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DIGITALISIEREN OHNE „DIE“ IT: DER STEINBEIS ENGINEERING TAG 2019 IM RÜCKBLICK

Steinbeis-Event zeigt Erfolgsbeispiele aus Gastronomie, Handwerk, Großhandel und Industrie

Digitalisierung stellt sich oftmals als ein Hindernis für tradierte Unternehmen dar. In den häufigsten Fällen scheitert die Umstellung an den bestehenden IT-Strukturen oder dem Mangel an Know-how. Bei der Vielfalt der technologischen Innovationen verlieren selbst große Unternehmen den Überblick. Umso wichtiger wird das Experimentieren mit diesen Technologien in einem branchenübergreifenden Netzwerk. Am 08. Mai lud Steinbeis zur fünften Runde des Steinbeis Engineering Tages in die Sparkassenakademie in Stuttgart ein und zeigte dabei: Digitalisieren geht auch ohne „die“ IT!

Welche Potenziale die Digitalisierung bereits durch die Nutzung der bestehenden Strukturen mit sich bringt, erklärte Prof. Dr. Heiner Lasi, Leiter des Ferdinand-Steinbeis-Instituts (FSTI), prägnant anhand eines ganz praktischen Beispiels: die Tiefkühltruhe. Sie ist durch die Temperaturregulierung bereits ein automatisiertes Objekt und erhält durch ihr virtuelles Abbild auf einer Plattform in der realen Welt neue Potenziale: So entstehen neue Prozesse mit alten wie auch neuen Partnern. Hierdurch werden ein komplett neuer Nutzen für den Verbraucher und damit neue Wertschöpfungspotenziale für diverse Unternehmen generiert. Wie kann das in der Praxis aussehen? Das Energieunternehmen des Tiefkühltruhenbesitzers stellt beispielsweise durch das virtuelle Abbild einen von der Norm abweichenden, erhöhten Stromverbrauch an der Tiefkühltruhe fest, kontaktiert den Verbraucher via E-Mail oder Smartphone-App und schlägt mehrere Wartungsdienstleister in der Umgebung vor oder bietet gar an einen direkt zu senden. Der Schaden für den Endverbraucher lässt sich auf ein Minimum reduzieren, denn die Lebensmittel in der Tiefkühltruhe verderben nicht, das Energieunternehmen bietet einen zusätzlichen Service im Auftrag des Tiefkühltruhenherstellers und der Wartungsdienstleister bekommt zeitnah den Auftrag. Solche Szenarien sind bereits heute ohne eine aufwendige Umstrukturierung der IT bei allen beteiligten Partnern möglich. Essenziell für die Umsetzung dieser Wertschöpfungsszenarien ist dabei eine gewisse Offenheit der beteiligten Unternehmen im Datenaustausch.

Ebenen der Digitalisierung und die am Nutzen beteiligten Wirtschaftsakteure bei einer digitalisierten Tiefkühltruhe

Zwei Gesprächsrunden gaben Einblick in weitere partnerschaftliche Wertschöpfungsszenarien. Moderiert von Dr. Marlene Gottwald, wissenschaftliche Mitarbeiterin am FSTI, stellten Jochen Ausprung (WMF Group GmbH), Michael Steiger (Fürstenberg’s Irish Pubs) und Tim Wetzel (Hotel-Restaurant Schwanen in Metzingen) unter dem Titel „Kaffee to go? Kaffee aus der Cloud!“ das von ihnen und weiteren teilnehmenden Unternehmen mit Leben gefüllte Micro Testbed Gastronomie vor. Das vom FSTI initiierte und vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg geförderte Projekt zeigt, wie aus der virtuellen Verknüpfung von Kasse, Schankanlage, Kaffeemaschine und Speisekarte ein digitaler Gastraum entstehen kann. Dank offener Plattformen können die virtuellen Abbilder der real vorhandenen Objekte miteinander kommunizieren, was zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, wie zum Beispiel zu neuen Tarifoptionen, führt. Das Micro Testbed machte deutlich, dass die Digitalisierung auch in industriefernen Branchen eine prozessoptimierende Rolle spielt und ohne ausgeprägte IT-Strukturen funktionieren kann. Ob nun das Messen des Schankverlusts oder der Licht-, Lärm- und Luftqualität im Gastraum oder die digitale Steuerung der Speisekarte oder Kaffeemaschine im Vordergrund stand, die Diskutanten waren sich einig, dass auch im harten Wettbewerb der Hotellerie und Gastronomie eine digitale Anpassung an die Bedürfnisse der Kunden notwendig ist und dass dies am besten gemeinschaftlich und mit den entsprechenden Partnern umgesetzt werden kann.

Weg von Gastronomie und wieder hin zur Industrie: In der zweiten von Heiner Lasi moderierten Gesprächsrunde stand das Micro Testbed Industrial Services im Fokus. Unter dem Titel „Gemeinsam digitalisieren – effizient und kostengünstig ohne ,die‘ IT“ stellten Matthias Herzog (Liebherr-Hydraulikbagger GmbH), Markus Hucko (Leadec Gruppe), Martin Rathgeb (SHW Werkzeugmaschinen GmbH), Dirk Slama (Bosch Innovations GmbH) und Michael Köhnlein (Steinbeis Digital Business Consortium) die Ergebnisse des von den teilnehmenden Unternehmen selbstfinanzierten Micro Testbeds vor. Sie zeigten, welches neuartige Geschäftsmodell durch die Zusammenarbeit entstanden ist und wie alle beteiligten Partner davon profitieren: Am Beispiel eines Fertigungsprozesses für die Drehbühne von Radbaggern wurde auf Basis einer offenen Plattform ein Pay-per-Part-Modell entwickelt. Damit bezahlt der Produzent nur noch pro Gutteil und ist nicht mehr Käufer und Eigner der Produktionsanlage. Dieses Modell hat diverse Vorteile: Der Produzent muss die Maschine nicht mehr bezahlen, zahlt nur noch für die intakten Produktionsteile und hat damit Mittel für andere Investitionen zur Verfügung. Der Maschinenhersteller verkauft aber dennoch weiterhin seine Maschinen, aber nun an einen neuen Produktionsmitteleigner – wie einen Versicherer, der nun die Risiken für Produktionsausfälle reduzieren kann und somit Auszahlungen der Versicherungen vermeidet. Die Daten zur Feststellung, ob es sich um ein Gutteil handelt, werden per Sensor an eine Plattform gesendet, über die auch die Bezahlung stattfindet. Etwaige freie Produktionskapazitäten auf der Anlage können durch den neuen Inhaber über diese Plattform an andere Produzenten verkauft werden. Auch wenn Mitarbeiter der IT an diesem Projekt mitbeteiligt waren, musste dennoch nicht erst ein IT-Konsens in Strukturen und Datenaustausch geschaffen werden, um eine schnelle digitale Umsetzung zu ermöglichen.

Der Steinbeis Engineering Tag gab einen Einblick in zahlreiche weitere Digitalisierungsprojekte des FSTI. Eins dieser Projekte setzte das Building Information Modeling (BIM) im Handwerk ein. Es ermöglicht den teilnehmenden Handwerkern, die Koordination der Arbeitsprozesse auf Baustellen zu optimieren. Mittels Sensortechnologie können Temperatur, Feuchtigkeit und Erschütterungen auf der Baustelle gemessen werden, diese Daten sind für alle Teilnehmer auf einer Plattform sichtbar. Dadurch kann der Einsatz der einzelnen Gewerke besser geplant werden.

Im Micro Testbed Großhandel wurde ein digitales Monitoring von Kühlschmierstoffen ermöglicht: Mittels Sensoren kann der Zustand der Kühlschmierstoffemulsion permanent online über ein eigens dafür erstelltes Dashboard überwacht werden. Alle Partner haben Zugriff darauf und können Handlungsempfehlungen an den Betreiber weitergeben. Der Lebenszyklus von Kühlschmierstoffen wird vom Verkauf über die Wartung bis hin zur umweltgerechten Entsorgung begleitet. Dadurch sind drastische Reduktionen des Maschinenstillstandes, der Austausch von beschädigten Werkzeugen sowie eine Sekung der damit einhergehenden Kosten möglich.

Sowohl das Micro Testbed Additive Manufacturing als auch der Lehrstuhl für ABWL und Wirtschaftsinformatik der Universität Stuttgart stellten Möglichkeiten der additiven Fertigung vor. Während das Team des Micro Testbeds an einem 3D-Drucker eine Live-Fertigung durchführte und damit mögliche Geschäftsmodelle für Automobilersatzteile in der Restaurationsbranche zeigte, präsentierte ein Studierender der Universität Stuttgart die Potenziale der Technologie für Werkstätten im After Sales und welche Fähigkeiten dafür benötigt werden. Die additive Fertigung steht mit der Erstellung einer virtuellen Abbildung und dem „gedruckten“, physischen Produkt sinnbildlich für das Zusammenspiel zwischen digitalem und physischem Gut.

Eine weitere technische Lösung präsentierte Dr. Holger Gast, Leiter des Steinbeis-Beratungszentrums Agile Entwicklung von Informationssystemen: Seine Software, die selbst Software schreibt, ermöglicht Unternehmen und ganzen Partnernetzwerken eine rasche Umsetzung von digitalen Lösungen. Damit können Prozesse unternehmensübergreifend optimiert und alle beteiligten Akteure für das gemeinsame, digitale Wertschöpfungsszenario vernetzt werden.

Dass für die Umsetzung digitaler Lösungen bereits das notwendige Know-how für hochaktuelle Technologien vorhanden ist, zeigten die studentischen Mitarbeiter des FSTI. Vorgestellt wurden drei verschiedene Ausprägungen der Blockchain-Technologie: Die erste Blockchain zeigte, wie die Technologie im Gesundheitswesen ermöglicht, dass der Patient dank digitaler Transparenz weiterhin volle Kontrolle über seine Daten behält. Ein weiteres Projekt beschäftigte sich damit, wie durch Nutzung der Blockchain-Technologie ein monetärer Anreiz zur besseren Auslastung des öffentlichen Nahverkehrs gestaltet werden kann, um damit den Schadstoffausstoß durch den Individualverkehr im urbanen Raum zu reduzieren. Das dritte Projekt setzte die Blockchain-Technologie in der Diamantenindustrie ein. Die Technologie hilft, die Lieferkette transparenter zu machen, was einen faireren Handel ermöglicht.


Die am Steinbeis Engineering Tag präsentierten Micro Testbeds Additive Manufacturing, Building Information Modeling, Gastronomie und Hotellerie sowie Großhandel wurden vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg gefördert. Das Micro Testbed Industrial Services wurde von den Unternehmen selbst finanziert. Alle Micro Testbeds werden vom Steinbeis Digital Consortium moderiert und vom FSTI wissenschaftlich begleitet.


 


 

MICRO TESTBED GASTRONOMIE

MICRO TESTBED INDUSTRIAL SERVICES

MICRO TESTBED BUILDING INFORMATION MODELING

MICRO TESTBED GROSSHANDEL

MICRO TESTBED ADDITIVE MANUFACTURING

Weitere Informationen zu Micro Testbeds erhalten Sie unter www.steinbeis-fsti.de/micro-testbeds [1].