- Steinbeis Transfer-Magazin - https://transfermagazin.steinbeis.de -

Von der Wissensvermittlung zum Brückenbauer

Personalentwicklung als systemischer Resonanzraum

Die Personalentwicklung steht an einem Scheideweg – oder besser: in einem Spannungsfeld überlagerter Veränderungsdynamiken. Während Organisationen einerseits mit wachsenden Anforderungen an Innovationskraft, Adaptivität und Fachkräftesicherung ringen, vollzieht sich gleichzeitig ein tiefgreifender kultureller Wandel. Es reicht nicht mehr, die „richtigen“ Kompetenzen zur „richtigen“ Zeit an den „richtigen“ Stellen verfügbar zu machen. Das wäre die Personalentwicklung des Taylorismus – funktional, effizient, berechenbar. Die Personalentwicklung von heute und morgen sieht anders aus: Sie wird zum Resonanzraum, in dem sich individuelle Potenziale, organisationale Zielsysteme und gesellschaftliche Werte begegnen, reiben und im Idealfall produktiv weiterentwickeln. Wie diese Veränderung gelingen kann, erklärt Steinbeis-Experte Professor Dr. habil. Gernot Barth.

Personalentwicklung ist kein instrumenteller Teilbereich des Human Resource Managements mehr, sondern ein zentraler Ort des kulturellen Aushandelns und der strategischen Selbstvergewisserung. Die Frage lautet nicht: „Was können wir unseren Mitarbeitenden beibringen?“, sondern „Wie gestalten wir Räume, in denen Lernen, Wachstum und Selbstwirksamkeit entstehen können?“ Und weiter: „Wie entwickeln sich Organisation und Person wechselseitig – in einem dialogischen, sich selbst steuernden Prozess?“ Dieser Perspektivwechsel hat Konsequenzen für Menschen, Strukturen und Haltungen. Er zwingt uns, Personalentwicklung als kulturelle Praxis zu verstehen – nicht als Dienstleistung.

Vom Qualifikationsdenken zur Entwicklungslogik

Klassische Personalentwicklung basiert auf einem linearen Denkmodell: Ausgehend von einer Kompetenzlücke wird ein Maßnahmenplan erstellt, eine Maßnahme durchgeführt und anschließend deren Wirkung kontrolliert. Dieser Mechanismus funktioniert – solange das Zielsystem stabil ist, die Anforderungen vorhersehbar sind und Lernen als „Input-Output-System“ gedacht wird. Doch genau diese Bedingungen gelten immer seltener. Märkte verändern sich rapide, Rollenbilder in Organisationen sind fluide, Mitarbeitende bringen diverse biografische und kulturelle Hintergründe mit. „Das Bedürfnis nach Sinn, Beteiligung und Authentizität ist gewachsen. Lernen verläuft nicht mehr linear, sondern situativ, sozial und sinnbezogen“, so Gernot Barth.

„Next Level“ in der Personalentwicklung bedeutet daher, nicht länger „Befähigungsmaßnahmen“ zu konzipieren, sondern Personalentwicklung als Entwicklungskatalysator zu verstehen. Ziel ist nicht die kurzfristige Passung, sondern die langfristige Anschlussfähigkeit – an Veränderungen, an Komplexität, an Ambiguität. Dazu müssen auch die Formate der Personalentwicklung angepasst werden. Seminare und Schulungen allein genügen nicht, es braucht Lernlandschaften, in denen Coaching, kollegiale Beratung, hybride Lernformate, Reflexionsräume und implizites Erfahrungslernen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Es braucht Feedbackkulturen, die Sicherheit in der Unsicherheit bieten. Und es braucht Führung, die weniger weiß, dafür besser fragt.

Selbstverantwortung als Fundament

Ein zentrales Prinzip der modernen Personalentwicklung ist die Selbstverantwortung. Wer Entwicklung ernst meint, muss Verantwortung dahin geben, wo sie hingehört: zur Person. Selbstverantwortung meint hier nicht individuelle Überforderung im Systemversagen, sondern die Ermöglichung von Handlungsfähigkeit durch Transparenz, Wahlfreiheit und Beteiligung. Personalentwicklung hat nicht die Aufgabe, Menschen „besser zu machen“, sondern sie einzuladen, Verantwortung für ihre Wirksamkeit im System zu übernehmen – mit Blick auf ihr Wissen, ihre Beziehungen, ihre Wirkung.

„In der Mediation sprechen wir in diesem Zusammenhang von Empowerment durch Struktur. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen Menschen sich sicher genug fühlen, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst und für andere. Das ist nicht nur eine pädagogische Frage, sondern auch eine politische: Wer darf sich wie entwickeln? Wer entscheidet über Lernbedarfe? Welche Ressourcen werden wofür eingesetzt?“, fasst Steinbeis-Experte Gernot Barth zusammen.

Ein anschauliches Beispiel dafür lieferte das Projekt modularer Führungskräfteentwicklungsprogramme, das das Steinbeis-Beratungszentrum Wirtschaftsmediation bei der Mercer Stendal GmbH umgesetzt hat. Hier wurde Selbstverantwortung nicht nur thematisiert, sondern strukturell verankert: In sechs aufeinander aufbauenden Modulen arbeiteten Führungskräfte an ihrem eigenen Führungsverständnis, reflektierten individuelle Stärken und entwickelten praxisbezogene Handlungsoptionen – stets im Spannungsfeld zwischen organisationalem Erwartungsrahmen und persönlicher Wirksamkeit. Besonders durch die individuelle Begleitung über Coaching und Supervision entstand ein Lernraum, der nicht auf Anpassung zielte, sondern auf Selbstverortung und aktives Gestalten von Führung.

Ein modernes Verständnis von Personalentwicklung muss daher nicht nur pädagogisch durchdacht, sondern auch machtbewusst und gerechtigkeitsorientiert sein. Denn Entwicklung ist nicht neutral – sie ist immer eingebettet in organisationale Interessen, soziale Positionierungen und ökonomische Rahmenbedingungen.

Die Rolle der Personal­entwicklung in lernenden Organisationen

Organisationen, die sich als lernende Systeme verstehen, benötigen eine Personalentwicklung, die sich selbst als lernend begreift. Das heißt: Personalentwicklung darf nicht statisch sein, sie muss iterativ, reflexiv und anschlussfähig agieren. Das impliziert eine neue Rollendefinition: Personalentwickler sind nicht länger Wissensvermittler oder Programmmanager. Sie sind Prozessbegleiter, Brückenbauer, Moderierende von Lernkulturen. Ihre Aufgabe ist es nicht, Antworten zu liefern, sondern Fragen zu stellen: Was braucht dieses System, um lebendig zu bleiben? Wo hemmt Struktur die Entwicklung? Wie kann Lernen institutionell ermöglicht, aber nicht standardisiert werden?

Dabei darf Personalentwicklung nicht in eine unkritische Begeisterung für Agilität und Selbstorganisation verfallen. Vielmehr muss sie kritisch mitdenken, wo die Grenzen neuer Organisationsformen liegen, wer von ihnen profitiert – und wer nicht. Reflexion und Differenzierung werden zu zentralen Kompetenzmerkmalen einer „Personalentwicklung auf Augenhöhe“.

Personalentwicklung als Ort des kulturellen Wandels

Personalentwicklung ist somit mehr als nur Weiterbildung. Sie ist ein Ort des Dialogs, der Selbstvergewisserung und der kulturellen Navigation. Sie leistet ihren Beitrag nicht nur zur Effizienzsteigerung, sondern zur Resilienz, Innovationskraft und Humanität einer Organisation.

Dabei ist sie stets beides zugleich: Ausdruck organisationaler Kultur und ihr Entwicklungsmotor. Je bewusster dieser Zusammenhang gestaltet wird, desto wirksamer kann Personalentwicklung sein – als Motor nicht nur individueller, sondern auch kollektiver Entwicklung. Oder, um es in einem Satz zu sagen: Personalentwicklung ist heute nicht mehr die Antwort auf Kompetenzlücken – sie ist die Praxis, in der wir lernen Fragen zu stellen, die wir uns bisher nicht zu stellen trauten.