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„FORSCHUNG BEDEUTET FÜR MICH LÖSUNGEN ZU FINDEN!“

Im Gespräch mit Professor Dr.-Ing. Volker Jehle, Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Innovative Vliesstofftechnik

Ein Vlies, sagt der Duden, ist eine breite Lage oder alternativ eine Schicht aus aneinanderhaftenden Fasern. So weit, so gut. Professor Dr.-Ing. Volker Jehle, Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Innovative Vliesstofftechnik und Professor an der Fakultät Textil & Design der Hochschule Reutlingen, hat im Gespräch mit der TRANSFER einen weit tieferen Einblick in den Werkstoff und seine Produktion gegeben. Dabei hat er deutlich gemacht, dass Nachhaltigkeit nicht erst bei der Produktionstechnik, sondern weit vorher bei der Konsumeinstellung der Gesellschaft beginnt. Der Experte für die Nassvliestechnologie zeigt außerdem, dass wer die Frage der nachhaltigen Produktion zu Ende denkt, erkennt, dass Naturfasern dem chemischen Pendant nicht voraus sind.

Herr Professor Jehle, das Thema Nachhaltigkeit gewinnt immer mehr an Bedeutung, welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die Vliesstofftechnik?

Ich will mit einem Zitat von Hubert Markl, dem ehemaligen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, antworten: „Nachhaltigkeit, das klingt so natürlich, so biologisch, so ökologisch. Da es unklar genug ist, was es eigentlich bedeuten soll, können sich von Wirtschaft und Wissenschaft bis zu Politik und Kirchentagen alle darauf einigen.“ Was heißt also Nachhaltigkeit im Hinblick auf die Vliesstofftechnik? Wenn wir darüber im Zusammenhang mit Recycling sprechen, hat die Vliesstofftechnik einen großen Vorteil, denn hier können kurze Fasern verarbeitet werden. Das ist insofern wichtig, da wir beim Recycling Stapelfasern in unterschiedlicher Länge haben, die wir wieder nutzbringend einsetzen müssen.

Nachhaltigkeit kann aber auch eine effektivere Produktion und somit die Frage bedeuten: Wie kann ich ressourcenschonend, aber auch kostengünstig produzieren? Nehmen wir als Beispiel die Herstellung von Produkten aus hochpreisigen Faserrohstoffen: Der Hersteller kann sich hier keine Produktionsabfälle leisten, denn diese steigern automatisch den Preis. Der Vliesstoff bietet in diesem Bereich viele Vorteile, sei es über die Nassvliestechnik oder das Fiber-Injection-Molding. Bei Letzterem handelt es sich um eine Vliesstofftechnik, bei der aus Vliesstoffen dreidimensionale Bauformen praktisch ohne Abfall hergestellt werden, also nachhaltig und ressourcenschonend. Das hilft, die Bauteilkosten zu reduzieren und damit die Marktakzeptanz sowie die Marktdurchdringung zu erhöhen.

Der nächste wichtige Aspekt der Nachhaltigkeit ist die Lebensdauerverlängerung. Die Herausforderung und Maßgabe für uns als Entwickler ist, die Lebensdauer eines Bauteils oder eines Produktes zu verlängern. Wir müssen von der heute weitverbreiteten Gebrauchs- und Wegwerfmentalität wegkommen: Idealerweise fragen wir uns noch vor der Herstellung, wie wir dieses Bauteil recyceln können. Das ist für mich die Nachhaltigkeitsfrage schlechthin und eine der größten Herausforderungen bei der Vliesstofftechnik. Unser Ziel muss es sein, ein Bauteil länger am Leben zu erhalten, es länger zu nutzen und dann nutzbringend zu recyceln. Wichtig ist dabei auch, was nach dem Recycling passiert, was machen wir aus dem zwei- ten Recyclingrohstoff? Nachhaltigkeit bedeutet für mich technologieübergreifend, dass ich mich schon in der Entwicklungsphase mit der Frage auseinandersetze, wie bekomme ich das von mir hergestellte Produkt wieder auseinander und wie kann ich es sauber recyceln? Wie kann ich wieder etwas Nutzbringendes daraus machen und vor allem wie kann ich die Lebensdauer verlängern? Denn das beste Recycling ist immer noch das, wo ich gar nicht recyceln muss. Das ist aber kontraproduktiv zu unserer heutigen Wirtschaftsmeinung, denn der Konsum soll angekurbelt werden, die Leute sollen immer mehr kaufen. Hier muss ein Umdenken stattfinden, denn so wie bis jetzt können wir nicht weitermachen.

Nassvlies-Pilotanlage NVLA53 der Firma Pill an der Hochschule Reutlingen

Welche Aspekte entscheiden über die Nachhaltigkeit eines Vliesstoffes? Reicht es zum Beispiel recycelte Faserstoffe für die Produktion zu verwenden oder ist der eigentliche Produktionsprozess entscheidend?

Ich sage: beides. Zuerst muss geklärt sein, welche Eigenschaften ein Material haben muss, um seinen Zweck optimal zu erfüllen. Danach können die Produktionsprozesse unter dem Aspekt betrachtet werden, welche Eigenschaften mit welchem Prozess am effektivsten herzustellen wären. So kann man zum Beispiel bestimmte Eigenschaften in einem energieeffizienten Herstellungsprozess erschaffen, der aber produktionstechnisch so aufwendig ist, dass das Produkt am Ende aus Kostengründen nicht akzeptiert werden würde. Das bedeutet, wir müssen einen Mix finden, und das ist die eigentliche Herausforderung bei der Vliesstoffproduktion.

Beim Recycling ist der Produktionsprozess auch wichtig, hier muss überlegt werden, was man aus welchen Fasern in welchem Produktionsprozess herstellen kann. Dabei bietet die Nassvliesanlage einen großen Vorteil: Nehmen wir beispielsweise das Recycling von Karbonfasern. Hier können wir Vliese herstellen, indem wir mechanisch recycelte Karbonfaserverbundbauteile verarbeiten. Da diese mechanisch recycelt werden, haben wir keine großen Energieeinträge, so dass das relativ günstig ist. Hier steht leider aber noch zu wenig im Fokus, was nachher mit dem aus recycelten Fasern hergestellten Produkt passieren soll. So werden zum Beispiel die Glasfasern aus recycelten Windkraftflügeln im Beton eingesetzt. Ein Betonrecycler stellt dann natürlich die Frage, was mit diesen Glasfasern beim Betonrecycling passieren soll. Um auf Ihre eigentliche Frage nach der Relevanz des Produktionsprozesses zurück zu kommen, so bin ich überzeugt, dass ein Zusammenspiel zwischen dem geeigneten Produktionsprozess und den erwarteten Produkteigenschaften entscheidend ist.

Zu Ihren thematischen Schwerpunkten gehört auch die Wet-laid-Technologie, was ist das Innovative, aber auch das Nachhaltige daran?

Die Wet-laid-Technologie oder Nassvliestechnologie – mein Spezialgebiet – bietet einige Vorteile im Vergleich zu anderen Produktionsprozessen. Betrachten wir zuerst den Prozess an sich: Man nimmt die Fasern und löst sie im Wasser auf. Danach wird das Wasser durch das Sieb gelassen und fließt ab, die im Sieb gebliebenen Fasern werden getrocknet und der Vliesstoff ist fertig. Das Wasser wird im Umlauf gefahren, so dass wir nur das Wasser beim Trocknen verlieren. Das klingt nicht nur einfach, es ist einfach. Der erste große Vorteil ist eine schonende Faserbehandlung: Im Wasser kann ich die einzelnen Fasern sehr schonend auflösen. Insbesondere wenn man recycelte Fasern nutzt, sind diese ohnehin schon oft geschädigt, werden aber bei der Nassvliestechnologie im Gegensatz zum Trockenvlies nicht noch mehr beschädigt. Außerdem haben wir bei der Nassvliestechnologie relativ wenig Abfall und können mit sehr fragilen Fasern arbeiten, was mit anderen Vliesstoffherstellungsprozessen nicht machbar ist. Wir können sehr feine, dünne Vliesstoffe gleichmäßig herstellen, die 0,1 bis 0,2 mm dick sind.

Gerade die feinen Vliese haben ein großes Potenzial, nehmen wir beispielsweise die Batterieseparatoren aus Mikroglasfaser: Je dünner diese sind, desto effektiver kann eine Batterie sein. Damit spielt die Nassvliestechnik auch für das hochaktuelle Thema „Elektromobilität“ eine wesentliche Rolle. Oder schauen Sie unser Studentenprojekt zusammen mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) an. Hier haben wir Karbonfaservliese für karbonkeramische Bremsscheiben entwickelt mit dem Ziel die Bremsscheiben kostengünstiger herzustellen. Die Vliese sind zum einen leichter und haben damit Gewichtseinsparungen zur Folge, zum anderen rosten sie nicht und haben dadurch eine längere Lebensdauer, beide Aspekte sind für die Elektromobilität sehr wichtig. Außerdem können wir mithilfe der aus recycelten Fasern hergestellten Nassvliesstoffe die originalen Rohstoffe einsparen, indem wir in bestimmten Faserverbundwerkstoffen einige Lagen durch Vliesstoffe ersetzen. Das funktioniert aus Sicherheitsgründen natürlich nicht bei hochbelasteten Bauteilen wie beispielsweise Flugzeugflügel, aber es spricht nichts dagegen, diese etwa bei einer Autotür zu verwenden.

Ein weiterer Vorteil ist, dass wir in der Nassvliestechnologie feinste Fasern im Bereich von unter einem μ-Meter verarbeiten können, wie zum Beispiel Mikroglas. Es gibt aktuell keine anderen Möglichkeiten solche kleinen Fasern zu verarbeiten. Das letzte, sehr wichtige Argument für die Nassvliestechnologie ist die Verarbeitung von problematischen, gesundheitlich bedenklichen Fasern. Nehmen Sie Siliziumkarbidfasern oder Karbonfasern: Werden diese trocken verarbeitet, entsteht der gefährliche Karbonstaub. Bei der Nassvliestechnik dagegen sind die Fasern sofort im Wasser gebunden.

Zunehmend sind auch Vliesstoffe aus nachwachsenden Naturrohstoffen auf dem Markt gefragt, welche Herausforderungen bringt diese Entwicklung mit sich?

Das ist keine neue Entwicklung, die gab es schon Mitte der 1990er-Jahre. Die Naturfasern zu bearbeiten ist kein Problem, die Technologie dafür haben wir bereits. Aber gerade in Bezug auf die Nachhaltigkeit sehe ich eine große Herausforderung: Wir stellen die Vliese aus Naturfasern her, brauchen aber eine Matrix, um ein Faserverbundbauteil zu produzieren. Nur sind diese Matrixsysteme meistens nicht biologisch abbaubar, so dass wir wieder das Recyclingproblem haben. Ein weiteres Problem besteht darin, dass wir unseren Bedarf an Fasern, und das sind nach dem letzten Stand immerhin 90 Millionen Tonnen weltweit, nicht mit den Naturfasern decken können. Betrachtet man dazu noch die gesamte Ökobilanz – Wasserverbrauch, Ackerfläche usw. – schneiden Naturfasern nicht ganz so gut ab. Wir kommen also ohne die „bösen“ Chemiefasern nicht aus und müssen uns daher auf das größte Problem dabei – Mikroplastik – konzentrieren. Die Herausforderung besteht darin, die Polyesterfaser so herzustellen, dass wir sie biologisch abbauen können ohne dabei die benötigten Eigenschaften zu reduzieren. Um dieses Problem zu lösen, müssen wir über den Tellerrand hinaus schauen. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir hier erfolgreich sein werden, denn Forschung bedeutet für mich genau das: Lösungen zu finden! Steinbeis bietet mit seinen Transferzentren ein gutes Instrument dazu. Ich bin der Meinung, dass die Verbindung Steinbeis – Hochschulforschung noch stärker forciert werden sollte, und kann Professoren nur empfehlen ein Steinbeis-Unternehmen zu gründen, vor allem wegen des Kontaktes zur Industrie. Manchmal verlieren wir in der Hochschulforschung diesen Kontakt und verschwinden in die „Elfenbeinturmforschung“. Selbstverständlich ist die Grundlagenforschung enorm wichtig, aber wir brauchen auch die angewandte Forschung: Wir müssen mit der Industrie in Dialog treten, um zu erfahren was die Praxis benötigt, oder auch um unsere Forschungsergebnisse zu präsentieren und zu sehen, wie diese in der Industrie genutzt werden können. An dieser Stelle ist ein Steinbeis-Transferzentrum für mich ein wesentliches Instrument, um dies erfolgreich und für alle Seiten nutzbringend umzusetzen.