Entscheidend ist, dass jeder im Team die Tools benutzen kann, also den Zugang hat, sich traut beziehungsweise zutraut diese zu nutzen, die Kompetenz dazu besitzt und keinen Widerstand dagegen hegt. Es ist daher ratsam Tools einzusetzen, die bekannt und/oder leicht zu erlernen sind.

Was sind Ihre Erfahrungen aus der Praxis?

Remote Leadership ist machbar – sehr gut sogar. Es braucht etwas Umgewöhnung, aber es ist auch kein Upside-Down-Projekt. Führung aus der Ferne bedarf im Kern einer sehr viel strukturierteren und systematischeren Umsetzung der Führungsaufgaben als die Präsenzführung, einen größeren Führungswillen und eine höhere Führungsqualität. Denn bei Führung geht es im Kern um die zielgerichtete Koordination des Handelns und des Verhaltens von Akteuren. Und das ist bei fehlender physischer Präsenz ohne Zweifel eine noch größere Herausforderung.

Remote Leadership erlaubt es dem gesellschaftlichen Trend Individualisierung und dem damit verbundenen Wunsch nach Flexibilität, Freiräumen und Gestaltungsmöglichkeiten, Selbstbestimmtheit und Selbstorganisation in einzigartiger Weise Rechnung zu tragen und wird so zum echten Bonus beim Rennen um die Fachkräfte der Generationen Y und Z.

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Die Risiken und Nebenwirkungen für digitale Führungskräfte und ihre Teams lauern in der ständigen Erreichbarkeit. Wichtig ist daher, in Selbstverantwortung streng auf Pausen und eine klare Trennung von Arbeit und Privatleben zu achten. Sonst kommt es zur Selbstausbeutung und es wird gerade bei internationalen Teams rund um die Uhr gearbeitet.

Eine weitere Herausforderung besteht in der Informationsüberflutung durch die Vielzahl der möglichen digitalen Informationskanäle und -angebote. Dies ist auf der kollektiven Ebene nur zu verhindern, in dem man sich in der Zahl der eingesetzten Tools gemeinschaftlich fokussiert und klare Absprachen, Regeln und Rahmenbedingungen lebt. Auf der individuellen Ebene bedarf es einer erhöhten Stresskompetenz und Resilienz (mentale Stärke und Widerstandskraft), um High-Performance und Life-Balance unter einen Hut zu bekommen und Peak-Beanspruchungen erfolgreich zu meistern. Das Resultat wird eine wirtschaftlich höhere Performanz sein, weil z.B. die Transaktionskosten sinken, Know-how-Träger effektiver und schneller zusammenarbeiten und somit clevere Lösungen schneller gefunden und umgesetzt werden können.


So gelingt Remote Leadership in der Praxis:

  1. Seien Sie ein digitales Vorbild: Gehen Sie beim Einsatz und bei der Nutzung digitaler Medien zur Kommunikation und Kollaboration mit inspirierendem und engagiertem Beispiel voran. Thematisieren Sie digitale Zusammenarbeit bei jeder Gelegenheit.
  2. Schaffen Sie neue Strukturen (Abläufe, Naht- und Schnittstellen, Kommunikations- und Feedbackprozesse): Es wird nicht von Erfolg gekrönt sein, alte Strukturen in veränderte Vorgehensweisen zu zwängen.
  3. Legen Sie klare Regeln für die digitale Zusammenarbeit fest: Ob in Präsenz oder virtuell, Teamwork funktioniert nur dann reibungslos, wenn (Spiel-)Regeln und Rahmenbedingungen für den Umgang miteinander fest vereinbart sind. Vereinbaren Sie bspw. im Team, welche Tools wie, in welcher Form und für welchen Zweck genutzt werden.
  4. Ganz ohne Kontrolle geht es auch beim Remote Leadership nicht: Digitale Führung braucht klare Abstimmungen zu notwendigen Arbeitsergebnissen und zur Statusüberprüfung. Bauen Sie eine wertschätzende Ergebnis- und Feedback-Kultur auf.
  5. Stellen Sie ausreichend Ressourcen zur Verfügung: Die Mitglieder des Teams benötigen Ressourcen, um sich in die neue Technik einzuarbeiten und parallel das Tagesgeschäft sowie die laufenden Projekte bearbeiten zu können.
  6. Kommunizieren, kommunizieren, kommunizieren: Teilen Sie Informationen zeitnah, und bauen Sie so Vertrauen auf. Dies ist bei Remote Leadership noch mehr gefragt als in der Präsenz.
  7. Bereiten Sie virtuelle Meetings gut vor und halten Sie sie kurz: Erstellen Sie zur Vorbereitung eine Agenda! Halten Sie virtuelle Meetings so kurz wie möglich und verschriftlichen Sie die Ergebnisse schon während des Meetings (collaborative editing).
  8. Setzen Sie möglichst digitale Tools ein, die bekannt oder einfach zu erlernen sind: Nutzen Sie so wenige wie möglich und so viele wie nötig! Fokussieren Sie auf wenige digitale Tools mit großen Auswirkungen auf die Zusammenarbeit.
  9. Vereinfachen Sie Abläufe und Prozesse durch Digitalisierung: Nutzen Sie die vorhandenen Mittel (z.B. der vorhandenen Kollaborationsplattform), um weitere Kommunikationen, Abläufe und Prozesse zu digitalisieren und damit zu vereinfachen.
  10. Seien Sie in hohem Maße mitarbeiterorientiert: Meistern Sie den anspruchsvollen Spagat zwischen Offenheit, echtem Interesse am Menschen und viel Feedback einerseits sowie Klarheit, Disziplin
    und Ergebnisorientierung andererseits.

Kontakt

Dr. Michael Ullmann (Autor)
Freier Projektleiter
Steinbeis-Beratungszentrum Innovationswerkstatt BW (Stuttgart)
www.steinbeis-innobw.de