Industrielle Verantwortung im Zeitalter der Energiewende
Der Stromverbrauch der Industrie ist enorm, die Energiekosten sind hoch und die Konsequenzen für unser Klima negativ. Dies könnte sich in Zukunft dank der Nutzung von intelligenten Werkzeugen verbessern, die den Energieverbrauch flexibler gestalten und stärker auf die Integration erneuerbarer Energien setzen. In dem EU-Projekt „Flex4Fact“ entwickelt das Steinbeis Europa Zentrum zusammen mit 22 europäischen Partnern ein mögliches Szenario für eine Lösung. Das Projekt konzentriert sich auf die dynamische Anpassung von Produktionsprozessen an die Verfügbarkeit erneuerbarer Energien unter gleichzeitiger Integration der Energieerzeugung und -speicherung vor Ort.

Flex4Fact-Architektur: vom digitalen Zwilling zur realen Industrie
Die Industrie ist einer der größten Energieverbraucher weltweit und das mit weitreichenden Folgen: hohe Stromkosten, volatile Energiepreise und ein klimabelastender CO₂-Fußabdruck. Gleichzeitig sollen Unternehmen nachhaltiger produzieren, wettbewerbsfähig bleiben und sich auf eine zunehmend volatile Energiewelt einstellen.
Hier kommt die Energieflexibilität ins Spiel. Sie beschreibt die Fähigkeit eines industriellen Systems, seinen Energieverbrauch dynamisch an äußere Bedingungen anzupassen, etwa an die Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien oder an aktuelle Strompreise. Produktionsprozesse können flexibel gestaltet werden, um günstige oder „grüne“ Energie optimal zu nutzen.
Diese tagesaktuelle Dynamik ist entscheidend, denn erneuerbare Energien wie Wind und Sonne sind naturgemäß schwankend. Wenn Unternehmen ihre Produktion flexibel an diese Bedingungen koppeln, können sie nicht nur Kosten sparen, sondern auch aktiv zur Netzstabilität beitragen und den Anteil erneuerbarer Energien im Gesamtsystem erhöhen. Diese Form der Flexibilität ist nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern wird zunehmend auch wirtschaftlich attraktiv: Durch die Teilnahme an sogenannten Flexibilitätsmärkten können Unternehmen ihre Anpassungsfähigkeit monetarisieren.
Flexibilität bedeutet also nicht, dass die Produktion leidet, sondern dass sie intelligenter wird. Möglich wird das durch digitale Werkzeuge, Echtzeitdaten, KI-gestützte Prognosen und automatisierte Steuerungssysteme. Und genau hier setzt Flex4Fact an: Das EU-Projekt entwickelt ein ganzes Ökosystem aus digitalen Lösungen, das Unternehmen dabei unterstützt, ihre Prozesse flexibel, nachhaltig und wirtschaftlich zu gestalten. Die Autonomisierung beginnt also nicht bei der Maschine – sondern bei der Entscheidung, wann und wie produziert wird. Und sie endet nicht beim Stromverbrauch, sondern bei einem neuen Verständnis von industrieller Verantwortung im Zeitalter der Energiewende.
Der digitale Zwilling: vom virtuellen Modell zur echten Entscheidungshilfe
Ein zentraler Baustein von Flex4Fact sind die digitalen Zwillinge. Dabei handelt es sich um ein virtuelles Abbild eines realen Produktionsprozesses, das mit Echtzeitdaten gefüttert wird und so Simulationen, Prognosen und Optimierungen ermöglicht.
In den fünf Pilotfabriken des Projekts bei den Unternehmen Theben (Deutschland), Celsa (Spanien), Standard Profil Spain (SPS, Spanien), Seac Sub (Italien) und Inaventa Solar (Norwegen) wurden digitale Zwillinge für Produktionslinien, Energiesysteme und sogar einzelne Maschinen entwickelt. Diese Zwillinge helfen Energieflüsse sichtbar zu machen, Lastspitzen vorherzusagen und Produktionsabläufe so zu steuern, dass sie möglichst wenig Strom verbrauchen oder sogar gezielt dann laufen, wenn viel erneuerbare Energie verfügbar ist.
Digitale Zwillinge dienen also als Entscheidungshilfe für das Energiemanagement: Sie zeigen auf, wann es wirtschaftlich sinnvoll ist, Energie aus dem Netz zu beziehen, wann eigene Erzeugung genutzt werden sollte und wann eine Teilnahme am Flexibilitätsmarkt möglich ist. Damit sind sie nicht nur ein technisches Werkzeug, sondern auch ein strategisches Instrument für die nachhaltige Transformation der Industrie.
Die Architektur hinter der Autonomisierung: Modular, skalierbar, vernetzt
Damit all das funktioniert, braucht es eine durchdachte technische Basis. Flex4Fact hat eine modulare Systemarchitektur entwickelt, die aus vier Ebenen besteht:
- Smart-Grid-Ebene: Interaktion mit dem Stromnetz und externen Flexibilitätsdiensten
- Aggregator-Ebene: Verbindung zu Energiegemeinschaften und Märkten
- Physische Ebene: Produktionsanlagen, lokale Energieerzeugung (zum Beispiel Photovoltaik) und Speicher
- Managementebene: Energie- und Produktionsmanagement
Digitale Zwillinge: Simulation, Optimierung, Visualisierung
Dateninfrastruktur: Sensoren, Schnittstellen, Datenstrukturen und -speicherung
Diese Architektur ist skalierbar und replizierbar – sie kann also auf andere Fabriken und Branchen übertragen werden. Und sie ist offen für Erweiterungen: Neue Technologien wie KI, Edge Computing oder Blockchain lassen sich problemlos integrieren.
Autonomisierung in der Praxis: Wie Flex4Fact die Industrie verändert
Flexibilität ist kein Selbstzweck – sie muss sich lohnen. Deshalb zeigt Flex4Fact ganz konkret, wie sich digitale Werkzeuge in der Praxis einsetzen lassen. In den fünf Pilotanwendungen wurden unterschiedliche Szenarien getestet, zum Beispiel:
- Bei SPS in Spanien wurde ein KI-gestütztes Planungstool entwickelt, das Produktionsaufträge so verteilt, dass Stromverbrauch und Kosten minimiert werden und gleichzeitig Flexibilitätsangebote für den
Energiemarkt entstehen. - Die Theben AG nutzt digitale Zwillinge, um die Produktion mit der eigenen PV-Anlage zu synchronisieren. So wird der Eigenverbrauch maximiert und die Stromrechnung gesenkt.
- Celsa, ein spanischer Stahlhersteller, setzt auf Echtzeitdaten und Simulationen, um die energieintensive Schmelzphase besser zu steuern und CO₂-Emissionen zu reduzieren.
All diese Anwendungen zeigen: Autonomisierung ist mehr als Automatisierung. Es geht darum, Entscheidungen datenbasiert und dynamisch zu treffen – und dabei ökologische und ökonomische Ziele zu vereinen.
Der reale Mehrwert: weniger Emissionen, geringere Kosten, neue Geschäftsmodelle
Autonomisierung zahlt sich aus – ökologisch und ökonomisch:
- Kostenersparnis: Durch intelligente Planung und Nutzung von Eigenstrom sinken die Energiekosten deutlich. Bei SPS konnten durch den Wechsel auf ein Real-Time-Pricing-Tarifmodell bis zu 18 % eingespart werden.
- CO₂-Reduktion: Die Integration von erneuerbaren Energien und die Vermeidung von Lastspitzen führen zu messbaren Emissionsminderungen. Celsa spart jährlich über 160.000 Tonnen CO₂ durch den Einsatz von grünem Wasserstoff ein.
- Marktzugang: Unternehmen können ihre Flexibilität beispielsweise an Regelreservemärkten verkaufen und so zusätzliche Einnahmen generieren.
Das Steinbeis Europa Zentrum spielt im Projekt Flex4Fact eine entscheidende Rolle als strategischer Partner, indem es die Entwicklung tragfähiger Geschäftsmodelle unterstützt, um die Projektlösungen auf den Markt zu bringen. Es fördert die Zusammenarbeit zwischen industriellen, kommerziellen und privaten Akteuren, verbreitet die Ergebnisse und stellt die europaweite Skalierbarkeit des Projekts sicher. Mit seiner Expertise ermöglicht das Steinbeis-Team die Umsetzung innovativer Werkzeuge in praktische, nachhaltige Anwendungen, die sowohl der Industrie als auch den Energiesystemen zugutekommen. Flex4Fact zeigt: Der digitale Zwilling ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug, das reale Vorteile schafft. Die Autonomisierung industrieller Prozesse ist der Schlüssel zu einer nachhaltigen, wettbewerbsfähigen und resilienten europäischen Industrie.
Flex4Fact auf einen Blick
- 18 Mio. Euro EU-Förderung der Europäischen Kommission imRahmenprogramm Horizont Europa
- 23 Partner aus Deutschland, Irland, Italien, Norwegen und Spanien
- Projektlaufzeit: Juni 2022 bis November 2025
Weitere Infos unter https://flex4fact.eu [1] und www.linkedin.com/in/flex4fact-project-041183251 [2]