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„DIE MITARBEITER MÜSSEN MITGENOMMEN WERDEN“

Im Gespräch mit Prof. Dr. Daniel Palm, Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Industrie 4.0 und Digitalisierung sowie der Steinbeis Transferplattform Industrie 4.0

Die Digitalisierung erschließt für Unternehmen völlig neue Wertschöpfungsmöglichkeiten, verändert die Arbeitswelt aber gravierend. Umso wichtiger ist es für Unternehmen und deren langfristigen Erfolg, dass Mitarbeiter auf diese veränderte Situation vorbereitet werden. Das weiß Prof. Dr. Daniel Palm, Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Industrie 4.0 und Digitalisierung und in der Verbundleitung der Steinbeis Transferplattform Industrie 4.0, aus eigener Erfahrung. Er erklärt in der TRANSFER, wie Roadmaps zur Transformation von Wertschöpfung und Geschäftsmodellen erstellt werden und welche Rolle die „Schmerzpunktsuche“ dabei spielt. Ein besonderes Augenmerk bei der Umsetzung von Kundenprojekten legt der Logistikexperte der Hochschule Reutlingen auf den Aspekt der nachhaltigen Veränderung im Unternehmen. 

Herr Professor Palm, die digitale Transformation bedeutet für Unternehmen Chance und Risiko zugleich. Wie kann sie erfolgreich umgesetzt werden?

Die digitale Transformation bedeutet zunächst einmal für viele Mitarbeiter eine massive persönliche Veränderung ihrer Arbeitswelt. Und das ist wie bei jedem Change Prozess: Die Mitarbeiter müssen mitgenommen, bei der Neugestaltung der Prozesse eingebunden und geschult werden. Denn sonst besteht ein hohes Risiko des Scheiterns. Wir wurden zu einem Dienstleistungsunternehmen gerufen, das papiergebundene Sachbearbeitungsprozesse digitalisiert hat. Die einzig unmittelbare Veränderung war: Statt Papier gab es jetzt digitale Akten. Eigentlich eine Maßnahme, die Prozesse beschleunigen und verbessern sollte. Aber das Ergebnis, das wir vorfanden, war folgendes: Die Produktivität war niedriger als zuvor, die Mitarbeiterzufriedenheit ging rapide nach unten und der Krankenstand stieg. Was war passiert? Die Mitarbeiter wurden nicht richtig im Umgang mit dem neuen System geschult, es war benutzerunfreundlich und sie fühlten sich von der nie nachlassenden Flut neuer Vorgänge gestresst, da sie nicht mehr den früheren Papierstapel als Anhaltspunkt hatten. Die ungewohnt lange und unterbrechungslose Arbeit am Computer führte bei vielen Mitarbeitern zu Verspannungen und Rückenbeschwerden. Vorgesetzte hatten keine Instrumentarien und Regeln, um mit dieser Situation richtig umgehen zu können. Dabei muss Digitalisierung den Menschen nutzen und darf nicht, wie es Prof. Andreas Syska einmal provokant charakterisierte, Turbolader für das Hamsterrad sein. 

Sie erstellen unter anderem für Ihre Kunden Roadmaps zur Transformation von Wertschöpfung und Geschäftsmodellen, wie gehen Sie dabei vor?

Wir nutzen zwei Ansätze: Die Top-­down-Methode greift die strategische Sichtweise des Unternehmens auf, verknüpft Strategie mit dem digitalen Durchdringungsgrad im Unternehmen und schlägt eine Brücke zu den Geschäftsmodellen und übergeordneten Maßnahmen. Hier arbeiten wir mit den Führungskräften in Workshops. Oftmals wichtiger ist jedoch die Bottom-up-Methode, wir nennen sie auch die „Schmerz­punktsuche“. Hier gehen wir mit den Mitarbeitern ihre Wertschöpfungsprozesse durch und fragen bei jedem Schritt, wie wir durch Digitalisierung Prozesse schneller, einfacher, effizienter, besser machen könnten. Aus den Verbesserungspotenzialen leiten wir Maßnahmen ab, die wir bewerten und dann in kleinen Projekten umsetzen. Es ist wichtig, dass Erfolge schnell zu sehen sind und einen Nachahmungseffekt im Unter­nehmen her­vorrufen. Für die Nachhaltigkeit brauchen wir die Unternehmensführung, aber die Digitalisierungserfolge müssen von den Mitarbeitern für die Mitarbeiter sein: Sie setzen Verbesserungsprojekte mit großem Engagement um, wenn sich dadurch Doppelarbeit, unabgestimmte Schnittstellen, Medienbrüche, Liegezeiten und nervige Suchzeiten vermeiden lassen. 

Die technologischen Fortschritte, die das Internet of Things mit sich bringt, haben neue Formen der Zusammenarbeit und somit auch die Bildung neuer Geschäftsprozesse zur Folge. Wie kann das Business Process Management Unternehmen unterstützen, diese Entwicklung erfolgreich zu gestalten und welche Rolle spielt dabei die Nachhaltigkeit?

Wir nutzen die klassischen Methoden des Business Process Managements auch für die Digitalisierung und kombinieren sie mit dem Wissen über die Fähigkeiten und Grenzen der Industrie 4.0- oder Internet of Things-Technologien. Es ist wichtig, die Aufwände zur Einführung und die Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten einzelner Technologien zu kennen. Die erfolgreiche und nachhaltige Entwicklung im Unternehmen basiert wieder auf den klassischen Methoden des Prozessmanagements mit seiner kontinuierlichen Verbesserung. Dafür bilden wir auch Prozessmanager aus, die als Methodenspezialisten und Multiplikatoren im Unternehmen wirken. 

Die Anforderungen an das Produktionsnetzwerk eines Unternehmens ändern sich aktuell ständig – durch die Einführung neuer Technologien oder neuer Produkte, die Erschließung neuer Märkte oder die Veränderung der Wettbewerbslage. Wie können Unternehmen dieser Dynamik gerecht werden?

Die Veränderungsgeschwindigkeit des Unternehmensumfelds erscheint in der Tat im Moment überwältigend, wenngleich viele Unternehmen in den letzten Jahren recht gute Geschäfte ohne Anpassung gemacht haben. Wir haben oft gehört, dass man zu viel zu tun hätte, um sich mit digitalen Geschäftsmodellen oder digitaler Transformation zu beschäftigen. Die alten Geschäftsmodelle und Prozesse haben ja nach wie vor funktioniert. Aber man gerät immer weiter ins Hintertreffen. Die Forschungsorganisationen und digitalen Innovatoren beschäftigen sich schon nicht mehr mit Industrie 4.0, sondern mit biologischer Transformation und künstlicher Intelligenz. Doch wer bei der Digitalisierung seine Hausaufgaben nicht macht, der wird mit künstlicher Intelligenz nicht erfolgreich sein. Die Schere öffnet sich immer weiter und irgendwann findet man sich in einer wettbewerbsbedrohlichen Situation wieder. Daher kann mein Rat nur sein: Anfangen! Start small but get started! Insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen gibt es viele Förderprogramme, die den Start leichter machen. Die Allianz Industrie 4.0 Baden-­Württemberg bietet ein gefördertes Industrie 4.0-Scouting an, das Land Baden-Württemberg Innovationsgutscheine – beides hervorragende Instrumente, um die ersten Schritte zu machen. Die Transferplattform Baden-­Württemberg Industrie 4.0, die mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg von den Hochschulen Aalen, Reutlingen und Esslingen in Zusammenarbeit mit der Steinbeis-Stiftung gegründet wurde, berät und unterstützt Unternehmen hierbei gerne und begleitet sie auch bei komplexeren Aufgabenstellungen im Bereich der digitalen Transformation. 

Kontakt

Prof. Dr. Daniel Palm (Autor)
Leiter
Steinbeis-Transferzentrum Industrie 4.0 und Digitalisierung (Stuttgart)
http://stz-idt.de/