Die eindeutige Identifikation als Schlüssel zur Autonomisierung
Die Diskussion um Autonomisierung in Technik und Wirtschaft ist untrennbar mit der Anforderung verlässlicher Daten und digitaler Abbilder verbunden. Während Automatisierung auf vordefinierten Prozessen basiert, bezeichnet Autonomisierung die Fähigkeit von Systemen, Entscheidungen eigenständig und adaptiv zu treffen. Eine notwendige Grundlage dafür ist die konsistente Verknüpfung zwischen physischen Objekten und ihren digitalen Repräsentationen. Der digitale Zwilling stellt eine solche Repräsentation dar, indem er alle relevanten Informationen über ein Produkt über den Lebenszyklus hinweg sammelt, aktualisiert und verfügbar macht. Mit dem digitalen Produktpass (DPP) wird dieses Konzept regulatorisch verankert und erweitert, um Transparenz, Nachhaltigkeit und Kreislauffähigkeit sicherzustellen. Zentrale Voraussetzung für beide Konzepte ist die eindeutige Identifikation von Produkten und ihren Komponenten. Das Steinbeis-Innovationszentrum Künstliche Intelligenz für Mensch und Maschine führte in Zusammenarbeit mit dem Werk150 der Hochschule Reutlingen eine von der Baden-Württemberg Stiftung geförderte Studie durch, mit dem Ziel, die Rolle der eindeutigen Identifikation für die Umsetzung des digitalen Produktpasses im Maschinenbau zu analysieren.
Der Nutzen des digitalen Produktpasses ist nur dann realisierbar, wenn ein Produkt über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg eindeutig identifizierbar bleibt. Dies betrifft sowohl das Gesamtprodukt als auch seine einzelnen Komponenten. Gerade im Maschinenbau können Teile nach der Erstnutzung in unterschiedlichen Kontexten weiterverwendet werden, sodass verschiedene R-Strategien – etwa Reuse (Wiederverwendung), Reparatur oder Recycling – parallel Anwendung finden können. Alle Identifikationen und die daraus abgeleiteten digitalen Produktpässe müssen dabei konsistent bleiben, um Nachvollziehbarkeit und Lebenszyklusorientierung sicherzustellen.
Anforderungen an Identifikationssysteme
Ein zukunftsfähiges Identifikationssystem für den DPP muss mehrere Anforderungen erfüllen. Dazu gehören:
- Modularität: Produkte bestehen zunehmend aus komplexen Komponentenstrukturen. Jede Ebene muss eindeutig identifizierbar sein, um im DPP adressiert werden zu können.
- Interoperabilität: Identifikatoren müssen über Systeme und Branchen hinweg einsetzbar sein, um internationale Lieferketten abzudecken.
- Sicherheit: Schutz vor Manipulation und Fälschung ist unerlässlich, insbesondere bei sicherheits- oder gesundheitskritischen Produkten.
- Datenhoheit: Unternehmen müssen steuern können, welche Daten für wen sichtbar sind, um Geschäftsgeheimnisse zu wahren.
Im Maschinenbau wird die Herausforderung besonders deutlich: Komplexe Investitionsgüter bestehen aus Tausenden von Komponenten, deren Identifikation nicht nur für Wartung und Service, sondern auch für Recycling- und Second-Life-Szenarien erforderlich ist. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) stehen hier vor Integrations- und Standardisierungsfragen.
Komplexität als Herausforderung
Klassische Methoden wie Barcode oder RFID ermöglichen zwar die Kennzeichnung, stoßen jedoch an ihre Grenzen hinsichtlich Fälschungssicherheit, Datenpersistenz und Lebenszykluslänge. Neue Ansätze setzen dagegen auf digitale Identitäten, die mit internationalen Standards wie dem GS1 Digital Link oder dem EPCIS-Datenmodell verknüpft werden. Besonders vielversprechend – insbesondere in stärker dezentral organisierten Wertschöpfungsnetzwerken wie im Maschinenbau – ist die Kombination der Asset Administration Shell (AAS) mit Blockchain-Technologien.
Der Maschinenbau ist im Vergleich etwa zur Automobilindustrie ein fragmentiertes Netzwerk ohne dominierenden Akteur, das stärker auf Koordination, Standardisierung und gemeinsame Infrastrukturen angewiesen ist. Die AAS fungiert als digitaler Zwilling des Produkts, strukturiert Merkmale, Zustände und Ereignisdaten und stellt diese über standardisierte Schnittstellen bereit. Die Blockchain ergänzt dies durch fälschungssichere Nachweise, die eine vertrauenswürdige Aggregation und Übertragung von Identitäten ermöglichen. Damit entsteht ein hybrides Modell, das sowohl technische als auch organisatorische Anforderungen erfüllt.
Auf diese Weise können Unternehmen identitäts- und ereignisbezogene Daten interoperabel austauschen und Abläufe wie Seriennummernvergabe, Servicebuchführung, Gewährleistungs- und Eigentumsnachweise nachvollziehbar automatisieren. Das stärkt die Komplexitätsbeherrschung in fragmentierten Lieferketten und eröffnet zirkuläre Geschäftsmodelle wie Wiederverwendung, Refurbishment, Rücknahme und sortenreines Recycling bei gewahrter Datensouveränität. Der Ansatz unterstützt auch nutzungsbasierte Modelle wie Pay per Use: Nutzungs-, Zustands- sowie Eigentumsnachweise werden manipulationssicher geführt, Abrechnung und Service-Level-Prüfungen werden automatisierbar. Da Produkte planmäßig an den Hersteller zurückkehren, erleichtert die verknüpfte Identität Rücknahme, Refurbishment und erneute Vermarktung des gesamten Produkts oder einzelner Komponenten.
Identifikationssysteme: hybrid und praxistauglich
Zur Untersuchung des Umsetzungsstands im Maschinenbau hat das Steinbeis-Innovationszentrum Künstliche Intelligenz für Mensch und Maschine im Sommer 2025 eine Nutzerbefragung bei Unternehmen durchgeführt. Das Ergebnis zeigt, dass sich die Unternehmen des Bedarfs eindeutiger Identifikationssysteme bewusst sind, deren Umsetzung jedoch mit erheblichen Barrieren verbunden ist. Besonders deutlich wird dies bei der technischen Integration in bestehende IT- und Produktionssysteme: Alle Befragten nannten sie als größte Herausforderung. Damit wird klar, dass die Einführung des digitalen Produktpasses nicht allein von regulatorischen Vorgaben oder technischen Standards abhängt, sondern vor allem von der Fähigkeit, neue Lösungen nahtlos in gewachsene Systemlandschaften zu integrieren.
Fehlende Standardisierung und die Sicherstellung einer durchgängigen Rückverfolgbarkeit wurden ebenfalls häufig genannt. Dies verdeutlicht, dass die Umsetzung des DPP vor allem technologisch-architektonische Fragestellungen aufwirft, die Unternehmen nur im Verbund mit standardisierten Ansätzen wie der AAS und interoperablen Datenräumen bewältigen können.
Mit dem vorgestellten hybriden Ansatz aus Asset Administration Shell und Blockchain wurde eine praxistaugliche Lösung zur eindeutigen Identifikation von Komponenten und Produkten in stärker dezentral organisierten Wertschöpfungsnetzwerken entwickelt, die sich ohne großen Anpassungsaufwand in bestehende IT- und Produktionssysteme integrieren lässt.
Die Maßnahme wurde im Rahmen des Ideenwettbewerbs Blockchain von der Baden-Württemberg Stiftung gGmbH gefördert.