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Digitalisierung: Fluch, Segen oder beides?

Was steckt hinter dem Trend, dessen Auswirkungen branchen- und technologiefeldübergreifend sind?

Nichts ist so konstant wie der Wandel. Aktuell wird kaum ein Begriff so facettenreich diskutiert wie „Digitalisierung“, der Treiber der Schnelllebigkeit unserer Welt. Trends verlieren in nichtlinearen Umfeldern an Orientierungskraft, Disruptionen stellen bestehende Geschäftsmodelle und Angebotsformen in Frage. Wie kann in unscharfen Umfeldern Zukunftsfähigkeit nachhaltig gesichert werden? Gunther Herr, Dozent an der School of Management and Technology der Steinbeis-Hochschule Berlin (SHB), ist überzeugt, dass dies nur mit Hilfe einer noch zu entwickelnden Innovationskultur gelingt, die systematische Prozesse für interdisziplinäre Teams zur gezielten Verschiebung von Leistungsgrenzen provoziert.

Unternehmen stehen vor der Herausforderung, sich durch Innovationen immer wieder neu zu positionieren und diese Fähigkeit als die entscheidende Kernkompetenz im Wettbewerb zu etablieren. Durch widerspruchsorientierte Denkmuster können individuelle Herausforderungen für eine erfolgreiche Zukunftsgestaltung gemeistert werden. Radikalideale Zukunftsbilder unterstützen dabei, bestehende Geschäftsmodelle mit Argumentations- und Prognosesicherheit gezielt zu hinterfragen. Versteckte Muster der Entwicklung inspirieren eine zukunftsorientierte Geisteshaltung.

Die aktuell viel zitierten Digitalisierungsbeispiele bieten massenhaft Anregung, wie es in Einzelfällen immer wieder gelungen ist, in kürzester Zeit kaum vorstellbare Erfolge zu organisieren. Begrifflichkeiten wie „Pain Points“, „Customer Value“, „MVP“, „nichtlinear“ dürfen in keiner Publikation fehlen. Jeder C-Level Manager sollte mehrere Monate „Silicon Valley-Erfahrung“ haben. Häufig wird der Anschein erweckt, dass industrielle Prozesse und Organisationsstrukturen Anachronismen sind. Die heutige Welt ist „agil“ und „Scrum“. Die Literatur wird nicht müde für eine „Kultur des Scheiterns“ zu appellieren. Es gibt kaum einen Vortrag, der nicht fordert, den „Innovation Funnel“ daher mit mehr Ansätzen zu füllen. Die üblicherweise kommunizierte Erfolgsquote von unter zehn Prozent wird kaum hinterfragt. Was jedoch sicher ist: Die Veränderungsgeschwindigkeit steigert sich in einer bisher nicht erlebten Weise.

Was passiert, wenn den erhobenen Forderungen stattgegeben wird? Welches produzierende Unternehmen kann sich auch nur zwei massive Fehlinvestitionen in Folge leisten? Welche Marke hält dem Stand? Welcher Gesellschafter strebt an, die Drehzahl und das Investitionsrisiko auf „Start-up-Niveau“ zu heben? Wer kann es sich leisten, kurzfristig radikale Richtungswechsel zu kultivieren? Etablierte Unternehmen müssen neben all der gewünschten Flexibilität bei Entscheidungen ihre Pfadabhängigkeit berücksichtigen: Die eigene Vergangenheit, mit all ihren Rahmenbedingungen. Diese können förderlich, oder auch hinderlich sein. Doch sie existieren. Der größte Fehler wäre, sie zu ignorieren. Daher ist es dienlich, die zweifelsohne bestehende Herausforderung, vor der unser gesamtes Gesellschaftssystem steht, durchaus noch einmal aus einer alternativen Perspektive zu beleuchten.

Worauf begründet sich die Kultur des Silicon Valley? Warum gerade dort? Wieso nicht in Florida? Was macht diese Region so besonders? Und wieso entwickelte sich die Industriegesellschaft gerade in Europa? Diese Fragen lassen sich kaum beantworten, ohne die Historie zu beleuchten. Die Wurzeln der rasanten Entwicklung Zentraleuropas liegen in der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg (1616-1648). Es war die Zeit, als die in Spanien archivierten arabischen Schriften aus der Zeit der maurischen Besatzung (711-1492) übersetzt wurden. Dies hat zu einem erheblichen Schub wissenschaftlicher Erkenntnis in Europa geführt. Dem gegenüber stand der Macht- und Weisheitsanspruch der römisch-katholischen Kirche, der durch die römische Inquisition (1542-1798) verteidigt wurde. Es waren Newton („Bilde Modelle, um vorhersagen zu können“), Galilei („Mache Veränderungen messbar, um entwickeln zu können“), Descartes („Zerlege komplexe Sachverhalte, um erklären zu können“) und Aristoteles (die vier Axiome der Logik), die für Europa die Basis für wissenschaftliches Arbeiten definierten. Die in dieser Zeit geprägte Wissenschaftskultur, die auf Reproduzierbarkeit, Quantifizierbarkeit und Analysefähigkeit aufbaut, prägt unseren Alltag bis heute. Wir streben nach eindeutigen, widerspruchsfreien Begründungen, die möglichst kausal begründbar sein sollten. Die Welt wissenschaftlicher Experimente, das wesentliche europäische Bildungswesen, aber auch industrielle Prozesse beruhen auf den im 16. Jahrhundert geprägten Grundsätzen. Hinzu kommen die durch die Französische Revolution (1798-1799) geprägten sozialen Werte, die zu umfangreichen Sozialsicherungssystemen führten.

Wie ist es möglich, dass die Westküste der USA mit diesen Grundsätzen zu brechen scheint? Ja, Kolumbus hat Amerika bereits 1492 entdeckt. Das wäre eine Begründung, dass sich in den Jahrhunderten eine andere Kultur ausgeprägt hat. Doch die Bindung des neu entdeckten Kontinents an Europa war von Beginn an zu intensiv, als dass dies als Begründung ausreichen würde. Gibt es markante Ereignisse, die darüber hinaus gehende Rückschlüsse zulassen? Am 18. April 1906 wurde um 5:12 Uhr die Gegend um San Francisco von einem Erdbeben erschüttert. Durch das Beben und die ausgelösten Brände ist ein Schaden entstanden, der einer Kaufkraft von heute rund 11 Mrd. Dollar entspricht. Die Region stand vor dem Nichts. Abgeschlossene Versicherungen haben in der Regel nur Feuer-, nicht jedoch Erdbebenschäden abgesichert. So hat eine spontane, bisher nicht dagewesene, ungeschützte Normierung stattgefunden: Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen stand mit einem Schlag vor dem Nichts, inklusive der Gewissheit, dass nur sie sich selber helfen können. Ohne nennenswerte Absicherungssysteme war „egal was“ zu tun allemal besser, als nichts zu unternehmen. Scheitern hatte nur die Konsequenz „nicht besser“ als davor dazustehen. Schlechter war nicht möglich. Der so entstandene Ruck in der Region führte dazu, dass bereits 1915 zur Panama-Pacific-Ausstellung die Wiederauferstehung des Großraums San Francisco gefeiert werden konnte.

Wir sprechen damit bei der aktuell stattfindenden Gesellschaftsrevolution über die Konfrontation zweier fundamental unterschiedlicher Ausgangssituationen: Zum einen die mit umfassenden sozialen Sicherungssystemen ausgestattete, auf wissenschaftlichen Grunddefinitionen aufbauende europäische Kultur, die Vorhersehbarkeit anstrebt. Zum anderen die vor dem Nichts stehenden Opfer einer Naturkatastrophe, für die jedes Handeln besser ist, als sich dem Schicksal hinzugeben. Scheitern hat keine Konsequenz, schlechter geht es nicht. Beide Ausgangssituationen haben in den vergangenen Jahrzehnten zur Freisetzung erheblicher Energien geführt. In den eigenen Umfeldern jeweils mit beachtlichen Erfolgen. Findet nunmehr in Europa jedoch die typisch aristotelische entweder-oder-Diskussion statt, ob die Prinzipien des Silicon Valley oder die Erfahrungswerte Europas „richtiger“ sind, so ist dies nicht zweckdienlich. Es ist schlicht die falsche Fragestellung. Eine zu dieser Diskussion differenzierte Perspektive führt hingegen zu neuen Einsichten: Software- und datenbasierte Geschäftsmodelle, aber auch junge Start-ups haben in der Regel eine überschaubare Quote langfristiger Kapitalbindungen. Damit sind sie flexibel und agil. „Ausprobieren“ ist mit einem geringen finanziellen Risiko verbunden. Entscheidungen sind schnell umsetzbar, jedoch auch revidierbar. In Zeiten des schnellen und intensiven Wandels ist das attraktiv. Leider sind die Prinzipien bei Industrieunternehmen so nicht nutzbar. Produktions- und Infrastruktur binden Kapital. Einmal getätigte Investitionen bedeuten gleichzeitig Festlegungen. Zusätzlich führt vertraglich gebundenes Personal zu weiterer Pfadabhängigkeit. Kurzfristiges Umsteuern erfordert erhebliche Energie, sowohl im Sinne von Kapitaleinsatz auch als durch erforderliche Kommunikations- und Schulungsaufwände.

Der moderne Begriff des „Internet of Things“ (IoT) beinhaltet eine mögliche Antwort bereits: Digitalisierte Geschäftsmodelle leben von der Symbiose aus beiden Welten. Ja, die Flexibilität und Schnelligkeit der Digitalisierung muss genutzt werden. Verleugnen hilft nicht. Trotzdem erfordert IoT auch die „Things“, die produziert werden müssen. Wir müssen uns die Synergiepotenziale aus beiden Welten erschließen. Dies erfordert ein „aufeinander Einlassen“. Es geht darum, die Freiheitsgrade zu erschließen, die es erlauben bisherige Barrieren außer Kraft zu setzen. Es geht darum, die Barrieren, die zwischen den Welten bestehen, so scharf zu beschreiben, dass sie bearbeitbar werden. Die Arbeit erfordert Experten und Disziplinen an einen Tisch zu bringen, die so bisher nicht miteinander gearbeitet haben.

Im Schwerpunkt „Strategic Innovation“ des Executive MBAs der School of Management and Technology werden Aspekte der Innovationskultur und der Innovationswissenschaften gelehrt und zu einem Öko-System zusammengeführt, die die „Innovation der Value Creation Chain“ für neue Geschäftsmodelle systematisch unterstützt. Dabei kommt es entscheidend darauf an, eine Geisteshaltung und Diskussionskultur zu vermitteln, die mit unserem durch unser Bildungssystem geprägten „Gegeben- gesucht-Lösung“-Schema bricht. Es geht in der Zeit der Digitalisierung darum, unsere Denk- und Entscheidungsmodelle mit sich nichtlinear verändernden Umfeldern kompatibel zu gestalten. Abstraktionsfähigkeit spielt dabei eine entscheidende Rolle.