Von einem Werkzeug zu einem universellen Konzept: vernetzt, intelligent, autonom
Digitale Zwillinge haben sich in kurzer Zeit weitgehend unbeachtet von statischen Abbildern einzelner Produkte zu intelligenten und vernetzten Systemen entwickelt. Sie eröffnen neue Möglichkeiten für Effizienzsteigerung, Geschäftsmodelle und Wertschöpfung – vom Maschinenbau über urbane Infrastrukturen bis hin zu globalen Klimamodellen. Joachim Reinhart von der bwcon research gGmbH zeigt für die TRANSFER auf, wie sich digitale Zwillinge vom statischen Abbild zur (teil-)autonomen Steuerung entwickeln, welche Anwendungsfelder heute im Fokus stehen und welche Strategien Unternehmen nutzen können, um die Technologie erfolgreich und wertschöpfend einzusetzen.
Digitale Zwillinge sind zu einem zentralen Hebel der digitalen Transformation geworden – nicht nur in Konzernen, sondern auch im Mittelstand. Sie verknüpfen reale Objekte und Prozesse mit ihrem virtuellen Gegenstück und ermöglichen dadurch bessere Analysen, Simulationen und Entscheidungen bis hin zur (teil-)autonomen Steuerung. Seit den frühen 2000er-Jahren, geprägt durch erste Konzepte im Umfeld des Produktlebenszyklus, haben digitale Zwillinge dank Technologien wie Sensorik, Cloud und künstliche Intelligenz einen Reifegrad erreicht, der skalierbare Anwendungen ermöglicht. Die bwcon research gGmbH im Steinbeis-Verbund begleitet diese Entwicklung seit Jahren in Forschungs- und Transferprojekten und unterstützt Unternehmen dabei, das Potenzial der digitalen Zwillinge frühzeitig zu erschließen.
Same same but different: der klassische digitale Zwilling
Das Konzept der digitalen Zwillinge wurde erstmals 2002 von Michael Grieves im Kontext des Produktlebenszyklusmanagements formuliert [1]. Ziel war es, ein virtuelles, kontinuierlich mit der Realität verknüpftes Modell eines physischen Systems zu schaffen, das dessen gesamten Lebenszyklus begleitet.
Traditionell wird die digitale Repräsentation eines realen Objekts, die über einen kontinuierlichen Datenaustausch mit diesem verknüpft ist, als digitaler Zwilling bezeichnet [2]. Eine zentrale Herausforderung ist die Pflege von Zwillingen für jede einzelne Produktinstanz über den gesamten Lebenszyklus. So kann dies zum Beispiel bei großen Fahrzeugherstellern schnell zu Millionen digitaler Zwillinge führen – mit enormen Datenmengen durch die Vielzahl an Sensoren und die lange Lebensdauer der Produkte. Hersteller wie Volkswagen können auf diese Weise gezielt Tausende Fahrzeuge zurückrufen [3]. Außerdem können gut gepflegte digitale Zwillinge mithilfe von künstlicher Intelligenz Anomalien erkennen und rechtzeitig Maßnahmen vorschlagen.
Inzwischen geht das Konzept weit über einzelne Produkte hinaus: Auch Produktsysteme, komplette Fabriken, Lieferketten, urbane Infrastrukturen oder Energiesysteme werden digital abgebildet [4]. Auch mittelständische Unternehmen können ganze Produktionslinien virtuell darstellen und optimieren. Damit hat sich der digitale Zwilling von einem ingenieurgetriebenen Werkzeug zu einem universellen Konzept weiterentwickelt.
Digitale Zwillinge für alles: Anwendungsfelder
In dieser erweiterten, modernen Auslegung umfasst der digitale Zwilling ein virtuelles, dynamisch verknüpftes Abbild eines spezifischen realen Objekts, Prozesses oder Systems. Er basiert auf einer Kombination von Technologien wie Sensorik, Datenplattformen, Simulation, künstlicher Intelligenz sowie Cloud- oder Edge-Computing. Drei Trends bestimmen seine aktuelle Entwicklung [2, 5]:
- Mehr Objekte: Immer mehr Dinge, Anlagen und sogar Menschen erhalten einen digitalen Zwilling.
- Mehr Vernetzung: Vom isolierten Zwilling hin zu „Systemen von Systemen“, zum Beispiel entlang von Lieferketten.
- Mehr Autonomie: Von einfachen Statusabbildern zu (teil-)autonomen Zwillingen mit eigener Entscheidungsfähigkeit.
Treiber dieser Entwicklung sind Technologien wie Standardisierung, Cloud- und Low-Code-Lösungen, künstliche Intelligenz, Edge-Computing, Blockchain-Technologien sowie steigende Anforderungen an Sicherheit. Das Stufenmodell verdeutlicht, wie sich diese Trends entfalten: Je mehr Objekte eingebunden werden, desto größer ist das Potenzial für Analysen und Prognosen. Je stärker sie vernetzt sind, desto wichtiger werden Simulation und Optimierung. Und je mehr Autonomie sie gewinnen, desto eher übernehmen Zwillinge aktive Steuerungsaufgaben. Mit jeder Stufe steigt der Nutzen, aber auch die Anforderungen an Datenqualität und Integration nehmen zu.
Praxisbeispiele verdeutlichen das breite Spektrum: Rolls-Royce setzt mit „Power-by-the-Hour“ auf ein nutzungsabhängiges Geschäftsmodell ([2], S. 25), BMW optimiert mit seiner „BMW iFACTORY“ komplette Produktionslinien [6], das Projekt Digital Twin Earth modelliert das gesamte Erdsystem für präzisere Klima- und Wettervorhersagen [7] und in Singapur steuern Urban Mobility Twins die Verkehrsflüsse in Echtzeit [2].
Mobilität 2030: Ein Blick in die Zukunft
Ein Ausblick in die Mobilität 2030 zeigt, wie sich diese Trends im Alltag verbinden könnten: Tom, Vertriebsleiter eines Maschinenbauunternehmens, reist zu einem Kunden nach Shanghai. Seine digitale Assistentin Lara organisiert alles – vom autonomen Fahrzeug zum Flughafen über einen auf ihn zugeschnittenen Flug bis zum selbstfahrenden Wagen vor Ort. Überraschend wenig Fahrzeit in Shanghai erklärt Lara mit dem hohen Anteil autonomer Fahrzeuge und einer KI-gestützten Verkehrssteuerung.
Hinter dieser reibungslosen Reise steckt das Zusammenspiel zahlreicher digitaler Zwillinge – von Fahrzeugen und Verkehrsmanagement über Flugbetrieb bis hin zu persönlichen Serviceprofilen. Aus vormals getrennten Angeboten entsteht so ein integriertes Kundenerlebnis, das neue Geschäftsmodelle ermöglicht und den Plattformbetreiber in die Schlüsselrolle des Integrators rückt.
Digitale Zwillinge sind damit kein reines Ingenieurwerkzeug mehr, sondern strategische Enabler neuer Geschäftsmodelle. Wer früh prüft, wie sich die drei Haupttrends im eigenen Umfeld nutzen lassen, kann Prozesse optimieren und neue Märkte erschließen.
In vier Schritten zum Erfolg
Der erfolgreiche Einsatz digitaler Zwillinge erfordert eine systematische Vorgehensweise. In den von bwcon research begleiteten Projekten zeigt sich, dass eine strukturierte Herangehensweise entscheidend ist: von der Ideenfindung bis zum laufenden Betrieb. Hierfür hat sich der Vier-Phasen-Ansatz in der Praxis bewährt, der die Sichtweisen von Technologie, Kunden und Ökonomie vereint.
Zunächst gilt es, Potenziale zu erkennen: In Innovationsworkshops werden maßgeschneiderte Anwendungsfälle identifiziert, zum Beispiel mithilfe von Customer Journey Mapping. Anschließend wird die Machbarkeit geprüft: Dabei werden das technisch Machbare, die Nutzerwünsche und die wirtschaftliche Rentabilität unter einen Hut gebracht, etwa durch Design Thinking. In der Implementierung kommen klassische oder agile Methoden wie Scrum zum Einsatz, ergänzt durch Change-Management. Im laufenden Betrieb steht das Steuern des digitalen Zwillings im Fokus: Kennzahlen wie Anlagenverfügbarkeit oder Energieverbrauch werden überwacht und optimiert.
Der Nutzen im Mittelpunkt
Digitale Zwillinge haben sich zu einem strategischen Enabler für nahezu alle Branchen entwickelt. „Drei Trends prägen diese Entwicklung: mehr Objekte, mehr Vernetzung und mehr Autonomie. Mit wachsendem Reifegrad steigt auch der Nutzen, aber ebenso steigen die Anforderungen an Technik, Organisation und Wirtschaftlichkeit“, fasst Joachim Reinhart zusammen. Praxisbeispiele – von der Industrie bis hin zu globalen Klimamodellen – zeigen: Der digitale Zwilling ist längst mehr als ein reines Abbild. Er verknüpft reale Systeme mit ihrem virtuellen Gegenstück, analysiert, simuliert und prognostiziert – und kann, je nach Reifegrad, aktiv auf die physische Welt einwirken. Unternehmen, die früh prüfen, wie sich der stille Motor „digitaler Zwilling“ einsetzen lässt, sichern sich Effizienzgewinne, Wettbewerbsvorteile und neue Marktchancen in einer datengetriebenen Wirtschaft.