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Akustische Fingerabdrücke machen Verschleiß hörbar

Steinbeis-Team entwickelt mit der Universität Stuttgart neuartige Algorithmen zur Prozessüberwachung in Fräsprozessen

Die Wettbewerbsfähigkeit von Produktionsstandorten und Unternehmen in Hochlohnländern wie Deutschland hängt von der Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit der eingesetzten Fertigungsanlagen ab. Fertigungsstandorte im Bereich Zerspanung können hierzulande auf Dauer nur dann bestehen, wenn sie ihre Produktionsprozesse weitgehend automatisieren. Voraussetzung hierfür sind robuste und zuverlässige Prozessüberwachungssysteme, um ungünstige Prozesszustände schnell zu erkennen und zu beheben. Im Rahmen des im Juli 2018 erfolgreich abgeschlossenen ZIM-Kooperationsprojekts „Entwicklung eines Systems zur Prozessüberwachung und -diagnose von Fräsprozessen durch Online-Analyse akustischer Fingerprints“ entwickelte die STASA Steinbeis Angewandte Systemanalyse GmbH gemeinsam mit dem Institut für Werkzeugmaschinen IfW der Universität Stuttgart selbstlernende Algorithmen, um aus Schallsignalen, die über Mikrophone im Arbeitsraum aufgenommen werden, Störungen und Verschleiß in Fräsprozessen identifizieren zu können. Das Projekt wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Viele Unternehmen sind durch den harten Wettbewerb gezwungen, hochautomatisierte Systeme mit zunehmend weniger Personaleinsatz zu betreiben. Die Überwachung des einzelnen Fertigungsprozesses durch den Menschen ist bei modernen vollgekapselten Bearbeitungszentren kaum mehr machbar und der Maschinenbediener ist heute vom direkten Prozessgeschehen oftmals entkoppelt. Ein rechtzeitiges Eingreifen bei Störungen ist bei den heute üblichen hohen Verfahrgeschwindigkeiten und Achsbeschleunigungen nahezu unmöglich. Durch vorbeugende Wartung und Fehlerfrüherkennung können zwar einige maschinenbezogene Störungen vermieden werden, unvorhersehbare Abweichungen und Störungen, deren Ursache im eigentlichen Zerspanprozess liegen, sind jedoch unkalkulierbar und führen oftmals zu Qualitätsmängeln am gefertigten Werkstück oder Schäden an Werkzeugen und Maschinenteilen.

Bei Fräsprozessen entstehen durch den Eingriff der Schneidplatten des Werkzeugs in das Werkstück Schwingungen im Werkstück. Diese können einerseits als Körperschall durch verhältnismäßig teure Sensoren gemessen werden, andererseits strahlen die Schwingungen des Werkstücks in Form von Schall in den Arbeitsraum der Fräsmaschine ab. Auftretende Störungen können so durch den Menschen über das Gehör wahrgenommen werden. Ein erfahrener Werker, der bereits lange mit derselben Maschine arbeitet, hört oft am veränderten Klang der Bearbeitungsgeräusche, wenn der Prozess nicht wie üblich abläuft oder wenn Veränderungen im Laufgeräusch von Spindeln und Vorschubachsen auftreten.

Versuchsaufbau am Institut für Werkzeugmaschinen der Universität Stuttgart zur Aufnahme des Luftschalls in Fräsprozessen. Die Mikrophone (hier für Testzwecke vier Stück, zu erkennen an den hellgelben Schaumstoffköpfen) sind um das Werkstück herum angeordnet.

Verschleiß an den Schneidplatten entsteht ausgehend von einem neuen Werkzeug anfangs relativ schnell, erreicht ein Plateau, während dessen der Verschleiß etwa konstant bleibt, um dann am Ende der Lebensdauer schnell anzusteigen. Der typische Verlauf des Verschleißes und die Zeitdauer hängen vom Material des Werkstücks ab. Mit dem im Rahmen des Projekts entwickelten Algorithmus ist es möglich, den Verschleißzustand des Werkzeugs nur über die mit einem Mikrophon aufgenommenen Luftschallemissionen zu ermitteln. Die Verschleißerkennung über die Luftschallanalyse kann in der Praxis vollständig automatisiert erfolgen. Damit ist es möglich, frühzeitig auf Verschleißerscheinungen am Werkzeug durch den Wechsel der Schneidplatten oder die Anpassung der Fräsgeschwindigkeit zu reagieren.

Über Luftschallanalysen lassen sich auch Schneiden-Defekte erkennen. Die Analyse wird zeitaufgelöst durchgeführt, so dass ein Schneiden- Defekt in Echtzeit detektiert und die Maschine angehalten wird, um die dann stärker belasteten noch intakten Schneiden zu schonen. Hierfür ist keine Anlern- oder Kalibrierungsphase im Vorfeld der Produktion nötig, so dass sich der Algorithmus insbesondere auch für Fertigungsprozesse mit Losgröße 1 eignet.

Daneben konnten die Projektpartner auch belegen, dass eine Detektion von Lunkern im Werkstück – also ungewollte Materialfehlstellen – über eine Luftschallanalyse mit Mikrophonen möglich ist. Dabei wird über einen Algorithmus das akustische Schallsignal des aktuell bearbeiteten Werkstücks mit einem zuvor aufgezeichneten Referenzsignal verglichen, das mit einem fehlerfreien Werkstück aufgezeichnet wurde. Die Kunst ist dabei, störende akustische Einflüsse aus der Umgebung, wie beispielsweise benachbarte Maschinen, praktisch vollständig herauszufiltern. Ansonsten können kleinste Veränderungen im Frequenzspektrum der Mikrophonaufnahmen, die von Lunkern herrühren, nicht identifiziert werden. Dies gelingt durch die Kombination unterschiedlicher Filter- und Analyseverfahren wie softwarebasierter Lock-In-Technik und anderen Noise-Cancellation-Algorithmen.

Zur Unterscheidung eines Lunkers von einer planmäßigen Struktur auf dem Werkstück, wie einer Bohrung, sind die akustischen Schallsignale eines fehlerfreien Durchlaufs des Fräsers als Referenz notwendig. Der Algorithmus erlernt dadurch charakteristische Signaturen im Zeit- und Frequenzbereich der Luftschallaufnahmen des fehlerfreien Prozesses und kann diese von fehlerhaften Prozessen unterscheiden. Der Benutzer kann eine Schwelle festlegen, ab der das Werkstück als Schlechtteil klassifiziert wird. Dies hat sich in Anwendungstests gegenüber einem reinen Klassifikationsansatz – Lunker ja oder nein – als deutlich praxistauglicher erwiesen, da Lunker in unterschiedlichster Größe und Ausprägung vorkommen können und bis zu einer anwendungsfallabhängigen Größe akzeptabel sein können.

Das Projektteam der STASA und der Universität Stuttgart hat die im ZIM-Projekt entwickelten Algorithmen in einen Hardware/Software- Prototypen umgesetzt und anhand realer Fräsprozesse getestet. Momentan werden Hardware-Partner gesucht, um die entwickelte Prozessüberwachung in ein serienreifes Produkt zu transferieren und in die industrielle Anwendung zu bringen.

Mit der zunehmenden Bedeutung von Kleinserien und der Zunahme von Fertigungsprozessen mit Losgröße 1 ist beim Einsatz von Prozessüberwachungssystemen entscheidend, dass keine lange Einricht- oder Anlernphase für die Prozessüberwachung erforderlich ist. Hier bietet der entwickelte Prototyp einen entscheidenden Vorteil gegenüber herkömmlichen Systemen, da mit den implementierten Algorithmen zur Überwachung des Werkzeugs kein, beziehungsweise zur Überwachung von Werkstückfehlern nur ein Referenzzyklus erforderlich ist. Der Einsatz von Mikrophonen stellt damit eine kostengünstige und flexible Alternative zu herkömmlichen Körperschallsensoren dar, der darüber hinaus auch für eine Qualitätsüberwachung genutzt werden kann. Das Herausfiltern von Umgebungsgeräuschen kann über Softwarealgorithmen gelöst werden, deren Einsatz noch vor wenigen Jahren aufgrund begrenzter Rechenkapazitäten undenkbar erschien.