Ein Steinbeis-Projekt zeigt, welche Möglichkeiten die Technologie auch für den Mittelstand eröffnet
Digitale Zwillinge gelten als Schlüsseltechnologie für die Industrie 4.0. Sie entwickeln sich rasch zu einem Eckpfeiler der modernen Automatisierung, indem sie eine Brücke zwischen der physischen und der virtuellen Welt schlagen – und sie sind längst nicht mehr nur großen Konzernen vorbehalten. Wie der praxisnahe Einsatz für kleine und mittlere Unternehmen aussehen kann, zeigt ein Projekt des Steinbeis-Transferzentrums Digital Workspace an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg am Campus Horb. Gemeinsam mit Partnern entwickelte das Zentrum im Rahmen des von der EU geförderten ERA-Shuttle-Programms einen digitalen Zwilling einer kollaborativen Roboterzelle. Das Ziel des Steinbeis-Teams: die virtuelle Entwicklung und Validierung der Abläufe, um Inbetriebnahmezeiten zu verkürzen, die Prozesssicherheit zu erhöhen und Mitarbeiterschulungen zu ermöglichen.

Interoperable digitale Zwillinge entlang der gesamten Lieferkette, die Lieferanten, Fertigung und Kunden miteinander verbinden. (Quelle: SyncTwin)
Im Kern sind digitale Zwillinge datengesteuerte, interaktive Modelle, die nicht nur die Geometrie einer Maschine oder eines Produktionsprozesses nachbilden, sondern auch deren Verhalten, Leistung und Reaktion auf Steuerungseingaben in Echtzeit. Das unterscheidet sie grundlegend von statischen CAD-Modellen oder Offline-Simulationen: Ein digitaler Zwilling ist „lebendig”, wird kontinuierlich mit Live-Daten aktualisiert und kann genau wie das reale System auf Befehle reagieren.
Im Kontext der industriellen Automatisierung bedeutet dies, dass Roboter, Produktionslinien und ganze Arbeitsabläufe sicher im Virtuellen entwickelt, getestet und optimiert werden können, lange bevor sie in der Fertigung zum Einsatz kommen. Die Vorteile für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind enorm:
- Digitale Zwillinge ermöglichen es, mit Prozessanpassungen zu experimentieren, Zykluszeiten zu optimieren und Anwender zu schulen, ohne die Produktion zu stören.
- Sie reduzieren die Inbetriebnahmezeit, indem sie die virtuelle Validierung von Automatisierungsabläufen ermöglichen.
- Sie verhindern kostspielige Fehler, indem sie Integrationsprobleme frühzeitig aufdecken.
- Sie verbessern die Sicherheit am Arbeitsplatz, weil Teams nun gefährliche Szenarien simulieren können, bevor sie in der Realität eintreten.
Entscheidend ist, dass diese Technologie nicht mehr nur großen Unternehmen mit umfangreichen F&E-Budgets vorbehalten ist. Mit verfügbaren Simulationsplattformen, cloudbasierter Infrastruktur und intuitiven Roboterprogrammierungstools können KMU nun Schritt für Schritt digitale Zwillinge einführen und deren Einsatz entsprechend den wachsenden Geschäftsanforderungen skalieren. Diese Demokratisierung der Technologie hilft kleineren Unternehmen, in einer Industrie-4.0-Landschaft, in der Agilität, Effizienz und schnelle Innovation unerlässlich sind, wettbewerbsfähig zu bleiben.
So funktioniert ein digitaler Zwilling
Die Erstellung eines digitalen Zwillings ist ein strukturierter Prozess, der Datenerfassung, Modellierung und Echtzeitsynchronisation kombiniert. Ausgangspunkt ist die Datenerfassung: CAD-Modelle des Roboters oder der Maschine, kinematische Parameter, Nutzlastdaten und relevante Sensoreingaben werden gesammelt, um sicherzustellen, dass das virtuelle Modell das physikalische System genau abbildet.
Diese Informationen sind die Grundlage für eine physikalisch genaue Simulation in Anwendungen wie „NVIDIA Isaac Sim“, die die Bewegungen, Kollisionen und Interaktionen des Roboters mit seiner Umgebung unter realistischen Bedingungen nachbilden kann. Sobald das virtuelle Modell erstellt ist, folgt der nächste Schritt: die Steuerungsintegration. Plattformen wie das Roboterprogrammierungstool „Wandelbots NOVA“ verbinden physische und digitale Welt und ermöglichen es, dieselben Befehle, die den realen Roboter steuern, an den simulierten Roboter zu senden. Hier entwickelt sich der digitale Zwilling zu einem interaktiven, „lebendigen” System, das in der Lage ist Automatisierungsabläufe in Echtzeit abzubilden. Der letzte Schritt ist die Synchronisation und Rückmeldung, bei der Live-Prozessdaten von der physischen Maschine (beispielsweise Gelenkwinkel, Sensorzustände, Kraft-Drehmoment-Messwerte) an den digitalen Zwilling zurückgemeldet werden. Dieser kontinuierliche Datenaustausch ermöglicht es dem virtuellen Modell, mit der Realität Schritt zu halten und sogar zukünftige Zustände vorherzusagen. Durch das Hinzufügen von Analyseebenen oder KI-Algorithmen kann der Zwilling verwendet werden, um „Was-wäre-wenn“-Szenarien durchzuspielen, Kurven zu optimieren oder Anomalien zu erkennen, bevor sie sich auf die Produktion auswirken. Dieser Workflow, von der Datenerfassung über die Modellerstellung bis hin zur Live-Synchronisation, verwandelt den digitalen Zwilling in ein leistungsstarkes Werkzeug, das nicht nur für Simulationen und Schulungen, sondern auch für die Prozessvalidierung, prädiktive Wartung und Systemoptimierung eingesetzt werden kann – das Ergebnis ist eine lebendige virtuelle Fabrik.
Von der Simulation zur Implementierung
Einer der größten Vorteile eines digitalen Zwillings liegt in seiner Brückenfunktion zwischen virtueller Entwicklung und physischer Umsetzung. Sobald ein Prozess modelliert und in einer Simulation getestet wurde, kann er mit minimalen Anpassungen auf den realen Roboter übertragen werden, was die Inbetriebnahmezeiten erheblich verkürzt. Anstatt direkt in der Fertigung zu programmieren, was die Produktion stören und Sicherheitsrisiken mit sich bringen kann, können Ingenieure Abläufe virtuell validieren, Roboterpfade verfeinern und potenzielle Kollisionen oder Ineffizienzen im Voraus identifizieren.
Dieser Arbeitsablauf stand auch im Mittelpunkt des vom Steinbeis Transfer-Hub Berlin koordinierten Projekts von Andrea Bondin, Forschungsbeauftragter an der Universität Malta. Im Rahmen des ERA-Shuttle-Programms der EU entwickelte er am Steinbeis-Transferzentrum Digital Workspace in Horb in Zusammenarbeit mit Wandelbots NOVA und NVIDIA Isaac Sim einen digitalen Zwilling einer kollaborativen UR5-Pick-and-Place-Zelle.
Der Prozess wurde zunächst in der virtuellen Umgebung repliziert, wo Roboteraufgaben ohne Verwendung der physischen Hardware erstellt, sequenziert und optimiert werden konnten. „Der nächste Schritt wird darin bestehen, diese validierten Arbeitsabläufe auf den realen Roboter im Labor zu übertragen und so einen reibungslosen und zuverlässigen Übergang von der Simulation zur physischen Umsetzung zu demonstrieren“, erläutert Andrea Bondin. Diese Phase soll wichtige Erkenntnisse darüber liefern, wie digitale Zwillinge die Inbetriebnahmezeiten verkürzen und die Prozesssicherheit unter realen Bedingungen gewährleisten können.
„Diese Fallstudie veranschaulicht den praktischen Wert digitaler Zwillinge für KMU: Sie ermöglichen eine schnelle Prototypenerstellung von Automatisierungslösungen, ohne die Fertigungslinien anzuhalten, senken die Kosten für das Experimentieren mit neuen Layouts oder Prozessen und ermöglichen es Mitarbeiter sicher zu schulen, bevor sie mit der realen Maschine interagieren“, resümiert Professor Dr.-Ing. Tim Jansen, der das Steinbeis-Transferzentrum Digital Workspace verantwortet. Die Möglichkeit, Fehlerzustände und Wiederherstellungsstrategien zu simulieren, erhöht zudem die Ausfallsicherheit und bereitet die Anwender auf unerwartete Szenarien vor.
Vorteile für KMU
Für KMU erfordert die Einführung eines Digitaler-Zwilling-Ansatzes keine massiven Investitionen oder spezielle IT-Infrastruktur mehr. Dank cloudbasierter Simulationsplattformen, Low-Code-Roboterprogrammierungstools und skalierbarer Rechenleistung können selbst kleine Hersteller mit einer einzigen Prozesszelle beginnen und diese schrittweise erweitern, wenn der Bedarf wächst. Offene Standards wie OpenUSD gewährleisten zudem Interoperabilität, sodass KMU mehrere Tools ohne Herstellerabhängigkeit integrieren und nach und nach eine umfassende Digitaler-Zwilling-Umgebung aufbauen können.
Digitale Zwillinge tragen auch zur Personalentwicklung bei, indem sie sichere, virtuelle Schulungsumgebungen schaffen, in denen Mitarbeitende den Betrieb und die Wartung von Anlagen lernen können, ohne die Kosten oder Gefahren der Nutzung physischer Maschinen. Davon profitieren insbesondere KMU, wo Produktionsausfälle teuer und qualifizierte Arbeitskräfte rar sind. Durch schnellere Einarbeitung, sicherere Experimente und bessere Planung helfen digitale Zwillinge kleineren Unternehmen, in einem sich schnell verändernden Markt wettbewerbsfähig zu bleiben.
Zukünftig wird die Integration von digitalen Zwillingen mit KI-gesteuerten Analyse- und prädiktiven Wartungssystemen ihren Wert weiter steigern und KMU nicht nur die Simulation und Planung, sondern auch die Vorhersage von Ausfällen, die Reduzierung von Verschwendung und die Verbesserung der Energieeffizienz ermöglichen. Projekte wie diese zeigen, wie Wissenschaft und Industrie zusammenarbeiten können, um diese Technologien zugänglich und praktisch nutzbar zu machen und sicherzustellen, dass die Vorteile von Industrie 4.0 für Unternehmen jeder Größe greifbar werden.
Im Rahmen des EU-Projekts ERA Shuttle ist der Steinbeis Transfer-Hub Berlin Gastgeber für Wissenschaftler und Führungskräfte von drei Partneruniversitäten aus Polen, Malta und Kroatien. Sie haben bei ihren Entsendungen die Möglichkeit, Unternehmen des Steinbeis-Netzwerks kennenzulernen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Interessiert? Hier gibt’s weitere Infos: https://erashuttle.eu [1]